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Baum der Erkenntnis
Bitte, ich brauche diese Chance. Wenigstens für ein paar Wochen wieder ein Dach über dem Kopf und etwas Anständiges zu Essen.
Die alte Dame sah mich mit einem Blick an, der sofort jede meiner Lügen entlarvte. Dieser ganz spezielle Blick, den alle Großmütter haben. Eine Mischung aus Erwartung, Verständnis und der Verheißung, einen Keks zu bekommen, wenn man jetzt endlich artig die Wahrheit sagt.
„Also Junge, wovor läufst du weg?“, fragte Sie erneut.
„Ich …also…“ Jetzt oder nie. „Na gut. Ich … ich bin aus St. Mary’s abgehauen“, sagte ich und senkte beschämt den Blick. „Aber bitte, bitte sagen Sie das niemandem ok? Ich will da nicht hin zurück. Niemals wieder!“, flehte ich, während ich der alten Dame direkt in die tiefgrünen Augen sah.
„Das Waisenhaus also. Aha. Und wie alt bist du wirklich?“
Ich senkte erneut den Blick. „Sechzehn“, antwortete ich kleinlaut. „Aber ich kann arbeiten, wirklich!“
Erneut ruhte ihr Blick auf mir, abschätzend, überlegend.
„Und du weißt, dass ein Obsthof kein Kinderspielplatz ist? Das ist harte Arbeit, mein Junge! Wir geben hier alle unser Leben für den Hof!“, hörte ich den mahnenden Zeigefinger.
Ich nickte mit aller Würde, die mir noch geblieben war.
„Na gut, ich will mal nicht so sein“, schmunzelte die alte Dame. „Ich zeige dir, wo du schlafen kannst. Wegen der schweren Arbeit ist es hier mehr ein Gehen, als ein Kommen. Den Leuten aus dem Dorf sind wir wahrscheinlich zu weit draußen. Eigentlich sind bei uns immer Betten frei. Gegessen wird um sechs.“
Ein Bett, frohlockte es in mir. Ich hatte auf den Heuboden gehofft, und jetzt bekomme ich ein richtiges Bett!
In dieser Nacht schlief ich so gut, wie schon lange nicht mehr.
Die folgenden Sommermonate waren geprägt durch harte Arbeit und manchmal auch ein paar süße Beeren, die ich mir stibitze. Die Familie auf dem Hof war nicht groß. Verwaltet wurde er von Adam, einem alten und griesgrämigen Mann, der von Arbeit und Zeit gehärtet wie Leder schien. Und dann war da noch Lilith, das alte Mütterchen, die immer für jeden ein gutes Wort übrig hatte. Die Arbeit wurde hauptsächlich von einer Handvoll Tagelöhnern verrichtet, die sich hierher verirrten. Unbekannte Schatten, die sich jeden Tag änderten und wie Ameisen auszogen, um die vielen Bäume und Büsche zu hegen und zu pflegen. Keiner blieb für lange. Sie wollten schnell ein wenig Geld verdienen und verschwanden dann wieder. Ich verstand nie wieso, denn Adam bezahlte die Tagelöhner relativ gut.
Doch mit der Zeit brannte mir mehr und mehr eine Frage auf der Seele.
„Lili?“, fragte ich sie eines Abends.
Ich war stolz darauf, dass ich eine der wenigen war, die sie so nennen durfte.
„Wieso sind eigentlich nur noch du und Adam hier? Wo ist der Rest deiner Familie?“
Sie sah mich durchdringend an.
„Weißt du, Junge …nicht jeder schätzt den Wert von harter Arbeit. Meine Kinder haben vor langer Zeit beschlossen, dass sie ihr Glück woanders suchen möchten. Sie nahmen wohl an, dass es leichtere Wege in der Welt gibt, die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.“
Lili machte eine Pause und sah aus dem Fenster in Richtung des Obsthains.
„Immer, wenn ich an einem ruhigen Sommertag an den Obstbäumen vorbeigehe, sehe ich sie. Wie sie als Kinder unter den Bäumen spielten. Wie sie stolz ihre ersten Äpfel aufsammelten. Und wie sie dann, als sie ungefähr in deinem Alter waren, schlussendlich doch gegangen sind. Aber ein Teil von ihnen wird immer hier sein. Immer“, schloss Lilith ihre Geschichte bedächtig.
„Und wer übernimmt den Hof, wenn du …also, ich meine, wenn Adam und du …“, sprudelte es neugierig aus mir heraus, bevor mir die Konsequenzen dieses Satzes wirklich bewusst wurden.
