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Barfuß über Glas

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15.02.2011
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Barfuß über Glas

Wie er die breite Treppe hinunter stolzierte, ein affektiertes Grinsen auf dem Gesicht, den Rücken aufrecht und die Handflächen geöffnet, wirkte er wie all die anderen Politiker Ärsche, die mit ihren dicken BMWs vorfuhren, nett winkten und die Golduhren blitzen ließen. Die ständig beteuerten, sie hätten „alles im Griff“. Nicks Vater war noch schlimmer.
Er war bereits perfekt angezogen. Er trug einen teuren Anzug, vermutlich von Boss, frisch gebügelt und ohne jegliche Fasern oder Haare auf dem edlen Stoff. Mit einem großen, selbstbewussten Schritt trat er in die Küche, wünschte kurz und förmlich einen Guten Morgen und setzte sich an den langen gedeckten Holztisch, der gerade so groß war, dass niemand darauf kommen könnte, es gäbe „Distanzen“ innerhalb der Familie.
Hauptsache das Gesicht wahren. Alles für deinen beschissenen Ruhm.
Nick schüttelte kurz den Kopf, ließ seine langen Haare über die rechte Gesichtshälfte fallen, schirmte sich vor den Blicken seines Vaters.
Nick sah hinüber zu seiner Mutter, die sich verkrampfte, seitdem er das Zimmer betreten hatte, als müsste sie in seiner Anwesenheit stets eine andere, würdigere Haltung einnehmen. Er hörte wie Porzellan leise klirrte, Kaffe in eine Tasse lief, wie ein langer ausgiebiger Schluck getrunken wurde.
„Der Kaffe ist kalt!“
Ein bösartiges Murren, ein vernichtender, abschätziger Blick, den Nick fast spüren konnte, weil er ihn selbst so oft zu Gesicht bekam. Wie in Eiswasser getaucht, sog seine Mutter die Luft ein, duckte sich unter dem Blick ihres Mannes hinweg und griff mit klammen, bebenden Fingern nach der Tageszeitung.
„Es tut mir leid“, ein spitzer, hastiger Ausspruch, fast wie ein Stoßgebet. Rasch faltete sie die Zeitung auseinander, baute die übliche Mauer aus Papier und Druckerschwärze zwischen sich und ihrem Mann auf und versteckte ihr kleines, blasses Gesicht dahinter. Nicks Vater zögerte kurz.
„Wie auch immer.“
Nick blickte kurz zu ihm hinüber. Sein Vater hielt die Tasse noch immer fest und sah gerade auf die Uhr.
„Ich muss gleich ins Büro, bin spät dran“, murmelte er wichtigtuerisch, zwischen zwei Schlucken.
Nicks graue Augen brannten förmlich Löcher in die Nadelstreifenhose seines Vaters. Er beobachtete, wie sich der teure Stoff in Falten legte, als er die überschlagenen Beine nebeneinander stellte, den Stuhl geräuschvoll zurück schob und durch die geräumige helle Küche schritt. Nick verweilte noch einen Moment in seiner Regungslosigkeit, aus den Augenwinkeln sah er wie sein Vater stutzte, abrupt stehen blieb und ein Blatt Papier von einem zierlichen Tisch nahm.
Für einen Moment stand seine Welt still.
Nein, das ist er nicht. Das darf nicht sein!
Nicks Handflächen wurden feucht, sein eigener Herzschlag hallte in seinem Kopf wie Donnerschläge, er war wie versteinert. Hatte er ihn wirklich einfach da liegen gelassen? War er so dumm gewesen?
Sein Vater rührte sich nicht, während er den Brief las. Kaum merklich hob und senkte sich seine Brust. Langsam drehte er sich zu Nick um. Er war kreidebleich und seine Gesichtszüge waren wie verzerrt, als wäre seine affektiert grinsende Maske verrutscht.
„Erklärst du mir das bitte?“, er spricht langsam und ruhig, jedoch mit vor Erregung zitternder Stimme.
Nick hatte keine Erklärung. Keine, die seinen Vater, den Perfektionisten, den großen Politiker zufrieden stellen könnte.
Die Wahrheit war, dass er bei dem Eignungstest keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte, dass er kaum in der Lage war, den Stift zu halten um wahllos irgendwelche Kreuze zu setzen, dass er kaum atmen konnte, dass er sich selbst fest umklammern musste, um auf dem harten Lehnstuhl nicht in tausend Teile zu zerspringen.
Er würde es nie verstehen, nie würde er begreifen können, dass sein einziger Sohn nicht den gleichen steilen Weg an die Spitze der Gesellschaft schritt. Dass er nicht an derselben Universität angenommen wurde, an der er selbst sich Jahre zuvor einen Namen gemacht hatte. Nie hätte er sich so verwundbar, so fassungslos gefühlt, wie er es getan hatte, nachdem sie weg war, er der perfekte starke, erfolgreiche Mann.
Er kam auf ihn zu, blieb direkt vor Nick stehen.
„Gut, dann werde ich dir einmal etwas erklären. Wir haben dich gezeugt, großgezogen, all deine abnormen pubertären Ausbrüche mitgemacht. Und das ist der Dank? Dass du unterbelichteter Nichtsnutz so radikal durch den Eignungstest fällst?“
Seine Rede hörte sich an, als würde man bei einer alten Stereoanlage ganz langsam die Lautstärke erhöhen. Mit jedem Wort, dass Nicks Vater sprach, klang seine Stimme lauter, verzerrter und bedrohlicher. Er war nicht mehr blass, sondern dunkelrot, die Ader an seinem Hals war so stark angeschwollen, dass er fahrig an dem obersten Knopf seines Hemdes herumfingerte, um ihr ein wenig mehr Freiraum zu gewähren.
Wenn er so nahe vor ihm stand, auf ihn herunter blickte und beim Sprechen mit einem Finger auf ihn zeigte, fühlte sich Nick entsetzlich klein und nutzlos, wie ein blinder, orientierungsloser Wurm in einem Meer aus Beleidigungen und Bosheit.
Früher, als Nick noch jünger war, hatte er immer angst davor Schimpfwörter und Beleidigungen über seinen Vater zu denken. Er dachte sie leise, heimlich, als wären selbst seine Gedanken verboten. Als könnte er sie hören und ihn auch dafür bestrafen.
Du arrogantes, selbstgefälliges Arschloch!, dachte Nick. Nicht leise und heimlich, sondern laut, hitzig, impulsiv. Als könnten die Worte wie ein loderndes Feuer aus ihm herausbrechen und den Mann vor ihm vernichten. Nick schaltete sein Gehirn ab. Selbstschutzmechanismus.
„Du bist nichts als ein abartiger Versager…“.
Die Worte kamen nun von weit her, undeutlich, dumpf, als könnten sie ihn in den tosenden Wellen, die ihn umgaben, nicht richtig erreichen. Als würde der Sturm sie davontragen. Dies war seine Art mit den Wutausbrüchen seines Vaters umzugehen. Er schwamm davon in einem Meer aus Erinnerungen.

