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Beamtentag

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13.08.2001
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Beamtentag

"Beamtentag"

Jeden Morgen war es das Gleiche. Jeden Morgen wachte Karl Riem um 6:38 auf, blickte die roten Digitalzahlen seines Weckers an, der erst in zwei Minuten klingeln würde und schloss für die letzten beiden Minuten noch einmal die Augen. Im Grunde hätte er genauso gut bereits aufstehen können. Warum es nicht tat, wusste er nicht. Vielleicht war es die Hoffnung, dass sein Wecker versagte und er ein paar Minuten länger schlafen konnte. Die Chance war gering. Er hatte in zehn Jahren noch nie versagt.
Punkt 6:40 meldete sich das scharrende Geräusch des schlecht eingestellten Radios und trieb ihn aus seinem warmen Bett. Langsam schlurfte er dann zu seinen Sachen, die er am Abend zuvor sehr sorgsam und ordentlich über dem Stuhl zurecht gelegt hatte, ein Erbe seiner Mutter. Danach ging er ins Bad. Er hatte keine Eile, denn im Moment lebte er fünf Minuten vor der tatsächlichen Zeit. Die Uhren im Schlafzimmer und im Bad gingen fünf Minuten vor. Seine Ex-Frau hatte ihm diesen Trick gezeigt. Es war auch beinahe das Einzige, das sie ihm bei der Scheidung nicht weggenommen hatte. Wohl auch nur deshalb, weil sie es nicht hatte einklagen können. Seine Ex-Frau war eine dumme Schlampe.
Im Bad rasierte er sich mit langsamen und eigentlich gründlichen Zügen. Trotz der Rasur sahen sein Wangen immer unsauber aus, das lag wohl teilweise an seinem dunklen Bartwuchs, teilweise aber auch an seiner Haut, die sehr empfindlich war und schnell blutete, so dass er kaum gegen den Strich rasieren konnte.
Zum Frühstück trank er eine Tasse Kaffee, schwarz. Etwas anderes brachte er seit Jahren nicht herunter. Er wusste, dass das schlecht für ihn war. Der Kaffee zerfrass seinen Magen von innen. Wochenlang hatte er nun schon Bauchgrimmen und gelegentlich Magenkrämpfe.
Zum Arzt gegangen war er nicht. Wozu auch? Am Ende stand ohnehin der Tod. Wahrscheinlich war es Magen- oder Darmkrebs, vermutlich sogar beides. Seine Mutter war mit achtunddreißig daran gestorben. Im Krankenhaus, wo sie an diversen Schläuchen gehangen hatte und wo sie zu einer Person verkommen war, die er nicht mehr wiedererkannt hatte. Aber sie hatte immer gelacht. Morphium war eine feine Sache.
Früher hatte seine Mutter niemals Kaffee getrunken, oder Bier, oder Zigaretten geraucht. Statt dessen hatte es immer Vitamintabletten gegeben und Lebertran und viel Obst und Gemüse. Sie hatte sich vor dem Krebs gefürchtet und wollte ihm mit einer gesunden Lebensweise ein Schnippchen schlagen. Der Krebs hatte sich nicht drum geschert und sie trotzdem erwischt. Welchen Grund gab es also gesund zu leben?
Statt dessen hatte er sich aus der Apotheke Durchfall- und Magentabletten besorgt. Etwas später dann auch Schmerzmittel. Sie beruhigten das Rumoren in seinen Eingeweiden so zuverlässig, dass er auf der Arbeit deswegen nicht einmal die Toiletten aufsuchen musste. Erst am Abend, wenn die Wirkung der Tabletten nachließ, meldeten die Schmerzen sich wieder zurück. Deshalb achtete er penibel darauf immer genügend von den kleinen, weißen Tabletten im Haus zu haben. Sie erleichterten sein Leben.
Nach dem Frühstück rauchte er eine Zigaretten, ohne Filter, sonst spürte er keine Wirkung mehr, dann nahm er die Pillen und spülte mit Wasser nach. Danach war bereit für den Arbeitstag.
Die Bahn fuhr um 7:27, sie war um diese Zeit jeden Morgen bis auf den letzten Platz gefüllt und Tag für Tag sah er die gleichen Gesichter. Die alte Dame mit ihrem stinkenden Dackel, der Geschäftsmann mit Aktenkoffer und Laptoptasche und der junge Russe, der jeden Morgen mit ihm einstieg und ihn die ganze Fahrt über anstarrte, als ob er ihm irgendwas antun wollte. Irgendwann würde er es dem verdammten Typ mit seinen weiten Hosen und dem silbernen Kettchen, an dem auch noch ein Kreuzanhänger hing, schon zeigen. Wegen dem hatte er sich auch eine Pistole gekauft, von einem anderen Russen auf dem Hauptbahnhof. Einen kleinen Revolver, der jetzt in seiner Aktentasche lag. Man wußte ja nie. Erst gestern hatte er im vorbeifahren gesehen, wie zwei Männer einen anderen auf dem Bahnsteig zusammenschlugen. Er hätte die Bremse ziehen sollen. Er hat es nicht getan. Was ging es ihn an?