Lili durfte nicht gehen. Sie war wie meine neue Mutter geworden. Sie konnte mich nicht auch noch verlassen.
„Das wird noch ein paar Jahre dauern“, schmunzelte die alte Lili. „Mach dir da mal nur keinen Kopf drüber. Noch bin ich ja hier.“
Von diesem Abend an träumte ich davon, eines Tages in die Fußstapfen von Lilith und Adam zu treten. Es war gleichzeitig der traurigste und glücklichste Traum, den ich je hatte, denn es würde auch heißen, dass ich erneut keine Familie mehr hätte. Dennoch, ich würde den Hof bewirtschaften, nett zu den Tagelöhnern sein und mich an den Früchten meiner eigenen Arbeit erfreuen. Ich würde Lili nicht enttäuschen. Ich würde der Sohn werden, den sie braucht.
Der Sommer ging zuneige und die Tage wurden langsam kürzer, als sie eines Morgens zu mir kam.
„Guten Morgen, Jungchen“, begrüßte sie mich freundlich. „Heute habe ich eine ganz spezielle Aufgabe für dich. Komm mit.“
Sie führte mich in Richtung des Obsthains. Auf dem Weg dorthin griff sie in eine ihrer vielen Taschen, die Großmütter scheinbar überall haben, und zog einen tiefroten Apfel hervor.
„Hier, probier mal. Das ist einer der Ersten dieses Jahr. Frisch gepflückt, heute Morgen.“
„Danke!“, sagte ich und biss herzhaft in den Apfel. Ich blieb unvermittelt stehen.
„Heilige Mutter Mar…“, rutschte es mir heraus, als ich mich erinnerte in wessen Gegenwart ich mich befand.
„‘Tschuldigung, Lili“, sagte ich. „Aber …ich habe noch nie so einen süßen Apfel …ich meine …die sind …lecker!“, stammelte ich, als ich mit fast noch vollem Mund noch einmal abbiss. Der Geschmack weckte Lebensgeister in mir, von denen ich vorher gar nicht wusste, dass ich sie besaß.
„Dann warte mal, bis du meine Apfelpastete probiert hast!“, schmunzelte sie.
Als wir am Obsthain angekommen waren, schaute Lili schweigend zu den Bäumen.
„Weißt du, jeden Herbst pflanzen wir ein paar neue Apfelbäume, als Ersatz für die Alten, die der Sturm umblasen wird. So haben wir das schon immer gemacht. Das ist Familientradition. Sowas lasse ich nicht jeden machen.“
Ihr Blick ruhte erwartungsvoll auf mir.
„Ich habe dich beobachtet, Jungchen. Du hast mich nicht angelogen, als du gesagt hast du könntest schwer arbeiten. Die ganzen Tagelöhner …naja, sie arbeiten so viel, wie sie müssen, das ist auch schon alles, dann stehlen sie sich fort. Aber du bist fleißig. Du hast Kraft und Energie. Und deswegen möchte ich, …“
Sie machte eine kurze Pause.
„…dass du den ersten neuen Baum pflanzt.“
Mein Herz machte einen Sprung, als ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. Konnten meine Träume wirklich wahr werden? Würde ich Teil des Hofes, Teil der Familie werden?
„Aber das ist harte Arbeit, täusch dich nicht. Als erstes musst du ein Loch graben, ungefähr zwei mal zwei Meter und einen knappen Meter tief. Die Wurzeln müssen viel Platz haben, um sich im Boden gut festzusetzen. Schaffst du das?“
„Klar schaffe ich das“, grinste ich.
„Gut“, grinste Lilith zurück. „Aber denk dran dir eine Leiter mitzunehmen. Sonst kommst du aus deinen Loch hinterher nicht mehr raus…“ Sie lachte. „Dann verpasst du doch noch meine Apfelpastete heute Abend!“
Ich rannte in Richtung Werkzeugschuppen, als Lili weg war. Bewaffnet mit allem, was ich brauchte, machte ich mich sofort an die Arbeit.
Ein Loch, zwei mal zwei Meter und einen Meter tief. Das klingt nach vielleicht zwei Stunden Arbeit, aber als ich am frühen Abend endlich fertig war, war ich todmüde. Lilith brachte mir zwischendurch sogar das Mittagessen an meine neue Baustelle, weil ich die Zeit komplett vergessen hatte.
Ich ließ mich in mein Bett fallen und wäre um ein Haar eingeschlafen, als es plötzlich klopfte.
„Na, wenn du schon kein Abendessen willst, dann bring ich meinem tüchtigen Jungen wenigstens ein Stück Pastete ans Bett“, kam sie schmunzelnd herein.