*
Nick dachte an einen längst vergangenen Tag aus seiner Kindheit. Er saß im Spielzimmer, eines der Räume, die ein Jahr zuvor auf fünf doppelten Hochglanzseiten in irgendeiner Einrichtungszeitschrift zur Schau gestellt wurden. Das Zimmer war geräumig und „geschmackvoll und kindgerecht“ eingerichtet, so stand es jedenfalls in geschwungenen Lettern in dem Artikel unter der Überschrift: „Die schönsten Häuser Berlins“.
Nick hatte die Puzzleteile seines neuen Hundepuzzles über den Teppich verstreut, betrachtete sie eingehend, sortierte die Randteile, die Mittelteile, die Hellen und Dunklen auf verschiedene Häufchen.
Die Tür öffnete sich, Mo kam mit federnden Schritten herein. Sie setzte sich zu ihm auf den Boden, legte einen Picknickteller mit Apfelschnitzen und ein paar Keksen zwischen sie.
An ihrem sanften Lächeln erriet er, dass sein Vater heute einen guten Tag hatte, dass er „Wut-Papi“ heute Morgen im Bett gelassen hatte, wie Nick es manchmal ausdrückte . Oder vielleicht war er auch einfach nicht da. Auf Geschäftsreise, oder so etwas in der Art. Nick scherte sich nie besonders um ihn, er versuchte ihn einfach auszublenden.
„Danke“, sagte Nick leise. Fragend sah Mo ihn an.
„Für die Kekse und den Apfel“.
Mo schüttelte ihre langen dunklen Haare aus dem Gesicht, ihre Mundwinkel hoben sich noch ein wenig. Das war ihre Art um etwas wie „Gern geschehen“ oder „kein Problem“ zu sagen. Mo sprach so selten, dass Nick sich nicht einmal richtig an ihre Stimme erinnern konnte. Sie war stumm. Dies war der Grund, wieso ihr Vater sie noch mehr verachtete, als ihn, dass er sie noch mehr beleidigte und beschimpfte und sie „Wut-Papi“ noch öfter zu Gesicht bekam, als er, weil er sie für dumm hielt, für unnormal. In seiner sturen, perfektionistischen und von Normen besessenen Sichtweise, war sie eine Schande für die Familie.

