Bambi
Bambi:
Lars fuhr auf der Landstraße in seinem alten Polo. Er fuhr recht schnell – über dem Tempolimit – aber die Sicht und Strecke war gut. Da waren nur er, die Straße und die dichten Bäume rechts und links, durch die gelegentlich Lichtstrahlen fielen. Er musste an seine Fahrprüfung denken und an all die Sachen, die er dafür hatte lernen müssen. Wildwechsel. Dachte er und kicherte. Hier war kein Wild. Höchstens die ein oder andere Maus, und die würde keine Gefahr darstellen. Auch von Nebel war nichts zu sehen. Das alles hatte er lernen müssen. Es fiel ihm leicht. Lernen war eine seiner Stärken, und so hatte er sich auch nie Gedanken gemacht wegen des Führerscheins. „Das dauert nur einen Monat“, hatte er sich gesagt, und es immer weiter aufgeschoben. Jetzt, nach Ende seines BWL Studiums, hatte Lars Zeit genug. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. Die Sicht war klar und die Strecke frei. Er sah in den Rückspiegel. Auch da nichts. Er überlegte, wann er das letzte Auto gesehen hatte. Das musste kurz vor dem Ortsausgang gewesen sein. Vor ungefähr einer halben Stunde. Als Lars darüber nachdachte, fiel ihm auf wie allein er hier war, und schaltete das Radio ein. Werbung. Er seufzte und schaltete weiter. Doch die Musik, die lief, war nicht besser als Werbung. Eine Weile fuhr er in Stille, nur das gleichmäßige Rauschen der Straße erfüllte den Wagen. Beklemmt schaltete Lars erneut das Radio ein, in der Hoffnung auf bessere Musik. Es empfing ihn jedoch nur die monotone Stimme eines Radio Sprechers: „Und Vorsicht auf der Strecke zwischen Bücksdorf...“ er wurde aufmerksam. Bücksdorf war das 500 Seelen Dorf, in dem er geboren war, und in das er jetzt zurückgezogen war. Er war in ein Loch gefallen, zwischen Studium und Beruf, hatte sich nicht rechtzeitig um einen Job gekümmert und musste deshalb zurück ins Dorf, das er so hasste. Deshalb war er jetzt auf dem Weg nach „… Hannover. Hier ist ein Unfall vor der Ausfahrt Schleenstein.“ Richtung Hannover? Dahin war er grade unterwegs. Aber Schleenstein war noch eine Weile hin. Trotzdem löste diese Nachricht etwas in ihm aus, und er nahm den Fuß leicht vom Gas. Lars betrachtete die Schönheit der Umgebung. Die dichten, bemoosten Bäume, die Farne die den Boden bedeckten. Und Bambi, das auf der Fahrbahn stand. Große braune Augen, die ihn scheu aber neugierig anstarrten. Eine feuchte Stupsnase und formschönes Fell. In dem Bruchteil einer Sekunde, der sich anfühlte wie Minuten, betrachtete Lars das Reh in all seiner Schönheit. Dann zuckte er zusammen, als wäre er in die Tiefe gefallen, die sich kurz vor dem Einschlafen unter einem öffnet, und drückte Kupplung und Bremse durch, wie er es in der Schule gelernt hatte. Er presste die Hände gegen das Lenkrad und kurz vor den Aufprall sah er, wie das Reh Richtung Abhang hüpfte. Trotzdem krachte es. Er wurde in seinem Gurt nach vorne geworfen und der Wagen drehte sich mit der Hinterachse, und kam quer auf der Straße zum Stehen. Lars blinzelte ein paar Mal. Für einen Moment war es absolut still. Er hielt den Atem an. Dann leerte seine Lunge in einem langen, geschrienen „Scheiße“. Er zitterte leicht, als er den Sicherheitsgurt löste und die Tür öffnete. Beim Aufstehen knickte er fast ein, seine Beine waren wie Gummibären. Aber nicht die gelben, die mag ich nicht, dachte er und kicherte. Es war ein leeres Kichern, dass sich schauerlich von der Szene abhob. Er ging vorne um sein Auto und sah Bambi. Ausgestreckt auf der Fahrbahn. Eine Blutlache hatte sich um das Reh gebildet, das 5 Meter entfernt vom Auto lag. Lars ging einige Schritte auf das Reh zu, dann stutzte er und blieb stehen. War das Reh nicht viel größer als Bambi? Seltsam. Er ging näher ran und betrachtete das Tier. Es war Bambi ähnlich, aber war größer und nicht annähern so schön, vor allem war der Bereich um den Hals herum von rostbraunem Blut verklebt. Und