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Bari
An einem kalten, verregneten Septembertag im letzten Jahr wurde in einem alten Karton auf dem Dachboden einer alten Dame, Namens Hildegard Bronner ein junges Kätzchen geboren. Ihr Name war Bari. Außer ihr erblickten noch drei weitere Kätzchen das Licht der Welt. Wenn man das so nennen kann, denn sie kamen blind zur Welt, wie das bei neugeborenen Katzenwelpen immer der Fall ist.
Baris Mutter war eine sehr fürsorgliche Mutter, und die alte Dame eine große Tierfreundin. Aus falsch verstandener Tierliebe hatte sie jedoch Baris Mutter nie sterilisieren lassen. Minka, so nannte die alte Dame Baris Mutter, war selbst noch sehr jung, es war ihr erster Wurf.
Doch davon hatte Frau Bronner bisher noch nichts mitbekommen. Sorgsam hielt Minka ihre Jungen auf dem Dachboden versteckt.
Doch das blieb nicht sehr lange verborgen, denn die Kleinen wuchsen schnell, öffneten schon bald ihre Augen, und ihr Bewegungsdrang gewann rasch an Ausmaß, welches bald den gesamten Dachboden in Anspruch nehmen sollte. Bari, die Älteste trieb es bisweilen ganz besonders wild, und dann flogen auch schon mal alte Bücher aus dem verstaubten Regal, oder sie plumpsten, sich einander jagend von der ausrangierten Couch, die dort oben schon seit etlichen Jahren stand. Kurzum, sie entwickelten sich zu wilden, jungen Katzen, die mitunter einen Heidenlärm verursachten.
Nun war die betagte Frau schon etwas schwerhörig geworden. Aber als die Jungen es, einmal viel, zu bunt getrieben hatten und dabei eine alte Messingschale mit lautem Geschepper auf den Fußboden knallte, horchte die Alte erschrocken auf und nahm ihren Gehstock zur Hand.
Mühsam richtete sie sich langsam auf und und nahm ihren Schlüsselbund von der Anrichte im Flur. Sie schaute kurz nach oben und horchte, ob ein weiteres Geräusch zu vernehmen war. Es blieb aber still. Sie wollte gerade die Schlüssel wieder auf die Anrichte legen, als sie ein Kreischen hörte, das ebenfalls von oben kam. Es hörte sich in ihren Ohren wie der Schrei eines Säuglings an! Ihre Hände fingen an zu zittern und sie bekreuzigte sich rasch, um alles Unheil von ihr abzuwenden. Sie nahm den Schlüssel und den eisernen Haken, der an der Wand hing und öffnete die Luke, die zum Dachboden führte. Dann zog sie langsam die alte, knarrende Holztreppe herunter.
Das fiel ihr nicht leicht, denn die alte Treppe war schon lange nicht mehr in ihren Scharnieren geölt worden. Aber es gelang ihr.
Frau Bronner lehnte nun ihren Gehstock an die Treppe und stieg langsam und mit pochendem Herz die Stufen hoch.
Als sie über den Rand des Dachbodens sah, wurde ihr im ersten Moment noch banger ums klopfende Herz. Acht leuchtend goldene kleine Augenpaare starrten sie im Dunkeln von der alten Couch an. So verharrte sie einige Minuten, bis auf einmal Minka laut miauend aus einer dunklen Ecke hervor sprang um die alte Frau zu begrüßen.
Die Alte jedoch suchte tapfer nach dem Lichtschalter und fand ihn. Sie schaltete das Licht einer alten, von der Decke hängenden Glühbirne ein und war sprachlos als sie wieder zur Couch blickte. Nun saßen dort drei kleine schwarze Kätzchen und eine dreifarbige kleine Schönheit. Nämlich Bari. Alle vier schauten Frau Bronner mit großen Augen an. Dreifarbige Katzen galten als Glückskatzen hierzulande dachte die Alte im nächsten Moment. Sie war nun überaus entzückt und schollt Minka, dass diese ihren Wurf vor ihr versteckt gehalten hatte.
