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Bay Bridge
„Wie lange dauert es denn noch, Mum?“ Ich war ungeduldig, wie kleine Jungs in meinem Alter nun mal sind. Konnte kaum still sitzen und die Autofahrt kam mir vor wie eine Tagesreise. Naja, fast war sie das ja, auch wenn unser Ziel bloß der Arzt gewesen war und wir uns bereits auf dem Heimweg befanden.
„Du kennst doch den Weg. Wenn wir erst über die Bay Bridge sind, dann dauert es nicht mehr lange. Sue soll dir etwas vorlesen….“
„Mum!“ Sue blickte angewidert aus ihrem Buch hoch und verdrehte die Augen.
„Ich bitte dich! Dein Bruder kann eben noch nicht lesen, das wird ihm die Zeit ein wenig vertreiben. Ach, komm schon!“
In gelangweiltem Ton leierte Sue die Zeilen vor sich hin. Doch ich hatte kaum ein Ohr für ihre monoton vorgetragenen Mädchengeschichten. Lieber hielt ich Ausschau nach der Brücke. Und da sah ich sie auch schon.
„Mum, die Brücke!“, rief ich und hüpfte freudig erregt auf und ab.
„Na siehst du, jetzt haben wir es bald geschafft. Es ist ja auch ein irrer Verkehr heute, ich hoffe, wir geraten nicht in einen Stau.“
„Fahren wir jetzt unten durch?“ Darauf freute ich mich schon die ganze Fahrt.
„Natürlich, bei der Hinfahrt waren wir doch oben, also müssen wir jetzt unten fahren, nicht?“
Die Bay Bridge war eine zweistöckige Brücke, die San Francisco und Oakland miteinander verbindet. Oben drüber zu fahren, war nichts Besonderes, wie auf jeder Brücke eben, aber unter all den anderen Autos durch, das hatte schon seinen Reiz.
„Mein Gott, ist die zugestopft!“, fluchte Mum, als wir schon einige Meter hinter uns hatten. Ich genoss die langsame Fahrt und sah begeistert aus dem Fenster. Plötzlich fiel mir etwas ein.
„Mum, läuft eigentlich schon das Baseballspiel?“
„Bestimmt, es hat bestimmt schon begonnen.“ Sie klang etwas genervt und wechselte die Spur.
„Ooch, das wollte ich doch mit Daddy ansehen. Fahr schneller, damit wir noch den Schluss gemeinsam sehen können!“, bettelte ich
„Du siehst doch, dass es nicht anders geht. Also bleib sitzen und sei endlich still!“, fauchte mich Sue an und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Schmollend versetzte ich ihr einen Stoß in die Seite. Gerade in dem Augenblick, als sie das Buch zuklappte, um es auf meinem Kopf niedergehen zu lassen, hob sich mein Magen. In Sues vor Schreck geweiteten Augen sah ich, dass sie es auch gespürt haben musste. Die Brücke schien zu wanken und Übelkeit kroch in meinem Hals hoch.
„Was ist das?“, flüsterte ich. Ich konnte Mums bleiches Gesicht im Rückblickspiegel erkennen.
„Schnell! Duckt euch!“, schrie sie voller Angst. Weiter kam sie nicht mehr. Eine graue Staubwolke breitete sich um unseren Wagen herum aus. Mit einem ohrenbetäubenden Krach stürzte eine Betonplatte auf den Vorderteil und brachte die Windschutzscheibe zum Bersten. Der ins Wageninnere eintretende Staub löste einen Hustenreiz in mir aus und plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem rechten Bein. Als ich es zurückziehen wollte, merkte ich, dass es eingeklemmt sein musste. Ich konnte mich nicht bewegen und der Staub, der in meine Augen geraten war, nahm mir die Sicht. Ich tappte mit der Hand nach meiner Schwester. „Sue… mein Bein … es tut so weh!“ Doch Sue antwortete nicht. Als ich vorsichtig meine kratzenden Augen öffnete, konnte ich ein verschwommenes Bild des Schreckens durch die vom Staub getrübte Luft erkennen. Sue lehnte bewusstlos neben mir. In ihrem Kopf steckte ein Metallsplitter und Blut lief über ihr ganzes Gesicht und tropfte auf das Buch, das zugeklappt auf ihrem Schoß lag. Auf dem vorderen Teil des Wagens, wo eben noch Mum gesessen hatte, lag eine graue, meterdicke Betonplatte und von Mum keine Spur. Ich musste die Augen wieder schließen. Sie brannten schrecklich und das Bild in meinem Kopf brannte noch viel schrecklicher. Mein Bein spürte ich kaum mehr, also versuchte ich, es zu befreien. Mit geschlossenen Augen fasste ich nach dem Knie und zog wie wild daran. „Du musst da raus!“, beschwor ich es. „Du musst einfach…“
„Lass es“, hörte ich Mums Stimme neben mir sagen. „Du machst es nur noch schlimmer. Es werden Leute kommen und dir dabei helfen.“
„Mum“, ich hatte die Augen immer noch geschlossen, „was ist passiert, Mum?“, fragte ich mit zitternder Stimme.