„Das hast du heute sehr gut gemacht, mein Junge. Ich war gerade noch beim Hain, um dich zu holen. Es ist alles fertig“, sagte sie stolz.
Ich nickte erschöpft.
„Iss wenigstens nochmal einen Bissen, bevor du schläfst.“
Ich rappelte mich ihr zuliebe noch einmal auf und probierte gehorsam etwas von der Pastete. Ob es an meiner Müdigkeit lag oder daran, dass ich den halben Tag das Gefühl hatte den Mund voller Erde zu haben, weiß ich nicht, aber die Pastete schmeckte eher nach süßlicher Verwesung, als nach dem kraftspendenden Apfel von heute Morgen. Aber ich war zu erschöpft, im mir darüber Gedanken zu machen. Ich stellte den Teller auf den Nachttisch und sagte, dass ich jetzt wirklich müde sei.
„Natürlich. Schlaf ruhig mein tüchtiger Junge“, sagte Lilith, als sie den Raum verließ. Ich legte mich auf den Rücken und blickte an die dunkle Decke, als meine Augen zufielen.
Morgen würde ich endlich Teil der Familie werden.
Als ich aufwachte, lag ich nicht mehr im Bett. Es fühlte sich an, als würde ich auf einer Art Steinplatte liegen. Und es war kalt. Ich öffnete meine Augen. Der Raum, in dem ich war, wurde von einer Reihe von Kerzen um mich herum erleuchtet, war sonst aber von einer fast schon stofflichen Dunkelheit durchsetzt. Die Decke schien voller tanzender Schatten zu sein, die nicht einfach durch das Flackern der Kerzen zu erklären waren. Mein Kopf pochte und ich versuchte meine Hand an die Schläfen zu drücken. Es ging nicht. Ich konnte mich nicht bewegen. Wieso konnte ich mich nicht bewegen?
Plötzlich bemerkte ich eine Gestalt am Rand des Kerzenscheins.
„Versuch’s nicht. Bringt ja doch nichts“, hörte ich die brummende Stimme Adams gelangweilt sagen.
„Was …“, setze ich an. „Was ist hier los … Adam?“
Die Angst in mir wuchs. Das musste alles ein schlechter Traum sein. Ja, ich musste träumen. Wach auf, schrie ich meine Gedanken an. Wach …endlich …auf!
Dann hörte ich Schritte und ein Schatten beugte sich über mich.
„Bleib ruhig, mein Sohn, alles ist in Ordnung.“
„Lili, was … was passiert hi …?“, richte ich mich an die Gestalt über mir, aber das war nicht Lili. Das war nicht die alte Dame mit dem großmütterlichen Blick. Sie sah …jünger aus. Ihr Gesicht nicht mehr von Altersschwere gezeichnet, sondern jung, unverbraucht, blass. Ihre Haare waren nicht mehr zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, sondern offen und lockig mit einem ungewohnt rötlichen Schimmer.
Und dann sah ich ihre Augen. Schwarze Augen, in denen man sich verlor. Augen, die Tore zu einer Welt waren, welche kein Mensch betreten sollte. Wenn Augen der Spiegel zur Seele waren, dann sah ich gerade in die Seele eines Dämons. Mein Geist zerbrach fast an dem Anblick.
„Mach dir keine Gedanken mehr über das, was jetzt kommt. Verschwende nichts deiner kostbaren Kraft“, sagte sie, als sie ihre Finger in eine Schale tauchte und mir seltsame Symbole auf Stirn und Wange malte, während Adam Worte ,von denen ich nie geglaubt hätte, dass eine menschliche Zunge sie hervorbringen konnte, sang. Mir wurde schwindelig und kalt, als die Beschwörungen tief in mein Innerstes eindrangen und dort die Reste meines Verstandes fesselten.
Ein letztes Mal sah mich Lilith an, sah mit ihren schwarzen Augen tief in meine Seele.
„Du hast deine Arbeit wirklich gut gemacht. So viel Kraft. So viel Energie“, sagte sie schnurrend. „Ich hatte Glück, dass du freiwillig zu mir gekommen bist. Das hat mir eine kräftezehrende Jagd erspart. Du wirst uns lange nähren, mein Sohn“, sagte sie mit einem gierigen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
„Möchtest du das Geheimnis meiner süßen Äpfel wissen, kleiner Junge?“
Sie machte eine kurze Pause und lenkte meinen Blick auf die an die Wand gelehnte Schaufel. Dann weidete sie sich an meinem schreckverzerrten Gesicht.
„Es ist der Dünger.“