Seine einzige Rettung war die kaffeebraune Studentin, die ihm morgens meistens gegenüber saß. Sie hatte dicke Titten und lachte ihn manchmal an, meistens trug sie einen kurzen Rock und Stiefel. Wenn er Abends masturbierte, stellte er sich oft vor, wie er sie missbrauchte. In letzter Zeit war sein Ejakulat immer wässriger geworden, er wurde alt.
Heute war auch der Penner wieder da, der sonst jeden Morgen in der Ecke gekauert lag und schnarchte. Die letzten Tage war der nicht da gewesen. Es war ihm aufgefallen, weil es ein paar Tage nicht nach Bier, Pisse und Schweiß gestunken hatte. Insgeheim hatte er gehofft der Penner sei an einer Leberblutung gestorben.
All diese Menschen sah er Morgen für Morgen und er haßte er sie. Er haßte wie aussahen, er haßte wie sie rochen und er haßte wie sie redeten. Er haßte jeden einzelnen von ihnen. Niemanden ausgenommen. Er war ja selber einer.
Um 7:58 betrat er das Büro im dritten Stock. Es war jedesmal bereits hell erleuchtet und ein einsamer PC brummte leise vor sich hin. Seitdem Herr Petersen vor drei Jahren in ihre Abteilung gekommen war, hatte er keinen Tag gefehlt und war an jeden Morgen als erster dagewesen. Jeder mochte Hr. Petersen, die Vorgesetzten, weil er recht ordentlich arbeitete, die Mitarbeiter, weil er in seiner Funktion als Abteilungssprecher dafür gesorgt hatte, dass jetzt auch Radios während der Arbeit laufen durften und selbst die polnische Putzfrau, so hatte man ihm erzählt, fand, dass Hr.Petersen der netteste aus dem Büro war. Früher einmal, da hatten Ergebnisse gezählt, da hatte Arbeit gezählt und da war er der Beste gewesen. Der, zu dem man aufschaute...
„... 80er, 90er und das Beste von heute“, war das Erste, was Karl Riem jeden Morgen hörte, wenn er die Tür öffnete. Es schallte ihm aus dem Radio entgegen. Früher war es still gewesen, als er gekommen war. Man hatte bis 8:30 Uhr in Ruhe die Zeitung lesen können, dann kamen die anderen. Hr. Petersen aber wollte sich stets unterhalten, fragte, wie es einem gehe, ob man gut geschlafen hätte und ob man vielleicht auch das Spiel am Abend gesehen hätte, oder dergleichen. Er wollte keine Freundlichkeit, bloß seine Ruhe und er hasste Petersen dafür, dass dieser sie ihm genommen hatte.
Die letzten Wochen war Petersen krank gewesen, ganz plötzlich. Wie hatte er es genossen jeden Morgen in ein dunkles Büro kommen zu können und derjenige sein zu dürfen, der den Lichtschalter drückte. So wie früher, so wie es sich gehörte. Er hatte den Augenblick, in dem er den kalten Schalter drückte, jedes Mal für sich zelebriert. Erst surrte es ganz leise, wurde zu einem Brummen, dann flackerten die Deckenlichter kurz, um dann mit neonweißer Präzision den Raum zu erhellen. Und er, Karl Riem hatte dieses Licht gemacht. Er war Gott!
Heute brannte das Licht wieder, er war nur Zweiter. Petersen saß an seinem Schreibtisch und arbeitete schon. Erholt sah Petersen aus, besser als vorher, gesünder. Er mußte aufstoßen und schmeckte säuerliche Galle in seinem Mund, vielleicht auch etwas Blut.
„Guten Morgen, Herr Riem“, begrüßte ihn Petersen fröhlich.
„Sind sie auch wieder da?“, brummelte er unfreundlich zurück.
„Ja, ich bin wieder gesund. Die Kur hat Wunder gewirkt.“
„Hmm“, murmelte Riem, ging zu seinem Schreibtisch und öffnete die Aktentasche. Ohne hinzusehen griff er hinein, in seinen Träumen hatte er das schon tausend Mal gemacht. Das Ende dieser Demütigung, das Ende von Petersen. Damit alles wieder so werden konnte, wie es sein sollte. Kein Petersen mehr. Er müßte nur..., nur...,zugreifen. Würde er doch bloß. Nur einmal. Nur ein einziges Mal! Seine Finger streichelten über das kalte Eisen, der Lösung seiner Probleme und holten dann die Thermoskanne mit dem Kaffee hervor.
„Freut mich, dass es ihnen besser geht, Petersen.“
Ein weiterer Beamtentag.