*

Nick blinzelte, die Erinnerung verblasste. Verschwommen sah er nun wieder die Konturen seines verhassten Vaters und als er erneut blinzelte, merkte er, dass er weinte. Ein schwerer Klos schnürte ihm den Hals zu, er konnte nicht atmen. Als ob er das in seiner Gegenwart je wirklich gekonnt hätte. Voller Abscheu sah sein Vater ihn an, sah die Tränen die auf seiner Wange brannten. Er verachtete Gefühle. Nick dachte an Mo und daran, wie sie ihm ohne Worte ihre Gefühle offenbaren konnte. Gefühle, die allein für ihn galten. Warme, süße, verbotene Gefühle.

*

Er erinnerte sich an den Sommer vor zwei Jahren, der fast ebenso warm war. Nein, nicht warm, heiß und schwül. Die Luft war zähflüssig und stand in den Gassen, sodass man mehr Kraft als üblich aufbringen musste, um sich in ihr zu bewegen. Es war so schwül, dass die Menschen die Fenster Nachts weit öffneten, in der Hoffnung, eine sanfte Briese würde hereinwehen, und doch keinen Schlaf fanden, weil ihre Rücken an den dünnen Laken klebten und der Schweiß ihnen die nackten Arme und Beine benetzte.
Eines Nachts schlich Nick sich aus seinem Zimmer. Er wollte sich eine Limonade aus dem Kühlschrank holen. Als er sah, dass die Tür zu dem Zimmer seiner Schwester einen Spalt offen war, blieb er stehen und spähte in den Raum.
Sein Blick fiel sofort auf Mo, die trotz der Temperaturen friedlich in einen dünnen Bettbezug eingewickelt schlief. Ihr dünner Körper zeichnete sich darunter ab, wie die Konturen einer sehr zerbrechlichen Skulptur. Sie war so schön.
Nick spürte, wie sich seine Brust zuschnürte, wie ihm das Atmen schwerfiel und ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Ganz tief in einer verborgenen und verschlossenen Ecke seines Herzens verspürte er den Drang, sie zu berühren, über ihre elfenbeinfarbige Haut zu streichen, immer und immer wieder. Sie zu küssen, zu lieben.
Langsam und leise betrat er das Zimmer. Sie schreckte auf, drehte sich um. Ihre Haut war blass und irgendwie dünn, wie ein transparenter Stoff, auf dem Gesicht hatte sie einige dunkle Flecken. Blutergüsse.
Er legte sich neben sie, sagte nichts. Es war nicht nötig, Mo wusste es. Sie wusste, dass er nicht schlafen konnte, weil es zu heiß war. Und weil er an sie gedacht hatte.
Mo war nämlich keineswegs dumm oder unterbelichtet. Eigentlich war sie viel schlauer, als die meisten Menschen, weil sie die kleinen Dinge sah und bemerkte, denen niemand sonst Aufmerksamkeit schenkte. Jedoch war Nick der einzige, der ihr Geheimnis kannte, er war der einzige, der sie je Sprechen gehört hatte.

Es war eine ähnliche Nacht gewesen, als Nick in seinem großen Bett lag und sich irgendwo zwischen Wachen und Schlafen befand, unsicher, welchem Zustand er es am ehesten ertragen könnte, zu verfallen. Sie war zu ihm ins Bett gekommen, legte sich neben ihn. Ihr Körper glühte heiß und sie zitterte unregelmäßig. Ganz leise, fast unhörbar, hauchte sie immer wieder ein Wort.
Nick nahm sie in den Arm, hielt sie fest, bis ihr Zittern aufhörte und die Worte verstummten. Immer wieder strich er sanft über ihr gerötetes und angeschwollenes Gesicht. „Wut-Papis“ Werk.
Nick begriff, dies war der Grund, weswegen seine Schwester nie sprach. Er verstand, dass dieses eine Wort „Papi, Papi, Papi“ über allen anderen stand. Es war so mächtig, so allumfassend, dass es alle anderen Worte in einen winzigen Teil ihres Gehirnes verbannte, sie verdrängte und auslöschte.

