Bann
Matt hasste das Leben, hasste sein Leben, dort in diesem verschlafenen Nest in Oregon. Auch die Tatsache, dass erst vor kurzem, zum letzten Mal in diesem ungewöhnlich heißen Sommer, die Schulklingel ertönt war, schaffte es nicht ein Lächeln oder auch nur ein kleines Anzeichen von Freude in sein Gesicht zu zeichnen. Statt dessen lief der 16-jährige Junge mit gesenktem Kopf, wie er es immer tat, über den Schulhof, und niemand aus der jubelnden, erleichterten Menge schenkte ihm Aufmerksamkeit. Doch so war es schon immer, und Matt hatte mittlerweile nichts mehr dagegen für seine Umwelt unsichtbar zu sein. Er hatte auch nie eine Person getroffen, die ihm sympathisch war, oder mit der er sich vorstellen konnte mehr als nur zwei Sätze auszutauschen. Außer eine. Er war halt ein Außenseiter.
Gnadenlos schlug die heiße Nachmittagssonne auf Matt ein, während er die steile Straße zum abgelegen Haus seines Onkels erklomm. Dort wohnte er schon fast sieben Jahre. Nachdem seine Eltern während einem Auslandsaufenthalt bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war er gezwungen bei Onkel Henry und Tante Jane zu wohnen, gegen die er, zumindest damals, nichts einzuwenden hatte. Aber mit der Zeit war klar, dass das Leben neben zwei Rentnern kein sehr aufregendes Erlebnis ist. Doch nicht nur die harte Erziehung und die neugierigen Augen seiner Tante, sondern auch starke Schuldgefühle bereiteten ihm Qualen. Hätte er damals nicht so hohes Fieber bekommen, wäre er zusammen mit seinen Eltern erlöst worden. Erlöst vom Leben. Erlöst von seinem Geheimnis.
Matt stoppte und wandte seinen Blick nach links zu dem alten, am Rande eines kleinen, dichten Waldes gelegenen, Wasserturm. Das überraschend gut erhaltene Bauwerk war, mit Gittern vor seinen kleinen Fenstern, in den leicht mit Moos bewachsenen Mauern und einer schweren Stahltür, vor dem ursprünglichen Eingang, gegen randalierende Jugendliche und Schutz suchende Obdachlose geschützt. Einen kleinen Moment blickte Matt noch in die Dunkelheit, die zwischen den Gittern der Fenster hinausdrang, bis er mit lautem Aufatmen seinen Nachhauseweg fortsetzte.
Als er auch noch das letzte kleine Stück Weg geschafft hatte, erreichte er total erschöpft das große, still am Waldrand stehende Haus seiner Ersatzeltern. Ursprünglich gehörte das Haus seinem Großvater. Doch nach dessen Tod erbte der Erstgeborene das prunkvolle, zweistöckige Gebäude.
Matt blickte auf ein Fenster im zweiten Stock. Hinter dem roten, zugezogenen Samtvorhang verbarg sich das Zimmer seiner Tante, in dem sie die meiste Zeit mit irgendeiner, Matt unbekannten, Beschäftigung verbrachte. Dass sich der Vorhang trotz geschlossenem Fenster plötzlich bewegte, schockte ihn nicht. Er bekam seine Tante seit einiger Zeit zwar nicht mehr oft zu Gesicht, aber trotzdem spürte er ihre Blicke überall und war an dieses, zunächst beängstigende Gefühl mittlerweile gewöhnt.
Ohne dem Fenster weitere Beachtung zu schenken, schritt er über den Rasen des Vorgartens, der fast mit der Größe eines Fußballfeldes konkurrieren konnte und betrat durch die rustikale, hölzerne Haustür die Eingangshalle. Kurz blieb er auf dem Parkett stehen und lauschte. Er blickte dabei auf die gewaltige Holztreppe die ins obere Stockwerk führte, doch kein Ton drang hinunter. Leise zog er seine weißen Turnschuhe aus und stellte sie in den kleinen antiken Schuhschrank neben dem Kleiderständer.
