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Beat Shit

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27.12.2003
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Beat Shit

Das Spektrum deiner Möglichkeiten ist zweierlei Begrenzungen unterworfen, wobei die offensichtlichere, die nicht beeinflussbaren, physikalisch/biologischen Gesetzmäßigkeiten, welche dein Handeln einschränken den weitaus leichter verständlichen Teil ausmacht. Individuelles Potential lässt sich am effektivsten durch unterbewusst angeeignete Erfahrungswerte verschwenden, welche nur schwer erkenn- und kontrollierbar sind, und dir suggerieren, bereits erlebte und/oder überdachte Ereignisse/Möglichkeiten, welche unter nicht vergleichbaren Umständen stattfanden, seien auch weiterhin als aussichtslos/nicht zum Erfolg führend zu bewerten. Neulich habe wir die Mülltonnen im Stadtpark nach Spritzen durchsucht, um die vertrockneten Reste dadrinnen mit Alkohol zu lösen, zusammenzuschütten und zu injizieren. Wir tun dies inzwischen jeden Mittwoch. Die fest vorgegebene Zeitspanne vom eigentlichen Ereignis bis zur Wahrnehmung eben dieses (hier nicht als die Sinneswahrnehmung gemeint sondern die eigentliche, im Bewusstsein stattfindende) ist ein entscheidender Faktor für die Möglichkeit einer vom Subjekt ausgehenden Reaktion. Ich existiere in dem Teil deines Verstandes, in den du dich nicht traust, hineinzuschauen. Ein Alptraum jenseits allem, was du für möglich gehalten hast, weltbilderschütternd, alles, woran du glaubst infragestellend. Würdest ich dir auf der Strasse begegnen, oder ich sonst wo deinen Weg kreuzen, so würdest du mich nur eines kurzen Blickes würdigen, dein Geist mich simplifizieren, oberflächlich in eine selbstangelegte Kategorie einordnet und dadurch scheinbar begreifbar machen. Wie auch immer. Meine Krankheit gehört nur MIR allein, und du kannst nichts davon abhaben! Ich teile sie mit niemanden, nicht einen verdammten Erreger kann ich entbehren! Aktion, Reaktion, das universelle Prinzip von Ursache und Wirkung, vielleicht das einzige Naturgesetz, dessen man sich wirklich sicher sein kann, ist trotz alledem eine vom menschlichen Geist erdachte Krücke für eine nicht zu erkennende Realität. Die Begrenzung unseres Wortschatzes basiert nicht auf dem mangelnden sprachlichen Erfindungsgeist, sondern massiv auf der Uneinheit von Bewusstsein und linguistischem Zentrum. Welche Sprache ist es, die unabhängig von Worten die bewußteste Ebene des Seins durchströmt? Wo liegt die Problematik der Umsetzung ihrer Begriffe in fassbare Wörter? Mein Kumpel kriecht nachts über Spielplätze, auf der Suche nach benutzen Nadeln, welche ich dann nach Resten ablecke. Seine Belohnung besteht aus dem Strahlen meiner Augen, wenn meine Zunge vom Lebenssirup tiefschwarz gefärbt in der Sonne glänzt. Vor einigen Monaten durchstreiften Tommy, Jack und ich die Flure des Bahnhofstoilettentracktes. Den Kloneger bestachen