In der unendlichen Stille, die sie beide ausfüllte und zärtlich umhüllte, wie eine tröstende Umarmung, beugte sich Nick ganz langsam über Mo. Zaghaft küsste er sie.

*
Es waren süße, lebendige Erinnerungen und doch zog sich Nicks Brust seltsam leer zusammen.
Sein Vater wandte sich ab, lies den Brief auf den Tisch fallen, schüttelte nur noch einmal abwertend mit dem Kopf.
Geräuschvoll atmete Nicks Mutter aus. Der kurze Ausbruch war vor bei, ein Nachbeben würde es nicht geben. Sie stand auf und war im stehen kaum größer als im sitzen. Fahrig flatterte sie in der Küche umher, räumte dreckiges Geschirr vom Tisch, versuchte die angespannte Stimmung zu entschärfen. So war es immer. Emotionen wurden verdrängt, Tränen getrocknet, Worte, die gesagt werden müssen hinuntergeschluckt.
„Will noch jemand etwas trinken?“, fragte sie munter, ohne jedoch das leichte Zittern in ihrer Stimme unterdrücken zu können. Keine Antwort.
Mit ausladenden Schritten lief Nicks Vater zur Tür, blieb auf der Schwelle stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. Die Wut war noch nicht ganz verflogen, noch immer bebten seine Nasenflügel gefährlich.
„Nach den Ferien fliegst du hier raus. Wir haben das lange genug mitgemacht.“
Ein erbarmungsloser, kaltherziger Entschluss. Erschrocken hielt Nicks Mutter inne und schlug die Hände auf den Mund. Das Glas, das sie gerade in die Spüle räumen wollte, fiel laut klirrend zu Boden und zerbrach hallend auf dem Marmor.
Mit angriffslustigem Blick wandte er sich nun ihr zu. Sie löste sich aus ihrer Starre, wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Anrichte. Bedrohlich kam er nun näher.
Auf dem Esstisch vibrierte das Smartphone. Nicks Vater wandte sich von seiner Frau ab, nahm sich das Telefon und verließ endgültig die Küche.
Manchmal, wenn er wie jetzt nach einem solchen Wutanfall so blitzartig den Raum verließ, dass sein Gebrüll in Nicks Ohren und sein Hasserfüllter Blick, der ihn im Kreuz zu einer zusammengefallenen Haltung herunterdrückte noch so gegenwärtig waren, dachte Nick seltsamerweise an diese bedeutungsvollen drei Worte „ich liebe dich“ und wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sein Vater sie je zu ihm gesagt hätte.
Nicks Mutter sank leicht zusammen und schluchzte fast unhörbar. Sie wandte sich um, verbarg aus Scham das Gesicht vor den Blicken ihres Sohnes. Mit zitternden Fingern begann sie wie neurotisch die saubere Spüle abzuwischen.
Nick war auf den Rand des Stuhles gerutscht und kippte ihn leicht nach vorne. Nachdem er gegangen war, war die Küche war seltsam luftleer. Langsam sank er in sich zusammen.


*

Es war Herbst. Ein kühler, windiger Herbst nach einem schwülen, drückenden Sommer.
Seitdem Mo gegangen war, war es, als hätte es sie nie gegeben. Ihre Kleider wurden gespendet, das Zimmer leergeräumt. Bis auf das Bett, das einzeln und karg in der Mitte des Raumes stand. Erinnerungen an einen heißen Sommer und ein kleines bisschen verbotener Liebe.
Um eine perfekte Karriere zu garantieren, muss alles, was nicht perfekt war vernichtet werden.
Eines Abends, als Nick aus der Schule kam, sah er, wie die Koffer in einen großen schwarzen Leihwagen gesperrt wurden und hörte, wie Mo vergeblich an die verschlossene Autotür hämmerte. Sein Vater hatte sie erbarmungslos und ohne jegliche Vorwarnung zu irgendwelchen Verwandten in Südfrankreich geschickt. Im Haus durfte niemand über sie sprechen. Manchmal, wenn sein Vater ein Interview gibt, sagte er, er habe nur ein Kind.
In einer Welt ohne Zuneigung und Anerkennung hatten sich Nick und Mo gemeinsam ein winziges bisschen Liebe aufgebaut. Ein kleines Refugium in einem tosenden Sturm aus kaltem bitteren Hass, dass sie beide wie eine warme, um zwei Körper geschlungene Decke zusammen hielt und wärmte. Es war eine süße, heimliche Liebe und doch war es mehr als erlaubt war, mehr als sie als Geschwister füreinander empfinden sollten.
Als Mo fort war, brach das bisschen Liebe über ihm zusammen wie ein Kartenhaus und nackt und schutzlos stand er alleine in dem tosenden Sturm.