die Öffnung in der Kehle hatte Bambi auch nicht. Wo bei diesem Exemplar ein klaffendes, rotes Loch war, hatte Bambi einen anmutigen Hals. Komische Wunde, dachte Lars. Aber vielleicht war ein Stück von der Karosserie abgesplittert. Dann kam es Lars in den Sinn: dies war die Mutter von Bambi. Erschossen von einem Splitter. Er verzog das Gesicht über die Situation. Vielleicht hatte er beide erwischt, dachte er und musste unwillkürlich kichern. Bei seinen Videospielen war es ihm recht, wenn er zwei auf einmal erwischte, aber Bambi hätte er da gerne aus dem Spiel gelassen. Nun stand er da, auf halben Wege zwischen dem Auto und dem toten Reh. Trotz der traurigen Situation, konnte er sich das Lachen nicht verkneifen, als er an eventuelle Bonuspunkte dachte. Sollte er unter dem Auto nachschauen und dort möglicherweise den verdrehten und geschändeten Körper Bambis entdecken, der unter seinem Auto verteilt war? Er musste wohl, sagte er sich und ging auf alle Viere. Er holte kurz Luft und blickte dann unter seinen VW. Vorne war kein Reh. Aber etwas lag an seinem linken Hinterreifen. Was es war, konnte er jedoch nicht erkennen. Also stapfte er mit nun etwas sichereren Schritten um sein Auto. Da traf es ihn wie ein Zug: Sicherung der Unfallstelle. Scheiße. Es war ihnen rauf und runter gepredigt worden, und doch hatte er es vergessen. Was soll's, dachte er schulterzuckend, ist gleich noch genug Zeit. Als er an der Fahrertür vorbeitrat sah er etwas. Unter dem Hinterrad ragte ein Körper heraus. Nicht Bambi. Sondern ein Mensch. Lars keuchte und segnete dann den Asphalt mit dem Nudelauflauf, den er zu Mittag hatte. Er stützte sich mit der Hand am Wagen ab während er sich ein zweites und drittes Mal übergab. Seine Augen füllten sich mit Tränen, Teils wegen der Magensäure, Teils wegen dem Anblick. Man konnte nicht viel sehen. Nur ein paar Beine in einer Jeansschlaghose, die hinter dem Kotflügel endeten. Einige Momente vergingen, bis Lars sich wieder gefangen hatte. Gegen alle Stimmen in seinem Kopf ging er weiter auf das Hinterrad zu. Sein neuer Anblick war schlimmer als erwartet. Unter dem Reifen lag eine Frau. Ihr blondes Haar hing über die Schultern und war ebenso mit Blut verkrustet wie das von Bambis Mama. Ihr gesamter Oberkörper war grade mal so dick wie ein Taschenbuch. Zu ihren Seiten quollen Organe aus ihr raus. Die Stelle wo der PKW sie überrollt hatte, war deutlich zu erkennen. Ihre Arme lagen schlaff neben ihr und ihre toten Augen in dem Kopf auf dem Hals, aus dem ein Stück fehlte, starrten ihn kalt und schwer an Lars schnappte nach Luft. Seine Beine gaben nach. Der Würgereflex setzte wieder ein und bittere Galle schoss ihm die Kehle hoch. Erneut stiegen ihm die Tränen zu Augen und er ließ sich zur Seite rollen, und lag zusammengekauert neben der Frau und weinte. Sein Kopf war leer. Sein Magen auch. Dafür war sein grüner Sweater voll mit Kotze, die sich farblich gut eignete, um den Sweater zu dekorieren. Dann hörte er etwas durch sein Weinen. Ein Klacken wie von Anzugschuhen. Zunächst war es ihm egal, es schien aus weiter Entfernung zu kommen, doch es kam näher und wurde lauter. Lars blinzelte durch die Tränen hindurch, sah den bewölkten, blauen Himmel und die braunen Augen Bambis, die ihn anschauten. Er blinzelte noch ein paar Mal Weile. Er wollte grade den Mund aufmachen, da tat Bambi dasselbe. Der geöffnete Kiefer schnappte vor und auf Lars zu. Er würgte einmal und beobachtete verdutzt, wie sein Blut im Rhythmus seines Herzens aus seiner Lunge spritzte, und Bambi, das vor ihm stand, seine Kehle im Mund und Blut auf der Stupsnase.
Zurück blieb eine harmonische Stille. Lars‘ alter Polo. Der Ford der Frau, der den Hang heruntergerollt und zwischen den Bäumen verschwunden war. Und Bambi, das zwischen den Körpern her hüpfte, während es auf das verheißungsvolle Rauschen eines weiteren, herannahenden Autos wartete.