Wie immer hatte seine Tante schon gekocht und das Essen auf den Küchentisch gestellt, wo es längst kalt geworden war. So musste Matt auch dieses Mal die Mikrowelle benutzen um eine warme Mahlzeit zu bekommen. Ruhig saß er an dem alten Eichenholztisch und aß Nudeln mit Soße und einem Stück Fleisch. Rinderfleisch, nahm er an. Während dem Essen blickte er nicht vom Teller hoch. Das Guckloch in der Decke, dass in Tante Janes Zimmer führte, kannte er schon. Doch dagegen konnte er nichts tun, außer schneller essen.
Es war noch früh am Abend, als er seinen Teller in die Spülmaschine stellte und dann, mit dem Ranzen auf der Schulter, über den roten Teppich der Treppe stieg. Im zweiten Stock führte lediglich ein Flur, geschmückt mit alten Kerzenleuchtern und einigen Portraits von Leuten, die Matt nicht kannte, in beide Richtungen. Jeweils am Ende des Flures drang Licht durch ein Fenster. Matt beobachtete die rechte Seite und lauschte erneut. Kein Geräusch.
Wo war eigentlich Onkel Henry? Er hatte ihn schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen, was ihn jedoch keineswegs störte, so dass es ihm eigentlich egal war. Eilig drehte er sich nach links und folgte dem Flur bis zu seinem Zimmer, in dem er dann verschwand.
Kurz nach Mitternacht wachte Matt auf. Längst war es dunkel geworden und nur noch blasses Mondlicht vollbrachte es durch das Fenster seines Zimmers zu dringen. Nach dem Essen war er direkt ins Bett gegangen, denn er hatte etwas vor. Wie jede Nacht.
Leise richtete er sich aus seiner bequemen horizontalen Lage auf, um kurz darauf wieder zu verharren. War da nicht ein Geräusch? War Tante Jane noch wach? Matt saß still auf dem Bett und entspannte sich erst wieder, als er nach einer Minute, ohne ein wiederholtes, verdächtiges Geräusch, bemerkte, dass er, so still er auch zu sein versuchte, immer noch Sauerstoff benötigte. Noch leicht verschlafen zog er sich dunkle Jeans und einen schwarzen Pullover an, denn draußen wehte ein kühler Wind, der auch durch das leicht geöffnete Fenster schlich. Auf die gleiche ruhige Art wie Matt, der sich langsam zur Zimmertür begab. Er drückte sein linkes Ohr gegen die Holztür und war bereit bei jedem kleinen Geräusch einen weiten Satz zurück unter die Bettdecke zu machen. Doch soweit kam es nicht und er öffnete vorsichtig die Tür, einen Spalt breit, um einen Blick hinaus zu werfen. Das Mondlicht erleuchtete die andere Seite des langen Flurs. Dort befand sich Tante Janes Zimmer. War es nicht auch mal Onkel Henrys Zimmer gewesen?
Kein Licht drang unter ihrer Tür hervor. Sie schlief zwar, aber Matt hatte gelernt ihre Wachsamkeit nicht zu unterschätzen. Mittlerweile wusste er sogar welche Stufe knarrte, oder an welcher Stelle sie knarrte. So machte er sich, wie ein abenteuerlustiger Archäologe, auf den Trip zur Haustür. Wie ein erfolgreicher Archäologe, denn von oben war nichts zu hören.
Durch den Vorgarten zu gehen war ihm zu gefährlich, da seine Tante vielleicht doch noch wach werden und einen Blick ins Freie werfen könnte. Statt dessen ging er an der Fassade des Hauses entlang und erreichte, ohne lauter als das Wehen des Windes gewesen zu sein, einen Weg, der zwischen den Laubbäumen in pechschwarzer Dunkelheit versank. Auch Matt versank langsam in diesem Meer aus Schwarz. Nur ab und zu war ein Schimmer von Mondlicht zu erkennen. Doch er kannte den Weg gut genug, um sich auch ohne auffällige Taschenlampe weiterzubewegen.
Kurze Zeit folgte er dem Weg und bog dann nach links, um zwischen den Bäumen einen, mit altem Laub bedeckten, Abhang hinunterzusteigen. Nach der Hälfte stoppte er jedoch. Am Fuße des Abhangs zeichnete sich der dunkle Umriss des alten Wasserturms ab. Eine Straßenlaterne warf ein unheimliches Licht auf das Bauwerk. Matt verspürte jedoch keine Angst, keinen kalten Schauer. Er musste keine Angst haben. Denn er war nicht allein.