Wie alt mochten diese süßen Welpen sein? Überlegte die alte Frau und schätzte sie auf mindestens zehn Wochen.
Es war klar, dass sie nicht alle Katzen behalten konnte und so inserierte sie in einem lokalen Blatt, dass sie junge Katzen zu verschenken hatte.
Es meldeten sich viele Katzenliebhaber und ein Junges nach dem Andren wurde so vermittelt. Bis auf die schöne Bari. Die wollte sie zunächst für sich behalten.
Bald war Weihnachten und ihre Enkelin lag ihren Eltern schon lange im Ohr, ein eigenes Haustier haben zu dürfen.
Bari wuchs und gedieh gar wunder prächtig unter der Obhut Minkas und der von Hildegard Bronner. Wobei Minka zusehends das Interesse an Bari verlor, je älter die kleine Katzendame wurde.
Die alte Frau verbarg Bari äußerst geschickt, wenn ihre Familie zu Besuch kam. Die Kleine durfte dann auf den Dachboden, war ja nie für lange Zeit. Raus in die Natur durfte sie nicht. Zu wertvoll erschien sie der Dame, zu viel konnte dem jungen, unerfahrenen Kätzchen passieren in der bösen Welt mit Autos, fremden Menschen und wilden Tieren. Nein, Bari war zuhause Bestens aufgehoben, entschied sie.
Dann kam Weihnachten. Und die gesamte Familie erschien am Nachmittag des heiligen Abends. Es wurde gegessen, getrunken, erzählt und gefeiert. Wie das so an Weihnachten üblich ist.
Gegen Abend sollte beschert werden. Die Kinder durften nichts mitbekommen, wenn die Erwachsenen ihre Geschenke unter dem Tannenbaum legten, sichtlich voller Vorfreude über die mit Sicherheit glänzenden Augen ihrer Kinder. Also wurden sie kurzerhand in den Nebenraum verbannt, zusammen mit Brett-Spielen und Fernseher. Die Kleinen waren so sehr aufgeregt, dass natürlich keiner murrte, denn sie wussten ja, dass die Bescherung bevor stand.
Nach einiger Zeit, als alle Erwachsenen ihre Präsente niedergelegt und nochmals zurecht gezupft hatten, erschien Frau Bronner mit einem schönen Korb und einer Schleife drum herum im Wohnzimmer. Neugieriges Staunen und Raunen erfüllte den Raum.
Die Alte lächelte nur und stellte ihr Präsent sanft ab. Der Korb war zugedeckt mit einem Handtuch, sodass niemand gleich sehen konnte, was sich in ihm befand.
Endlich läutete das silberne Glöckchen zum Empfang der Kinder am Gabentisch. Die Türe zum Wohnzimmer öffnete sich vorsichtig, und zwei kleine Jungen, drei und vier Jahre alt und ein neun jähriges Mädchen lugten vorsichtig hinter der Türe vor.
Die alte Frau rief als Erste das Mädchen zu sich und zeigte dann auf den hübschen Korb unter dem Baum. In diesem Moment bewegte sich auf einmal das Tuch über dem Korb und ein klägliches „miau“ ertönte. Mit einem Male war es mucksmäuschen Still im Raum. Kein Raunen, kein Räuspern. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Lilly, das Mädchen schaute ungläubig erst den Korb, dann ihre Großmutter an. Sie hob das Tuch an, und ihr verzückter Schrei durchbrach mit einem Male die Stille! Glückselig umarmte sie ihre Großmutter und beiden standen Tränen in den Augen.
Die Eltern des Mädchens jedoch sahen sich ungläubig in die Augen. Ein Haustier? Das war nicht abgemacht. Wer sollte sich denn darum kümmern, wenn die Tochter plötzlich keine Lust mehr dazu hatte? Ein ewiges Streitthema mit dem unbeirrbaren Kinde. Und nun das. Mutter hatte ihren Willen durchgesetzt und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht! Obwohl ihr doch klar sein musste, dass keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung davon hatte, wie man eine Katze „artgerecht“ hielt! Doch ein Blick in die Augen des überglücklichen Kindes spülten den Ärger schnell wieder herunter. Und außerdem. Es war ja schließlich Weihnachten, das Fest der Liebe. Das Problem mit der Katze konnte ja noch etwas warten.