*
Nick stand auf. Alles fühlte sich so taub an, so leer, so aufgebraucht. Die Scherben lagen immer noch auf dem Boden verteilt. Nick hörte, wie das Glas auf dem Stein knirschte, spürte, wie sich die scharfen Kanten mit jedem Schritt weiter in seine nackte Haut bohrten, als er Barfuß durch die Küche lief. Es war ihm gleich.
Seine Mutter hielt inne und drehte sich um.
„Viel Spaß in der Schule“, rief sie glockenhell, bemüht um eine allgemeine Übereinstimmung des Stillschweigens. Bemüht um ein kleines bisschen Normalität. Nick schloss die Tür hinter sich.

 

Sie ist noch überhaupt nicht bearbeitet und es kann durchaus sein, dass einige Logikfehler eingebaut sind ;). Trotzdem bitte ich ganz doll um konstruktive Kritik, weil ich die Idee eigentlich total gut finde, nur irgendwie gefällt es mir selbst nicht so ganz, wie ich es schriftlich umgesetzt habe..
Und falls ich es nicht in das richtige Thema geposted habe, tut es mir auch sehr leid, ich wusste nur nicht genau, wo ich es sonst hätte einstellen sollen :)

 
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Hallo selli,

ein paar Dinge sind mir beim Lesen deiner Geschichte aufgefallen. Leider muss ich vorausschicken, dass mir die Geschichte insgesamt eher wenig gefällt. Aus jedem Plot lässt sich eigentlich was machen, und wenn er sich als "Hans geht 'ne Dose Mais kaufen" zusammenfassen lässt. Also muss es wohl an den Details liegen. Will dir nun auch erklären, was mir nicht gefällt.


Handflächen geöffnet
Wie darf ich mir das vorstellen? Wer schließt seine Hände zu Fäusten beim Laufen? Oder sind die Hände flach wie ein Brett? Das wäre sehr roboterhaft. Komisches Bild.

wirkte er wie all die anderen Politiker Ärsche, die mit ihren dicken BMWs vorfuhren, nett winkten und die Golduhren blitzen ließen.
Uff. Ein fettes Klischee gleich im ersten Satz. Zwar bin ich kein besonders großer Fan von Politikern, aber selbst für mich ist das zu überladen.

Er war bereits perfekt angezogen.
"Bereits" kann weg, ist unnötig.

Er trug einen teuren Anzug, vermutlich von Boss
Ein Erzähler soll nicht erzählen, was er nicht weiß. Das ist ja das gute an einem auktorialen Erzähler, er ist allwissend. Dann kann er auch sagen, dass die Figur einen Boss-Anzug trägt.

dass niemand darauf kommen könnte
Zu umgangssprachlich. "Dass niemand je vermuten würde", vielleicht. Warum Distanzen in Anführungsstrichen? Kann man doch direkt so stehen lassen.

Kaffe in eine Tasse lief
Kaffee statt Kaffe. Manche sprechen ihn so aus, wie du ihn schreibst. Vielleicht bin ich zu kleinlich, aber in einem solchen Moment wehrt sich alles in mir. Ich füge mir dann mit dem Nagel des Zeigefingers einen leichten Schmerz am Daumen zu, um mich vom Korrigieren abzuhalten. Klugscheißer mag echt niemand.
Kaffee läuft auch nicht, er wird eingeschenkt, gegossen, verschüttet. Was auch immer.

Nicks graue Augen brannten förmlich Löcher in die Nadelstreifenhose seines Vaters.
Guck mal, diesen Satz mochte ich. Lies ihn aber mal ohne das "förmlich", ich finde das greift mehr.

zierlichen Tisch
Ein Adjektiv mit dem ich eher einen Menschen beschreiben würde. Genauso wie man nicht sagen würde "ein fragiler Tisch", es sei denn du bist konsequent und personifizierst ihn, ok. Verstehst du, was ich meine?


