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Barfuß
Die Schuhe ließ Paula im Auto, nahm nur das große Handtuch, sonst nichts.
Sie ging den Feldweg zur alten Badestelle hinunter. Die Hitze des Tages hing noch zwischen den Bäumen. Es roch nach Staub und nach Wald. Die Grillen zirpten.
Die Steine auf dem Weg drückten unangenehm unter ihren nackten Füßen. Sie versuchte, auf dem Mittelstreifen zu laufen, aber das ausgedörrte Gras pikste wie tausend Nadeln. Der Weg war weiter, als Paula es in Erinnerung hatte. Den See konnte sie noch nicht sehen.
Die letzten Badegäste kamen ihr entgegen, Familien mit Kindern, Teenager, die freundlich grüßten, das hatte sich nicht geändert. Paula kannte keinen von ihnen.
Der Weg endete auf einer kleinen Wiese. Dahinter lag der See, umgeben von hügeligen Feldern und einigen Bäumen, die am gegenüberliegenden Ufer bereits lange Schatten auf das Wasser warfen.
Paula ging über die Wiese. Hier war das Gras weich und kühl. Sie atmete tief ein und empfand ein verlorenes Gefühl von Freiheit. Kindheitserinnerungen stiegen in ihr auf, als sie in das flache Wasser trat und der feine Sand zwischen ihren Zehen hervorquoll. Sie konnte die Stichlinge sehen, die sich in Ufernähe tummelten, und überlegte kurz, ob sie versuchen sollte, ie zu fangen, wie damals. Lächelnd ging sie im Wasser hin und her, es war angenehm, nicht kalt.
Paula verließ das flache Wasser und betrat den Steg, der weit in den See hineinführte. Das Holz war noch warm. Der Geruch des Holzschutzmittels hing schwer in der noch immer warmen Luft, eine Welle von Erinnerungen verband sich damit.
Am Ende des Stegs blieb Paula stehen und dachte an einen Abend vor dreißig Jahren.
Ein Abend wie dieser. Die Erinnerung prickelte auf ihrer Haut. Sie zog ihr Kleid aus und warf es auf den Steg.
Dann sprang sie kopfüber in den See. Sie schwamm mit kräftigen Zügen und fühlte sich unglaublich jung.
Paula und Kathrin. Kathrin und Paula.
Freundinnen seit Kindertagen. Schulfreundinnen. Busenfreudinnen.
Sie standen auf dem Steg in der Abendsonne und kicherten.
„Stell dich nicht so an!“, sagte Kathrin und versuchte, an der Schleife von Paulas Bikini zu ziehen.
„Lass das! Wenn uns jemand sieht!“, schimpfte Paula lachend.
„Wer soll uns sehen? Sie sind alle auf dem Fest.“
„Das kannst du gar nicht wissen!“
„Wohl kann ich das. Sie sind immer alle da. Das war noch nie anders“
„Wir sind doch auch nicht da“
„Wir“, sagte Kathrin und rollte theatralisch mit den Augen, „sind ja auch etwas Besonderes!“
Sie hatte ihr Oberteil bereits ausgezogen und zu ihren anderen Sachen auf den Steg geworfen. Aber Paula wollte sich nicht überreden lassen. Kathrin gab es auf. Stattdessen schubste sie ihre Freundin lachend ins Wasser und sprang mit einem Kopfsprung hinterher. Die beiden Mädchen lieferten sich eine Wasserschlacht, bis Kathrin nach Luft japsend um Gnade flehte und Paula von ihr abließ.
„Heute lasse ich dich am Leben!“, lachte Paula.
„Was machst du da?“, fragte sie dann.
Statt einer Antwort warf Kathrin ihre Bikinihose, die sie unter Wasser ausgezogen hatte, auf den Steg.
„Ich nehme mir die Freiheit“, sagte sie. „Du weißt gar nicht, was das ist.“
Kathrin schnipste Paula mit dem Zeigefinger ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht.
„Feigling“, sagte sie lächelnd, drehte sich um und schwamm auf den See hinaus.