Es dauerte nicht lang und er hatte den kleinen, mit Laub getarnten Tunneleingang wiedergefunden. Ein zweiter Eingang zum Wasserturm, dessen darauffolgendes Tunnelsystem seine Bahnen durch den halben Berg zog. Matt machte eine kleine Taschenlampe an, die er aus seiner Hosentasche nahm. Nun gab es keinen Grund mehr sich zu verstecken.
Nachdem sich Matt ein letztes Mal umgeschaut hatte, betrat er den engen Tunnel, den man nur im Krabbeln folgen konnte. Doch nach nur zehn Metern erreichte Matt eine Leiter, die durch einen kreisrunden Schacht nach unten führte. Vorsichtig, um nicht abzurutschen, kletterte er hinunter. Die Taschenlampe verschwand zu diesem Zwecke wieder in der Hosentasche. Allerdings war sie noch immer an, um Matt die Kletterpartie zu erleichtern. Der Boden näherte sich langsam und Matt hielt an. Wie ein Wolf lauschte er nach versteckten Geräuschen. Neben dem ständigen, monotonen Glucksen von Wasser, war da noch etwas anderes. Eine Stimme. Sie summte irgendeine Melodie, mit einem seltsam rauhen Ton. Moment, er kannte diese Melodie. Delia's Gone von Johnny Cash. Sein Onkel hörte dieses Lied immer. Hatte es gehört?
Langsam stieg Matt von der Leiter auf den feuchten Tunnelboden unter ihm. Hätte es geregnet gehabt wäre er knietief im Wasser gestanden. Doch dank der anhaltenden Hitze der letzten Tage, lag nur ein Film von durchnässtem Moos über dem Boden. Matt nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und schaute sich um. Die Tunneldecke war nun höher, so dass er ohne Probleme stehen konnte. Er stand auf einer Kreuzung. In jede Richtung führte ein nasser, rutschiger Weg. Wo war die Melodie? Sie war verklungen.
Matt schlug den Weg ein, von dem er wusste, dass er zum Wasserturm führte. Je näher er dem Turm kam, desto wohler fühlte er sich. Wie eine Decke aus kugelsicherem Stoff legte sich diese Aura über ihn und verschlang ihn endgültig, als er ihn sah.
"Gary?", sagte Matt mit ruhiger Stimme. "Keine Angst. Ich bin's nur."
Langsam, um ihn nicht zu verschrecken, betrat Matt das Innere des Turms und schaltete dabei die Taschenlampe aus. Gary mochte kein Licht.
"Wie geht es dir heute?", fragte Matt und näherte sich dabei dem dunklen Schatten, der in einer Ecke des Raums zusammengekauert auf dem kalten Steinboden saß. Links über ihm schien das Licht einer Straßenlaterne durch ein vergittertes Fenster und warf einen schmalen Streifen Helligkeit auf den Boden, der Gary in dieser Ecke gefangen hielt.
"Komm schon. Du brauchst dich nicht schämen. Ich bin's nur. Matt."
Langsam stand Gary vom Boden auf. Während er einen Schritt nach vorne ging, enthüllte das Licht mehr und mehr von seinem schwarzen Umhang aus Schatten. War Gary ein Mensch? Diese Frage stellte sich Matt schon seit längerer Zeit. War er vielleicht nur eine besonders seltene Art von Missgeburt? Seine leicht bläuliche, sehr faltige Haut war übersät mit kleinen rötlichen Warzen, die aussahen wie tausend Mückenstiche. Von der Statur wirkte er wie ein Mensch. Zwei Beine. Zwei Arme. Allerdings fehlte dem nackten Wesen jegliches Fortpflanzungsorgan. Und erblickte man erst den Kopf und das Gesicht zweifelte man stark am Glauben er sei ein einfacher Fehler der Natur, ein Unglück der Evolution. Aus seiner Glatze wuchsen hunderte kleiner Hörner, die wie eine Sammlung von spitzen Haizähnen wirkten. Sein Gesicht sah aus, als hätte er dort mehr Haut als Fleisch, und dies zog seine Augenlider, die Wangen und die Mundwinkel weit nach unten, was ihm nur einen einzigen grimmigen Ausdruck verlieh.