Die Wahrheit war, dass er bei dem Eignungstest keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte, dass er kaum in der Lage war, den Stift zu halten um wahllos irgendwelche Kreuze zu setzen, dass er kaum atmen konnte, dass er sich selbst fest umklammern musste, um auf dem harten Lehnstuhl nicht in tausend Teile zu zerspringen.
Der Junge hat also diesen Test vergeigt. Dann musst du in diesem Abschnitt in die Vorvergangenheit. Im nächsten Satz machst du direkt mit "Er" weiter, obwohl hier vom Vater die Rede ist. Da muss erzählerisch besser differenziert werden. Oder hat der Vater beim Eignungstest versagt? Ich bin echt verwirrt.

Seine Rede hörte sich an, als würde man bei einer alten Stereoanlage ganz langsam die Lautstärke erhöhen. Mit jedem Wort, dass Nicks Vater sprach, klang seine Stimme lauter, verzerrter und bedrohlicher. Er war nicht mehr blass, sondern dunkelrot, die Ader an seinem Hals war so stark angeschwollen, dass er fahrig an dem obersten Knopf seines Hemdes herumfingerte, um ihr ein wenig mehr Freiraum zu gewähren.
Das, statt dass im zweiten Satz. Aber: Dieser Abschnitt ist definitiv ein Lichtblick. Wenn du im ersten Abschnitt auf das Klischee verzichtet und stattdessen, so wie hier mit einer Geste, den schlechten Charakter des Vaters durch die Beschreibung einer blöden Angewohnheit von ihm ersetzt hättest... das wäre mehr Wert gewesen.

Früher, als Nick noch jünger war, hatte er immer angst davor Schimpfwörter und Beleidigungen über seinen Vater zu denken.
Angst - Flüchtigkeit. Man denkt keine Schimpfwörter über jemanden. Vielleicht formulierst du das um in "hatte er Angst, schlecht über seinen Vater zu denken", oder "seinen Vater aus Wut im Geiste zu beleidigen".

Du arrogantes, selbstgefälliges Arschloch!, dachte Nick. Nicht leise und heimlich, sondern laut, hitzig, impulsiv. Als könnten die Worte wie ein loderndes Feuer aus ihm herausbrechen und den Mann vor ihm vernichten. Nick schaltete sein Gehirn ab. Selbstschutzmechanismus.
„Du bist nichts als ein abartiger Versager…“.
Die Worte kamen nun von weit her, undeutlich, dumpf, als könnten sie ihn in den tosenden Wellen, die ihn umgaben, nicht richtig erreichen. Als würde der Sturm sie davontragen. Dies war seine Art mit den Wutausbrüchen seines Vaters umzugehen. Er schwamm davon in einem Meer aus Erinnerungen.
Manchmal habe ich den Eindruck, du bist noch sehr jung, weil deine Sätze nicht sehr präzise geschrieben sind und noch jugendlich klingen. Manchmal aber, so wie in diesem Absatz, könnte ich mir auch jemanden als Autor vorstellen, der vielleicht schon länger schreibt. Das ist die erste Geschichte von dir, die ich lese, ich habe auch in deinem Profil nicht nach der Altersangabe geguckt (das macht man ja schon manchmal). Jetzt kommt jedenfalls ein neuer Abschnitt und ich bin gespannt, ob du genauso holprig weitermachst, oder ob du mich einfach überraschst und die Sache noch gut wird.

Leider fängst du viele Sätze wieder mit "Nick" an, wie auch schon zuvor. Da musst du mehr variieren. Nick geht, Nick steht, Nick sagt...

die Mittelteile, die Hellen und Dunklen auf verschiedene Häufchen.
Da du direkt vorher das Substantiv erwähnst, werden die "hellen und dunklen" klein geschrieben. Dafür leg ich aber nicht die Hand ins Feuer. Es ist schon spät und bei dieser Groß/Klein-Geschichte hab ich auch nicht immer den Plan.

Das war ihre Art um etwas wie „Gern geschehen“ oder „kein Problem“ zu sagen.
"um" muss hier weg.

Voller Abscheu sah sein Vater ihn an, sah die Tränen (Komma) die auf seiner Wange brannten.