wir mit zwei Schachteln Lucky Strike, er kannte uns bereits. Jack baumelte in halbleerem Zustand von Tommys rechter Hand runter, während ich eine Fährte aufnehmend über die uringetränkten Bodenfließen robbte, meine Nase nur wenige Millimeter über den Pfützen voranschiebend. Ich hatte Witterung aufgenommen, und Tommy wusste es. Ein Mensch mit einem Ziel vor Augen unterscheidet sich nur rudimentär von seinen orientierungslosen Artgenossen. Er ergötzt sich an einem rein fiktiven, in seinem Geist erträumten Zustand der Realität, dessen Eintreffen er versucht, durch die ihm gegebenen Möglichkeiten wahrscheinlicher zu machen. Damit differenziert er sich prinzipiell nur in der Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Wunschzustandes zu verändern. Ziele sind somit primär abhängig vom Bestehen von Möglichkeiten, oder zumindest der Illusion eben dieses! Jack war noch bevor wir den Bahnhof überhaupt betreten hatten bereits tief in mich eingedrungen, und nun drückte sein Ethanol-Phallus mit aller Gewalt auf meine Blase. Ich ließ mich jedoch davon nicht in meinem Unterfangen behindern und kroch bluturinierend voran. Penibel versucht man, einen Unterschied zu erschaffen, um eine Alternative zum Unausweichlichen vorzugeben. Würde es irgendjemanden wirklich noch wundern, wenn neuste Erkenntnisse belegen würden, dass jegliche Existenz auf einem binären System basiert? Das Hauptproblem ist und bleibt die Unbeweisbarkeit IRGENDEINER Idee oder Vorstellung. Oder, auf abstrakte Begriffe wie Moral und Schuld übertragen, das Fehlen einer höheren Instanz, welche eine Unterteilung in Richtig oder Falsch, Gleich oder Ungleich, Eins oder Null vornimmt. Die Kabinentür war verschlossen, doch der Spalt zwischen Tür und Fußboden war toilettenüblich groß, so dass man die Füße der Frau sehen konnte. Ihre runtergelassene Hose bedeckte den Großteil ihrer Turnschuhe. Tommy und ich sahen uns zustimmend an. Wir hatten schon lange keinen warmen Sonnenschein mehr gehabt. Die Tür war schnell geöffnet, und offenbarte uns die gesamte Pracht der toten Fixerin. Wir rempelten uns gegenseitig fast um, als wir nach der noch immer im bleichen Oberschenkel steckenden Spritze griffen. Ihr selbst brachten wir nicht das geringste bisschen Aufmerksamkeit entgegen, da dass uns ewig verfolgende Problem mal wieder offenbar wurde. Wir hatten immer noch keinen Arzt gefunden, der nicht-siamesische Zwillinge zusammennäht, damit diese sich Nadel- und Venensparend einen einzigen Blutkreislauf teilen können. Jede moralische Anmaßung basiert auf einer von Wunschdenken geleiteten Vorstellung einer übermenschlichen/übernatürlichen Gesetzgebung jenseits der zumindest empirisch beweisbaren Naturgesetze. Fortschritt ist nur möglich, solange existierende Konflikte zwischen der Manipulationsfähigkeit der öffentlichen Meinung und der Wirtschaftlichkeit überbrückt werden. Das Individuum ist dabei der ersetzbarste Faktor jeder Gleichung.