Paula blieb zurück und sah sich um. Es war wirklich niemand zu sehen. Sie waren alle auf dem Fest, wie immer. Hier änderte sich nie etwas, niemals. „Warum also nicht?“, fragte sie sich, streifte ihren Bikini ab und warf ihn ebenfalls auf den Steg. Dann folgte sie Kathrin.
Die Sonne stand inzwischen tief. Das Wasser lag unbewegt vor ihr, wie ein goldener Spiegel. Mücken tanzten über der Wasseroberfläche. Ein Wasserläufer kreuzte ihre Bahn. Paula konnte bis auf den Grund des Wassers sehen. Sie hielt an, um auf der Stelle zu treten, und blickte an ihren Körper hinab. Sie fühlte sich leicht. Und frei, wie Kathrin gesagt hatte. Paula drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Die letzten Sonnenstrahlen schienen ihr ins Gesicht.
„Hab ich dir zu viel versprochen?“, fragte Kathrin leise, direkt neben ihrem Kopf. Paula erschrak.
„Was?“, fragte sie verwirrt.
„Ob ich dir zu viel versprochen habe?“, wiederholte Kathrin.
„Nein, hast du nicht“, flüsterte Paula. „Das ist wirklich ein tolles Gefühl“.
Paula sah Kathrin an. Wie schön sie war. Warum war ihr das noch nie aufgefallen? Sie versuchte im letzten Licht des Tages ihren Körper im Wasser zu betrachten. Sie wollte sie berühren, küssen. Aber das durfte sie nicht. Kathrin hatte einen Freund und sie, Paula, war die einzige, die davon wusste.
Kathrin schwamm auf sie zu, strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht und küsste sie auf den Mund. Paulas Lippen öffneten sich zögernd und sie erwiderte den Kuss und das Gefühl von Blitzen, die durch ihren Körper zuckten, nahm ihr den Atem. Sie glaubte unterzugehen.
Kathrin zog sie näher zu sich heran, die Hände auf ihren Hüften, und küsste sie wieder, während Paulas Hände Halt suchten im Wasser und nichts fanden, außer Kathrins Körper, an den sie sich klammerten.
„Unter dem Steg kann man stehen“, flüsterte Kathrin.
Paula sah sich um. Der Steg lag jetzt fast völlig im Dunkeln und schien unendlich weit weg zu sein. „Ich glaub‘ ich schaff‘ das nicht“, sagte sie.
„Ich kann dich schleppen“, sagte Kathrin zärtlich. Paula nickte. Sie schloss die Augen, ließ sich fallen und begab sich voller Vertrauen in Kathrins Hände, die sie mit geübtem Griff ans Ufer zurückbrachte.
Keuchend hielten sie sich am Steg fest. Mit einer Hand strich Kathrin über Paulas Rücken, über ihre Schulter, ihren Arm. Löste ihre Finger von dem Holz, um sie unter den Steg zu ziehen.
Aber Paula folgte ihr nicht.
„Was ist mit Kevin?“, fragte sie.
„Das ist etwas anderes“, antwortete Kathrin.
Paula gab nach und folgte ihr.
Mit festem Boden unter den Füßen wurden ihre Hände mutiger. Ihre Küsse fordernder.
Kathrin zog Paula durch das flacher werdende Wasser unter dem Steg bis zum Ende, an dem feiner, gelber Sand lag. Sie mussten die Köpfe einziehen und kicherten, während sie Hand in Hand unter dem Steg entlang krochen. Sie setzten sich in den Sand. Paula wich Kathrins Blick aus. Sie zitterte.
„Ist dir kalt?“
„Ja“
„Ich kann dich wärmen. Darf ich?“
„Ja“, flüsterte Paula.
Kathrin beugte sich über sie und begann, behutsam die Wassertropfen von ihrer Haut zu lecken.
„Ich habe gedacht, ich weiß alles über dich“
„Das habe ich auch nicht gewusst“, flüsterte Kathrin.
Paula riss sich aus ihren Gedanken und blickte zum Steg zurück.
Dort saß jemand. Sie wusste, wer es war, bevor sie ihn deutlich erkennen konnte.