Die Luft war zähflüssig und stand in den Gassen, sodass man mehr Kraft als üblich aufbringen musste, um sich in ihr zu bewegen.
Dieses "sodass" müsste irgendwie ersetzt werden. Ich glaube kaum, dass man tatsächlich mehr Kraft bräuchte, aber das subjektive Empfinden kann es einem schon so suggerieren. Ansonsten mochte ich dieses Bild wirklich.

"eine sanfte Briese würde hereinwehen"
Brise

Sie war so schön.
Nick spürte, wie sich seine Brust zuschnürte, wie ihm das Atmen schwerfiel und ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Okay. Eine klare Wende. Juchä! Bisher hatte ich ja nur zu meckern, jetzt wird die Sache spannend. Ich kann erahnen, wohin es geht. Er steht auf seine Schwester? Ich bin wirklich gespannt. Jetzt macht auch dieser Satz hier Sinn: "Gefühle, die allein für ihn galten. Warme, süße, verbotene Gefühle. "

Ihre Haut war blass und irgendwie dünn
Schau mal, das ist jetzt ein echt spannender Moment. Hier sollte man dringend auf Füllwörter verzichten, die machen viel kaputt. Dieses "irgendwie", das muss echt weg.

Eigentlich war sie viel schlauer, als die meisten Menschen, weil sie die kleinen Dinge sah und bemerkte
Das ist doppelt gemoppelt. Entweder sah oder bemerkte.

er war der einzige, der sie je Sprechen gehört hatte.
sprechen

"Sie stand auf und war im stehen kaum größer als im sitzen"
Stehen und Sitzen groß.

sein Hasserfüllter Blick
hasserfüllter

Nachdem er gegangen war, war die Küche war seltsam luftleer
ein "war" zu viel.

alles, was nicht perfekt war (Komma) vernichtet werden.

Manchmal, wenn sein Vater ein Interview gibt, sagte er, er habe nur ein Kind.
Hier musst du dich für eine Zeit entscheiden.

Ich muss die Geschichte morgen noch einmal lesen. Du hältst dich am Anfang noch zu sehr in dieser Küche auf. Gut, du willst detailliert beschreiben, dass der Vater ein Arschloch ist und seine Kinder unter seiner Perfektion, später Perversion, leiden. Hier ist auch schon der Knackpunkt. Eigentlich ist der Missbrauch an seiner Tochter der Kern der Geschichte. Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ich bis dahin durchhalte. Warum machst du es so umständlich? Die Nummer mit dem Eignungstest ist auch völlig unnötig. Man denkt die ganze Zeit, hier schreibt sich ein 15-jähriger Teenager seinen Kummer von der Seele und Mutter und Vater sind eh schlecht. Ich würde diesen ersten Absatz aufs Wesentlichste komprimieren und dann zur Sache kommen (Ja, mit dem Ausdruck ist man an dieser Stelle besser vorsichtig. Aber scheiß drauf, man soll seinen Humor auch in schwarzen Zeiten bewahren).

Ich war ja wirklich froh, als ich die Küchenszene endlich beendet sah - aber zack, da war ich wieder. Du tust dir einfach keinen Gefallen mit dieser Szene. Du baust eine triviale Rahmenhandlung ein, die genauso verschleiernd wirken soll, wie der Anzug des Vaters, der in Wahrheit eine schwarze Weste trägt. Er, ein Macho mit Hosenanzug auf Strich gebügelt. Mutter verängstigt, neurotisch, nichtssagend, gerade gut genug, dass man sich über sie mächtig aufregen kann. Ein Schuljunge, der gegen seinen Vater rebelliert. Und ein kleines Mädchen, das einfach schüchtern ist, wie viele Mädchen. Das ist die Oberfläche der Story. Die Kehrseite: Der Vater vergreift sich an der Tochter, der Sohn ist in selbige verliebt, ein Resultat aus der Fraternisierung gegen den bösen Patriarch. Die Mutter hat eh Schiss vor ihrem Mann, hält besser den Mund. Das ist schon sehr krass alles. Aber ja, sowas gibt es. An sich ist die Idee gut, auch wenn das Thema nicht sehr schön ist.

Es fällt mir wirklich schwer, etwas Nettes hierzu zu sagen, obwohl die Sache durchaus Potential hat. Einzelne Stellen haben mir gefallen. Vielleicht bin ich zu arrogant, zu böse, das hab ich so schon gehört, in jedem Fall: Ich meine es nicht destruktiv. Aus der Geschichte lässt sich auf jeden Fall etwas machen. Meiner Ansicht nach verzettelst du dich aber. Ich hoffe, du kannst mit der Kritik etwas anfangen.