Wieder einmal zelebrierten wir unser tägliches Ritual. Wahres spirituelle Einheit ist nur durch die gemeinsame Nutzung der selben Nadel erreichbar. Ich streckte den aus der Todesspritze gewonnenen Rest mit etwas Toilettenwasser und lauwarmen Fixerblut, bevor wir es uns nacheinander in die Leiste schossen. Revitalisiert wankten wir daraufhin Arm in Arm zum Ausgang, schlurfend, doch voll Zuversicht.


 

Kritikerkreis

So. Hallo und schönen Abend, grenouille,

Irgendwie für mich passend zu deiner Geschichte hab ich mir gerade eben Musik von Orbital und Massive Attack in meinen CD-Player eingelegt, eine massive Kerze auf meinem Schreibtisch entzündet und das Licht in meinem Zimmer dunkler gedreht oder zum Teil gleich ganz ausgeschaltet.

Nicht nur rein stimmungsmäßig führt mich dein Text nämlich in tiefe Abgründe menschlicher Seelen. Auch seinen reinen Inhalt empfinde ich bereits als bemerkenswert verstörend und aggressiv.

Der Text setzt sich im Verhältnis zum Ganzen etwas überwiegend aus einem sachlich philosophierenden und aus erzählten Handlungen und Beschreibungen zusammen. Beide Bestandteile gehen meiner Meinung nach eine glückliche und harmonische Ehe miteinander ein: Der Monolog des Ich-Erzählers wirkt ebenso wirr und schwer nachvollziehbar wie es auch die Handlungen des gelegentlich eingeflochtenen Trios "Tommy, Jack und ich" wohl sind.

Interessant fände ich es daher, die Teile des Sachtextes und die Handlungpassagen synchron zueinander aufnehmen zu können. Das ist aber über den schriftlichen Weg leider fast nicht möglich (allenfalls über zwei entsprechend nebeneinander gestellte Textkolonnen, die man parallel zueinander liest - links etwa den Sachtext, rechts dazu den "Real"-teil). Auf dem rein auditiven Weg könnte man zwar beide Texte zugleich hören. Aber wahrscheinlich nicht unbedingt auch zugleich jeweils ausreichend mitverfolgen. Für mein Empfinden bildet der Sachtext aber doch eher nur eine Art Klangteppich oder Hintergrundbewegung zum eigentlichen Plot um die beschriebenen Figuren. Jedenfalls, wenn man den Text als Geschichte und nicht als Essay auffasst.
Optimal wäre daher eine filmische Adaption des Textes. Hier könnte die Handlung rein visuell umgesetzt und der Sachtext rein auditiv vermittelt werden.

Was ich damit sagen will ist, dass diese Geschichte in einem für diese sehr unbequemen Medium - das rein abstrakt sprachliche - hinein geboren wurde. Auch ein Comic darüber würde noch zu einer deutlich besseren Anpassung führen. Auch hier wäre eine Aufteilung in rein visuelle und textliche Fragmente, die dann aufeinander abgestimmt werden, prinzipiell möglich. So aber wie hier kommt sich der Text für mein Empfinden eher selbst in die Quere. Er kann naturgemäß praktisch nur sequentiell gelesen werden. Leider...


Die Geschichte führt für mich eine Art (zum Teil ruckartige) Wellenbewegung aus. Sie beginnt im Kopf des Erzählers, führt kurz darauf hin zu einem erzählenden Part, dann wieder zurück in den Kopf des Erzählers, dann wieder hin zu der Erzählung, dann wieder... usw. usf. So, wie Wellen keine Unterbrechungen kennen, so kennt auch dieser Text keine solchen. Er fließt dementsprechend in einem Strom der Erzählung und gedanklicher Analyse fast bis hin zu seinem Ende. Nur das abschließende Bild, die Beschreibung des "täglichen Rituals", ist unterbrochen vom vorhergehenden Fluss.

Auch finde ich, dass man den Text möglichst schnell, eigentlich so schnell wie nur möglich lesen sollte um seine Aussage auch in rein atmosphärischer Hinsicht zu erfassen.

Wirklich kritisierungswürdig kann ich nur weniges in dem Text finden. Unter diesem wenigen wäre aber zum Beispiel der Titel. Ich finde ihn zu überzogen plakativ und in fragwürdig modischem Slang gewählt. Heutzutage wählt fast jeder dritte oder vierte Autor selbstgeschriebener Geschichten diverse Anglizismen für seine Titel oder Passagen für seine Texte aus. Wenn es schon unbedingt etwas fremdsprachliches sein muss, warum zur Abwechslung dann nicht mal ein paar französische oder gar spanische (huch!) Sätze? Aber auch dann sollte natürlich immer ein passender Bezug im Text hergestellt werden! (warum zB. gerade ein fremdsprachlicher Titel?)

Weiterhin ist der Text zwar ohnehin schon nicht eben einfach zu verstehen, aber einer Stelle habe ich aber dann doch immerzu den Faden verloren:

Jack baumelte in halbleerem Zustand von Tommys rechter Hand runter,
Diesen Satzbeginn verstehe ich einfach nicht. Worauf bezieht sich zB. "halbleeren Zustand"? Und wie kann Jack von Tommys rechter Hand runter baumeln? Mir kommt es so vor, als würde hier noch irgendwas zur näheren Erläuterung dringend fehlen.