Matt hatte sich jedoch längst an Garys außergewöhnliches Aussehen gewöhnt. Er kannte ihn seitdem er hier wohnte.
Vor fast sieben Jahren wachte er nachts in seinem Zimmer auf. Ein Geräusch oder ein Gefühl hatte ihn in dieser Nacht geweckt. Er wusste es selbst nicht mehr so genau. Es war ungefähr zur gleichen Zeit im Sommer und der Mond schien auf die selbe Weise. Erst versuchte er das Geräusch, das Gefühl zu ignorieren, doch irgend etwas trieb ihn aus seinem Zimmer, die Treppe hinunter und zu der alten Holztür, die in den Keller führte. Die hölzerne Kellertreppe knarrte laut, als er sie, in seinem Schlafanzug, hinunterstieg. Damals hatte Matt Todesangst. Obwohl er gerne seine Eltern wiedergesehen hätte. Seine Neugier war stärker als Angst und so ging er weiter und entdeckte im Mondlichtschimmer einen großen Käfig auf einer Seite des Kellers. Erst dachte er sein Onkel hält sich dort irgendein seltsames, wildes Haustier. Doch als er sah, was dort wirklich verborgen war, traf es ihn wie ein Schlag und er fing an zu schreien. Das Wesen wurde ängstlich oder wütend, denn es sprang wild von einer Seite des Käfigs zur anderen, kletterte wie ein Affe die dicken Eisenstangen hoch, um kurz darauf wieder runterzufallen. Kein Wunder, dass der Lärm den Rest des Hauses geweckt hatte und plötzlich standen Onkel und Tante hinter dem kreischenden, vor Angst gelähmten Junge. Und als Matt ihre Wut erkannte, wusste er nicht mehr wo es sicherer war. Im oder außerhalb des Käfigs. Die Strafe, die er für seine Neugier erntete, berechtigte diesen Zweifel.
Fünf Tage und Nächte war er in seinem Zimmer eingesperrt. Ohne etwas zu Essen und zu Trinken. Selbst auf Toilette durfte er nicht gehen. Zu diesem Zweck stand ein großer Eimer im Zimmer. Tante Jane ging auch sicher, dass keine einzige Lichtquelle im Zimmer zurückblieb. Sämtliche Glühbirnen drehte sie raus.
Tagsüber fand er es gar nicht so schlimm im Zimmer eingesperrt zu sein. Abgesehen von dem Hunger den er dabei verspürte und dem unangenehmen Geruch, der langsam aus dem Eimer in die Raumluft überging. Aber sobald es dunkel wurde begann die Angst. Jede Nacht Schreie. Gequälte Schreie. Angstschreie. Erst glaubte er sie seien vom Käfigwesen. Doch nicht nur. In der dritten Nacht hörte er eine kreischende junge Frau. Verzweifelt versuchte Matt den Schreien ein Ende zu bereiten und hielt sich die restlichen Nächte die Ohren zu.
Nachdem er die Strafe abgesessen hatte, sprachen die Tyrannen des Hauses kein Wort mehr mit ihm. Sie behandelten ihn wie ein Tier. Gaben ihm nur was er brauchte und passten auf, dass er nicht abhaute. Die darauffolgenden Nächte waren keine Schreie mehr zu hören. Und als Matt einen unauffälligen Blick auf die Kellertür warf, konnte er das große Vorhängeschloss erspähen, dass ihm den Weg in den Keller versperren sollte.
Matt bekam schwere Depressionen. Noch vor kurzem war sein Leben in Ordnung. Er hatte Spaß, hatte Freunde und liebende, sorgende Eltern. Mit einem Unglück hatte sich dies zu einem Alptraum entwickelt. Er war zehn Jahre alt und machte sich schon Gedanken, wie er sich am schnellsten umbringen konnte. Schnell hatte er den Entschluss gefasst ein Jagdgewehr seines Onkels zu benutzen. Aber zuvor musste er noch etwas erledigen. Seine Neugier befriedigen.
In der Nacht, in der er schließlich alle Ängste überwand, regnete es und ein starker Wind wehte um das Haus. Er war die ganze Nacht lang auf seinem Zimmer gewesen und lauschte dem Geschehen im Haus. Erst spät in der Nacht wurde es ruhig und entschlossen verließ er sein Zimmer.