Liebe Grüße,
Schnittmenge

 

Erst mal vielen lieben Dank für deine detaillierte Antwort. :) Ja, du hast recht, ich bin noch sehr jung und unerfahren mit dem Schreiben, daswegen freue ich mich über negative Kritik manchmal mehr, als über positive, weil ich daraus mehr lernen kann. Die Geschichte ist gestern Abend aus Langeweile in etwa 2 Stunden entstanden, da ist es klar, dass noch sehr viel zu verbessern ist. Dass dir die Geschichte nicht so gefällt, ist für mich kein Problem und auch keine Entmutigung. Ich habe mit einer Geschichte, die ich ebenfalls hier eingestellt habe, und die ebenso eher zerpflückt und nicht wirklich gemacht wurde, insgesamt fast 500 Euro und einen Workshop gewonnen ;).
Deine Anmerkungen finde ich sehr gut, werde ich später, wenn ich mehr Zeit habe und selbst noch einmal drüber gelesen habe, auf jeden Fall übernehmen. Vielen Dank! :)

 
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Hallo Selli,

Sie ist noch überhaupt nicht bearbeitet und es kann durchaus sein, dass einige Logikfehler eingebaut sind.
Die Geschichte ist gestern Abend aus Langeweile in etwa 2 Stunden entstanden, da ist es klar, dass noch sehr viel zu verbessern ist.

Ich finde das sehr schade, weil man merkt, dass Du gerne schreibst und auch Talent dazu hast. Also Du beschreibst detailreich und lebendendig und bemuehst Dich, Atmosphaere aufzubauen. Andererseits ist tatsaechlich noch viel zu verbessern. Einige Szenen muessten gestrafft werden, Fuellwoerter und Adjektive auf ihre Daseinsberechtigung hin ueberprueft werden. Schnittmenge hat Dir dafuer schon gute Beispiele gegeben und ich koennte jetzt muehelos noch mehr liefern.

Rasch faltete sie die Zeitung auseinander, baute die übliche Mauer aus Papier und Druckerschwärze zwischen sich und ihrem Mann auf und versteckte ihr kleines, blasses Gesicht dahinter.
wenn da nur "klein" oder nur "blass" stuende faend ich es hier bspw. staerker.

durch die geräumige helle Küche schritt.
hier tun sich die Adjektive gegenseitig auch keinen Gefallen.

Solche Editionsdurchgaenge sind unerlaesslich, das kann man nicht beim ersten spontanen Hinschreiben schon alles hinkriegen. Aber wenn Du als Autorin nicht bereit bist, diese Zeit und Muehe zu investieren, dem Text maximal 2 Stunden goennst, warum soll ich mich dann als Kritiker hinsetzen und 1 Stunde investieren, um diese Arbeit fuer Dich zu tun. Zumal ich weiss, dass das Umsetzen von Verbesserungsvorschlaegen auch viel Arbeit ist - woher soll ich wissen, dass Du bereit bist, die zu leisten. Und wenn Du es nicht tust, haette ich ja meine Zeit eindeutig verschwendet.

An der Grundkonzeption muesste man zum Beispiel noch ordentlich feilen. Der Vater wird als Figur schon arg gepruegelt - mit dem erzaehlerischen Holzhammer geformt. Und es ist tatsaechlich ein bisschen fragwuerdig, aus einer eigentlich recht ereignislosen Situation heraus das eigentlich spannende Geschehen in der Rueckblende zu erzaehlen. Also wie Du da beginnst, das Verhaeltnis der beiden Geschwister zu erzaehlen, das ist schon sehr sensibel gemacht - viel sensibler als dieser Auftritt des Vaters zu Textbeginn. Also ich wuerde den Text komplett umschreiben, mich auf die Beziehung der Kinder konzentrieren. Das bedeutet natuerlich viel Arbeit.

Ist schon klar, dass das alles nicht so viel Sprass macht, wie der erste Schreibflow, aber neben Talent gehoert eben auch Arbeit und Zeit dazu, um dieses Talent zu entwickeln und einen richtig guten Text zu verfassen.

Aber gut, ein paar Hinweise hast Du jetzt. Nun kannst Du beweisen wie ernst Du es mit dem Schreiben meinst.

lg,
fiz

 

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