Das war's dann mal von meiner Seite.

philo

 

Danke erstmal für deine Kritik..

Der Titel ist wirklich schlecht, und eher als Arbeitstitel zu sehen..
Die ganze Geschichte ist ziemlich im Burroughs-Stil gehalten. Ich wollte mal versuchen, etwas in der Art zu schreiben, nachdem ich Naked Lunch und Nova Express gelesen hatte. Eine filmische Umsetzung wäre natürlich mal interessant, aber wohl leider nicht realisierbar..

Zu deiner Frage:
Mit "Jack" ist eine Flasche Jack Daniel's Whisky gemeint! ;)
Das dürfte diese Unklarheit beseitigen.

 

Hallo!

Diese Geschichte wurde im Kritikerkreis besprochen.
Wir würden uns über weitere Anmerkungen zu diesem Text freuen.

Das Kritikerteam.

 
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Achso...Tach erstmal!

Was soll ich groß schreiben?
Dieser Text zählt zum besten, was ich jemals gelesen habe. Ich habe deine Zeilen nun schon mindestens zwanzig mal genussvoll in mich aufgenommen und ergötze mich ein jedesmal von neuem an diesem harten, wunderschön abgehobenen Stil. Du deutest vieles nur an, schaffst eine unglaublich bizzare Atmosphäre. Ein wenig musste ich beim Lesen immer wieder an "Ein Tag so schön wie heute" von DIKE denken (ist ein Dortmunder HipHopper, mit Vorliebe zu sehr melancholischen Texten und Melodien).
Du bringst es auf nahezu geniale Art und Weise fertig, fast unverständlichen Sätzen einen offensichtlichen Sinn zu verleihen und mich als faszinierten Leser in den Bann einer kaputten Welt zu ziehen.
Aus meiner Sicht ist diese Geschichte ein Meisterstück, vom Inhalt zwar nicht tiefgründiger als "Trainspotting", aber gnadenlos gut präsentiert und mit wahnwitzigem Tempo.
Eigentlich habe ich nichts zu kritisieren.

Revitalisiert wankten wir daraufhin Arm in Arm zum Ausgang, schlurfend, doch voll Zuversicht.

Genialer Schlussatz!

Beste Grüße

Cerberus

 

Hallo Jean-Baptiste(?) Grenuille!

Sag mir jetzt einfach nicht, dass dies dein erster Text ist. Oder, das ist er doch nicht? - Gut, bin beruhigt.

Dieser Text ist vollgestopft mit harten und starken Bildern, die Philosophie ist ziemlich negativ; nichts ist wertvoll, alles ist verloren.
Ganz gut hat mir auch die Erzählperspektive gefallen. Es kommt alles so dahin, als wäre es normal.

Die Szene mit der Frau in der Toilette, das ist krank, ziemlich eklig. Hat mir 'gefallen'.

Zu den besten Texten, die ich gelesen habe, zählt dieser Text für mich jedoch nicht. Ich fand ihn stark, aber nicht übermässig. Dazu hat er - auch wenn dies die Absicht war - immer die gleiche Stimme, immer den destruktiv-depressiven Klang. Und er fordert natürlich recht viel Aufmerksamkeit beim Lesen. Die besten Geschichten, die ich gelesen habe, haben einen weiten, interessanten und ausgetüftelten Plot mit interessanten Wendungen - die in dieser Art Text nicht zu finden sind.
Aber gut war sie trotzdem, deine erste Story hier. Bin gespannt, wie eine andere, vom Lesen her weniger anspruchsvolle Geschichte von dir aussehen wird...

mfg,

Van

 

Nach den ganzen Lobpreisungen hier sollte Grenouille jetzt eigentlich auch noch seine ganz wesentliche Inspiration zu seinem Text entsprechend würdigen, indem er die eine oder andere ausführliche Rezension eines Burroughs-Romans hier in die Büchertipps stellt. ;)

 

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