Durch die Kellertür war ihm der Weg versperrt, so dass er das Haus verließ und sich einem der kleinen Fenster am Boden widmete. Dicke Wassertropfen prallten auf seinen Kopf und liefen ihm in die Augen. Kräftig drückte Matt gegen das Kellerfenster. Ein wenig zu kräftig, denn als das Fenster sich öffnete, fiel er überrascht nach vorne und landete hart auf dem Steinboden des dunklen Kellers. Diese Nacht war besonders finster und kein Licht verlief sich dort. Geschockt drückte sich Matt nach hinten und setzte sich zitternd an die Wand. Er hatte starke Angst. Sah es in dem Keller genauso aus wie das letzte Mal, oder hatte sich etwas verändert? Er fing an zu weinen.
"Wer... wer... ist da?"
Matt zuckte zusammen. Wer hatte das gesagt? Die Stimme klang rauh und kratzig.
"Du bist doch der Junge von letztem Mal. Hast mir Angst gemacht."
Matt schwieg.
"Mama hat mir dann gesagt wer du bist."
Mama?
"Mama?", fragte Matt verwundert.
"Klar. Du kennst sie doch. Deine Tante."
Tante Jane hatte keine Kinder.
"Mein Name ist übrigens Gary.", sagte die rauhe Stimme, die Matt plötzlich als beruhigend empfand.
"Ich heiße Matt."
"Hallo Matt." Die Kreatur grunzte leise. Doch Matt wusste es war ein Kichern.
"Hallo Gary." Matt kicherte auch.
Matt war nicht mehr er selbst. Doch er erkannte nicht welch mächtiger Bann nun zwischen Gary und ihm bestand. Ein Zauber. Ein Fluch, der für immer halten sollte.
So gerieten auch die seltsamen Schmerzensschreie aus vergangenen Nächten in Vergessenheit und Matt reichte seinem neuen Freund eine Brechstange. Obwohl Gary recht schwach wirkte, brach das Vorhängeschloss schnell und Matt hörte schleifende Schritte näherkommen.
"Ich danke dir. Aber wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren. Wie müssen hier weg." sagte Gary auffordernd und hob den fast halb so großen Jungen aus dem offenen Kellerfenster, um kurz darauf zu folgen. Glücklicherweise prallte der starke Regen noch immer laut auf den Erdboden, so dass kein Licht im Haus angegangen war. Dennoch drängte Gary von dort wegzukommen und nahm Matt auf seine Arme. Mit unglaublicher Geschwindigkeit rannte er Richtung Wald und sie verschwanden völlig im Schwarz der Nacht.
Die Flucht stoppte dort, wo Gary und Matt auch nach fast sieben Jahren noch aufeinandertreffen würden. Im Wasserturm. Jede Nacht in diesen sieben Jahren besuchte Matt seinen Freund. Er musste es tun. Konnte dem Bann nicht entfliehen. Brachte ihm Essen und passte auf, dass Tante Jane und Onkel Henry ihn nie wieder in die Finger bekommen würden. Es stellte sich heraus, dass sie Gary schon seit seiner Geburt im Käfig hielten und ihn auf irgend etwas vorbereiteten. Gary wusste nicht auf was.
Matt schaffte es nach der ersten Nacht unbemerkt ins Bett zurückzukehren. Am nächsten Tag gab es jedoch großes Geschrei im Haus. Er kam jedoch nicht in Verdacht. Tante Jane glaubte Gary sei durch eigene Kraft geflohen und sie bekam solche Angst, dass sie sich nur noch selten aus ihrem Zimmer begab. Ebenso wie Onkel Henry, der scheinbar nie das Zimmer verließ.
"Ich muss dir was erzählen, Matt." sagte Gary, während er wieder in der dunklen Ecke, im Inneren des Wasserturms, verschwand.
Matt hatte gleich geahnt, dass etwas nicht stimmt. So ruhig und verschlossen war Gary nur, wenn ihn etwas bedrückte.
"Was gibt's?" fragte Matt in mitleidigem Ton und setzte sich auf einen Steinvorsprung, einige Meter von Gary entfernt. Man durfte ihn nicht bedrängen, wenn er Probleme hatte. Dass hatte Matt mittlerweile gelernt.