 

Hallo DeMolay!

Ach du meine Güte, hast Du da aber einen unsympatischen Prot hergezaubert.
Du beschreibst Riem sehr gut, charkterisierst ihn ausführlich während er aufsteht, zur Arbeit fährt, ins Büro kommt. Für mich ein armer, kleiner Mensch, vom Alltag deprimiert und von Neid und Ablehnung gegen sich selbst zerfressen. Gut!
Sehr gut auch das Ende, eigentlich typisch: in Gedanken sich auslebn (wenn es in dem Fall auch ein Mord wäre) aber in Wirklichkeit sich ducken, sich der Situation anpassen, ergeben, voll bitterer Gefühle. Nicht dem Mut zur Veränderung haben. Sehr gute Charakterzeichnung, finde ich!

Zwei Kleinigkeiten:
"Wenn er Abends masturbierte stellte sich oft vor,"- stellet er sich oft vor

"80, 90er und das Beste von heute" 80er, 90er

schöne Grüße, Anne

 

Hi Maus

Oh ja, Riem ist tatsächlich ein ziemlich armer, kleiner Mensch, völlig verbittert und kaum noch zu positiven Gefühlen fähig. Leider gibts ja ziemlich viele davon heutzutage. Freut mich, dass es auch so rübergekommen scheint.

Deine Korrekturen habe ich so gleich berücksichtigt.

Vielen Dank übrigens, dass Du meine Geschichten immer mit einem Kommentar von dir versiehst und dann meistens auch immer einem netten. Das freut mich sehr ;)

Schönen Tag noch
Gruß
deMolay

 

Hallo deMolay,

ich muß schon sagen, du hast wahrhaft deutliche Bilder gezeichnet. Durch die Beschreibung der ganzen, unangenehmen Einzelheiten entsteht eine Stimmung bei mir, bei der ich sofort denken muß "Oh Göttin, nur gut, daß ich anders bin", dann "Bin ich wirklich sooo anders?", aber auch "Was geht wohl in dem stillen, unauffälligen Herrn vor mir in der Bahn vor sich?" Ziemlich gut, wenn ein Autor das schafft!

Eine Stelle ist für mich ein klein wenig erklärungsbedürftig:

Er haßte jeden einzelnen von ihnen. Niemanden ausgenommen. Er war ja selber einer.

Meist du damit, daß er selber jemand ist, denn er haßte?


Und mir ist noch eine Kleinigkeit aufgefallen...

Statt dessen hatte er sich aus der Apotheke hatte er sich...

(psst, da steckt zweimal hatte drin)

Liebe Grüße

Die Trainspotterin

 

Hi!

Vereinsamt und verbittert geht der selbsterwählte Verlierer seinen Weg ins Verderben. Eine genauso böse wie wahre Geschichte. Einige Stellen möchte ich aufgrund ihres beißenden Zynismus hervorheben:

Morphium war eine feine Sache.

Das bringt es auf den Punkt - Betäubung als einziger Ausweg.

Wegen dem hatte er sich auch eine Pistole gekauft, von einem anderen Russen auf dem Hauptbahnhof.

Er würde den einen Russen gerne mit der Pistole umbringen, die er von dem anderen gekauft hat. Seitenhieb auf den Nationalismus der primitivsten Sorte.

Seine Finger streichelten über das kalte Eisen, der Lösung seiner Probleme...

Die eine Lösung. Fragt sich nur, wer schneller ist: Der Krebs oder die ohnmächtige und neidische Wut auf den, dem es besser geht. Herrn Petersens Leben hängt davon ab, üble Aussichten für den Mann...

Einen Kritikpunkt habe ich allerdings doch noch: Der Titel gefällt mir überhaupt nicht. Dementsprechend müsste der letzte Satz natürlich geändert werden. Denn ich halte es nicht für angemessen, die Geschichte auf das Beamtentum zu verallgemeinern, was der Titel suggeriert. Es ist ein Einzelschicksal, das genauso bei Angestellten vorkommt - eine fast schon pauschale Verurteilung von Beamten, wie sie die Überschrift zusammen mit der Geschichte in den Raum stellt, dürfte kaum Deine beabsichtigte Aussage sein, und wenn ja, ist sie höchst zweifelhaft.

Fazit: Eindringliche Bestandsaufnahme der Vereinsamung und Oberflächlichkeit in unserer Gesellschaft, sprachlich absolut in Ordnung.

Uwe

 

Hallo Uwe

Nein, ganz sicher soll das keine Verurteilung, schon gar keine pauschale, von Beamten sein. Das war tatsächlich nicht meine Intention. In nicht allzuferner Zukunft werde ich vielleicht selber einer sein.
Die Überschrift ist vielleicht tatsächlich etwas provokativ geraten, dennoch denke ich, dass ich sie nicht ändern werde. Letzlich geht es in Geschichten meistens um Einzelschicksale und ich bin ziemlich sicher, dass die Leser es auch als solches verstehen werden. Das Schicksal eines verbitterten Mannes, der gerade einem zufällig Beamter ist (er hätte genauso gut jeden anderen Beruf ausüben können).

Vielen Dank aber, dass Du die Geschichte gelesen und kommentiert hast.

Gruß
deMolay

 

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