Langsam schwamm sie auf ihn zu, eine Zeitreise zurück zu diesem Tag, der alles verändert hatte.
„Ich hab‘ schon gehört, dass du wieder da bist!“, sagte er mit rauer Stimme. Vertraut, immer noch.
Karsten Dietzel, Sohn des Bürgermeisters, Schwarm aller Mädchen und der erste im Dorf, der ein Mofa hatte.
„Bist du jetzt hier der Bademeister oder willst du wieder meine Sachen klauen?“ fragte Paula und wunderte sich, dass sie immer noch wütend war.
„Das war ich nicht“
„Du lügst!“
„Nein! Es war Kevins Idee“
„Aber du warst dabei!“, Paula schrie fast, „gib es doch wenigstens zu!“
„Du kannst froh sein, dass ich dabei war. Sonst hättet ihr eure Sachen nie gefunden. Ihr hättet nackt ins Dorf laufen müssen!“
„Aber warum?“
„Tu doch nicht so scheinheilig!“, sagte Karsten hart.
„ Ihr wart nicht auf dem Fest. Wir haben euch gesucht. Überall. Und wir haben euch gefunden. Genau hier!“ Karsten schlug mit der flachen Hand auf den Steg.
Paula schluckte. Also doch.
„Kevin ist ausgerastet. Ich konnte ihn kaum beruhigen. Du weißt, wie er war. Und ich kam mir selbst so bescheuert vor. Wie der letzte Trottel. Mein Mädchen! Lässt sich von dieser … dieser Tussi befummeln!“
„Ich war nie dein Mädchen…“
„Nein, warst du nicht. Aber wir waren so kurz davor. So kurz“, sagte er und hielt zur Verdeutlichung seiner Worte seine Hände in minimalem Abstand von einander in die Höhe.
„So kurz“, wiederholte er leise. „Jeder wusste das. Ich wollte dich an dem Abend auf dem Fest fragen. Aber du warst nicht da. Warum nicht?“
Paula konnte nicht antworten.
„Ich hatte einen Ring für dich. Ich habe ihn immer noch“, sagte er und nestelte etwas aus seiner Hosentasche. „Hier!“ Er zeigte ihr den Ring. „Es ist eine Gravur drin. Paula und Karsten für immer.“
Paulas Augen füllten sich mit Tränen.
„ Es war nur dieses eine Mal. Ich weiß nicht warum. Es war … irgendwie … ein Abschied. Ich habe es damals auch nicht verstanden“, sagte sie. „Ich wollte mit dir reden, aber du hast nie wieder mit mir gesprochen!“
„Du hast nicht mit mir gesprochen!“
„Du hast mich nackt durch den Wald laufen lassen!“
„Das hattest du verdient!“
„Das hatte ich nicht! Niemand verdient das!“, schrie Paula, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
„Ich weiß“, sagte Karsten leise. „Heute weiß ich das. Aber damals…“
„Willst du nicht langsam mal aus dem Wasser kommen?“, fragte Karsten nach einer Weile. „Dir muss kalt sein“
„Ja, mir ist kalt“, sagte Paula zitternd. „Hilfst du mir raus?“, fragte sie und reichte ihm die Hand.
Karsten nahm ihre Hand und bemerkte ihre Absicht einen Wimpernschlag zu spät.
Paula zog ihn mit einem kräftigen Ruck ins Wasser.
„Ah, verdammt!“, fluchte Karsten. „Das hätte ich wissen müssen! Das hast du immer so gemacht!“
Er wischte sich das Wasser aus den Augen.
Paula lachte leise. „Das hast du verdient!“, sagte sie und spritzte ihm eine Handvoll Wasser ins Gesicht.
„Kannst du mir denn nicht verzeihen?“, fragte Karsten. „Sogar Mord verjährt nach dreißig Jahren!“
Paula legte ihre Hände auf seine Schultern. Er war größer, als sie es in Erinnerung hatte. Sie wischte ihm das nasse Haar aus dem Gesicht und küsste ihn auf den Mund.
„Unter dem Steg kann man stehen“, flüsterte sie.
„Ich weiß“, antwortete Karsten.