Dann kam Silvester. Lilly hatte inzwischen notdürftig mit Unterstützung ihrer Großmutter eine „Unterkunft“ für Bari geschaffen. Eine alte Schlafdecke, ein paar Schälchen für Futter und Wasser, eine ausrangierte Kiste als Katzenklo gefüllt mit Sand aus dem Sandkasten und sogar etwas Spielzeug hatte sie bereits. Die richtige Ausstattung sollte folgen, wenn es die Eltern erlaubten.
Doch am Silvesterabend war das Thema völlig vergessen, denn nun zählten erst einmal die bunten Raketen und lauten Böller! Lilly konnte die Vorfreude kaum noch ertragen, endlich um Mitternacht mit ihren Eltern, Freunden und Bekannten auf die Straße hinaus zu gehen, um das alte Jahr lautstark und bunt zu verabschieden!
Bari indessen von den immer wieder laut krachenden Geschossen aufgeschreckt, hatte sich zitternd unter dem Bett des Mädchens verkrochen. Viele Menschen aus der Nachbarschaft konnten die Zeit bis Mitternacht nicht aushalten und schossen daher schon vorher los. Das laute Knallen und die vielen fremden Menschen in der Wohnung, die immer ausgelassener feierten, ängstigten die junge Katze nun fast zu Tode.
Dann war es Mitternacht. Lilly kam Freude strahlend in ihr Zimmer und zog die sich wehrende Katze ohne nachzudenken unter dem Bett hervor. Ihre Idee war es, Silvester zusammen mit Bari draußen zu verbringen, um mit ihr das neue Jahr zu begrüßen. Bari wand sich wie eine Wildkatze in ihren Armen, doch der Griff des Mädchens blieb unerbittlich fest.
Sie gingen zusammen nach draußen, wo ihre Eltern bereits die ersten Raketen zündeten. Mit einem ohrenbetäubenden Zischen fuhr die erste Rakete gen Himmel. Das war nun endgültig zu viel für das Kätzchen. Sie entriss sich mit einem Ruck und gespreizten Krallen, ihrer vermeintlichen Peinigerin und floh in die Nacht hinaus!
Doch in welch einem Moment? Überall krachte, zischte und rummste es! Helle Lichter, schreiende Menschen überall! Sie rannte um ihr Leben, lief über eine Wiese, an Häusern, Menschen und Autos vorbei, ohne noch darauf zu achten. Hoch über ihr barsten immer wieder Raketen, bunte Leuchtkugeln... sie rannte und rannte, wie noch nie in ihrem kurzen Leben bisher. Völlig verwirrt und verängstigt jagte sie immer weiter weg von den Menschen und den bunten Lichtern. Es wurde etwas ruhiger, sie hatte die Felder der Bauern erreicht. Nur noch von weiten kam der Lärm und die bunten Lichter. Bari war total erschöpft, konnte nicht mehr, ihre Lungen brannten, das Herz war kurz vor dem Zerspringen. Sie setzte sich auf einen kalten, glatten, grauen harten Boden. Hier war es still. Sie wusste nicht, wo sie sich befand. Sie war noch nie draußen gewesen. Sie wusste auch nicht, was Straßen sind. In der Ferne sah sie 2 weiße Lichter auf sich zu kommen. Rasend schnell. Sie hatte eigentlich gar keine Kraft mehr, dennoch versuchte sie sich langsam und verzweifelt zurück in Richtung Feld zu schleppen. Zu langsam! Sie hatte keine Zeit mehr, sich über das, was nun geschah zu wundern.
Den Aufprall verspürte sie schon nicht mehr, als ihre unverstandene Seele zu Gott zurück kehrte.