„Ein Erdbeben, so etwas gibt es oft in San Francisco. Du wirst dich daran gewöhnen.“
„Was ist mit Sue? Etwas steckt in ihrem Kopf.“ Ich deutete in die Richtung meiner Schwester.
„Man wird ihr helfen, es herauszuziehen. Es sieht nur schlimm aus.“
Ich spürte, wie sie sanft mit ihren Händen über meine Augenlider wischte. „Der Staub ist gleich fort, dann kannst du wieder besser atmen und auch wieder sehen. Halte deine Augen geschlossen, dann brennt es weniger. Und atme durch die Nase.“
„Ich werde das Spiel verpassen.“
„Du wirst noch so viele Spiele in deinem Leben sehen können.“
„Aber Daddy wird sich bestimmt Sorgen machen. Er wollte es doch mit mir ansehen.“
„Ja, Daddy macht sich bestimmt große Sorgen. Aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wenn wir zusammenhalten, dann schaffen wir alles, das sagt Daddy doch immer. Weißt du noch? Vergiss das nie, mein Kleiner.“
Ihre Hand fuhr durch mein schwarzes, struppiges Haar, das sie allmorgendlich mit ihrer Bürste zu entwirren versuchte. Dann legte sie sie sanft auf meine Schultern.
„Du musst Sue auch festhalten, Mum!“
So saßen wir Stunden und hielten einander fest.
„He, Kleiner!“, dröhnte eine Stimme an mein Ohr. „Wie geht es dir?“
„Uns geht es gut. Wir halten alle zusammen.“ Ich war überrascht, wie müde meine Stimme klang.
„Wir holen euch jetzt hier raus! Es wird laut und staubig. Aber hab keine Angst, bald bist du frei.“
Er hatte Recht. Es war sehr laut, als man mit den Maschinen das Fahrzeug zerlegte. Und es war sehr staubig, aber ich hielt die Augen fest geschlossen, wie Mum es gesagt hatte, und ich atmete durch die Nase.
Irgendwann hoben mich ein paar starke Hände auf eine Trage und man brachte mich mit einem Hubschrauber von der Brücke fort.
„Mum?“, fragte ich mit geschlossenen Augen in das dröhnende Innere des Hubschraubers. „Mummy?“
„Du wirst jetzt gleich einschlafen“, sagte eine fremde, ruhige Stimme direkt an meinem Ohr. Und da spürte ich schon den kleinen Stich in meiner Armbeuge.
Mitten in der Nacht war es, als ich wieder einmal aus einem furchtbaren Traum hochschreckte. Mein Pyjama war schweißdurchtränkt und ich merkte, dass ich geweint haben musste.
„Hast du wieder schlecht geträumt?“, drang eine vertraute Stimme durch das Dunkel. „Komm her und lass dich festhalten.“
„Ja“, antwortete ich und kroch ins Bett meiner Schwester.
„Erzähl mir noch einmal die Geschichte“, sagte Sue.
Ich erzählte von dem Erdbeben, von meinem eingeklemmten Bein, von dem Splitter in ihrem Kopf, von Mum, die uns die ganze Zeit im Arm gehalten hatte und wie die Rettungsleute uns aus den Trümmern holten, Sue und mich.
Davon, wie man Mum’s bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche nach stundenlanger Arbeit unter dem meterhohen Betonpflock hervorholte, erzählte ich nie. Und Sue fragte auch nie danach. Ich glaube, sie wusste es schon immer.