"Wollte es dir eigentlich nicht erzählen. Aber ich kann nicht mehr." Gary wirkte zugleich traurig und aggressiv. "Papa hat mich vor einigen Tagen besucht."
Matt zuckte zusammen. "Wie... was...?" Hatte Onkel Henry keine Angst gehabt?
"Du hättest ihn sehen müssen, als er mir begegnete. Er hatte einen Ausdruck in den Augen, der mich alle Wut vergessen lies. Er sah so schwach und alt aus." fuhr Gary fort.
Matt hatte den plötzlichen Schock überwunden. "Was wollte er?"
"Er kam um sich zu entschuldigen und um mir einige Dinge zu erklären, die dich bestimmt auch interessieren." Gary holte kurz tief Luft. "Er ist nicht mein Vater."
"Wie? Wer ist es dann? Das kann doch nicht sein.", entgegnete Matt aufgeregt.
"Er wusste selbst nicht wer mein echter Vater ist. Doch er hat mir noch mehr erzählt." Wieder schnappte er nach Luft. "Was hältst du von Mama?"
"Nichts. Aber ich hab sie auch schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen." antwortete Matt und bemerkte die Wut die langsam in Gary aufstieg. Die sich in seinem Gesicht und seiner Anspannung bemerkbar machte.
Gary grunzte leise. "Sei froh. Sie ist nicht mehr die alte Frau von damals. Sie ist was ich auch bin."
"Woher weißt du das?" wollte Matt aufgeregt wissen.
"Sie kam gerade, als dein Onkel wieder gehen wollte... und hat..." Gary schwieg.
"Was hat sie?"
Langsam hob Gary die Hand und deutete auf die gegenüberliegende Wand. Matt knipste eilig die Taschenlampe an.
Gary versuchte wegzusehen. "Sie hat ihm jedes Körperteil einzeln ausgerissen. Ich wollte es verhindern, aber... ich hatte Angst."
Matt schaffte es nicht seinen Blick von dem blutigen Fleischhaufen, der dort auf dem Boden lag, zu lösen. Sollte er Trauer verspüren? Nein, nur Verwunderung. Was war Tante Jane?
Plötzlich fing Gary an laut zu schreien. Ein tiefer, alles verzehrender Schrei, der Matt hochschrecken lies.
"Jetzt habe ich keine Angst mehr.", sagte Gary und stand auf, um schnell im Dunkel des Tunnels zu verschwinden. Kurz verweilte Matt noch allein im Wasserturm. Doch als ihm klar wurde, dass er seinen Freund nicht alleine lassen konnte, rannte er ihm eilig hinterher.
Wieder ertönte ein Schrei. Gary war schon im Wald und nichts lies Matt daran zweifeln, dass sein Freund Rache üben würde.
Als Matt das Haus erreichte, stand Gary auf dem Rasen des Vorgartens und blickte zu Tante Janes Fenster hinauf. Ein weiterer seiner Schreie durchdrang die Nacht. Tante Jane war bereits wach. Licht brannte im Zimmer und ihr Schatten war eindeutig hinter dem Vorhang zu sehen.
Noch ein Schrei. Dieses Mal jedoch nicht von Gary, obwohl die tiefe Tonlage übereinstimmte. Matt rannte zu seinem Freund. Weitere Lichter gingen im Haus an und Matt folgte Tante Janes Schrei bis in die Eingangshalle. Mit einem lauten Knall zerberstete die Eingangstür und das Wesen, in das Tante Jane sich verwandelt hatte trat nach draußen. Es sah aus wie Gary. Nur die bläuliche Färbung der Haut wirkte etwas dunkler.
Matt musste mit ansehen, wie diese beiden Wesen sich entgegen rannten und mit enormer Kraft aufeinander prallten, um in einen letzten, alles entscheidenden Kampf zu treten. Kurz sah Matt noch zu. Doch dann bemerkte er, dass etwas fehlte. Etwas wichtiges. Gary war nicht sein Freund. Auch nicht Tante Jane. Niemand war sein Freund. Verbittert lief er ins Haus. Kurz bevor er den Abzug des antiken Jagdgewehrs, dass er von unten auf seinen Kopf gerichtet hatte, betätigte, ergab für ihn alles ein Bild.