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Bambam - Meine kleine Welt
Diese Welt ist verwirrend.
Ja, es ist wahr, jeden neuen Tag entdecke ich wieder irgendetwas, das ich nicht verstehe, oder das schlicht nicht zu begreifen ist. Und dabei handelt es sich nicht um so profane Probleme wie die Frage, warum Verpackungen grundsätzlich nicht dort aufgehen, wo 'Hier öffnen’ steht, warum Frauen immer zu zweit auf die Toilette gehen oder warum die Schlange vor der anderen Kasse im Supermarkt jedes Mal schneller ist als die eigene. Nein, was ich meine sind die wirklich essenziellen Fragen des Lebens wie: Wozu bin ich eigentlich in dieser beschissenen Welt? Hat mein verkorkstes Leben einen Sinn, und, wenn ja, wie finde ich ihn? Was ziehe ich heute Abend an, damit ich endlich auch mal wieder eine Frau abschleppen kann?
Ja, sowas geht mir den ganzen Tag im Kopf herum, und wenn ich meinen Eltern und Freunden trauen kann, sind es eben diese Dinge, die mich davon abhalten, mein Leben in den Griff zu bekommen. Aber ich habe es inzwischen aufgegeben, ihnen zu trauen, denn wenn ich das täte, müsste ich einsehen, dass ich genaugenommen nur schwer lebensfähig bin und mehr Probleme und schlechte Eigenschaften habe als man in einem Leben, wenn wir mal von knapp achtzig Jahren ausgehen, bewältigen kann. Es fängt damit an, dass ich zu viel rauche und mir zu wenig Gedanken um meine Zukunft mache und hört damit auf, dass ich mich zu wenig anpassen kann und unfähig bin, begonnenen Dinge konzentriert zuende zu führen. Zwischendurch kommt dann noch, dass ich die falsche Musik höre, mich überhaupt ungesund ernähre, nicht konsequent genug bin und je nach Tagesform zu viel oder zu wenig nachdenke. Wenn ich das alles glauben würde, könnte ich mich auch gleich erschießen, denn dann wäre ich ja eh ein hoffnungsloser Fall, und somit habe ich es prinzipiell aufgegeben, mir von anderen gute Ratschläge einzuholen. Ein weiteres Problem von mir ist, vielleicht resultiert es aber auch aus meiner mangelnden Konsequenz, dass ich unsicher bin und zu sehr auf andere höre, und somit denke ich dann doch wieder zu viel darüber nach, was ich wohl alles falsch mache und wie ich es ändern könnte. Das wiederum führt dann wieder dazu, dass ich zu sprunghaft bin und Dinge nicht zuende führe, und ich glaube, ihr könnt euch so langsam vorstellen, in welchen Teufelskreis ich mich immer wieder begebe.
Ach, apropos vorstellen, vielleicht sollte ich mich auch erst einmal vorstellen, zumindest könnte das ganz hilfreich sein. Also meine Eltern gaben mir vor nunmehr vierundzwanzig Jahren den wohlklingenden Namen Robert, und bis heute haben sie sich bei mir noch nicht für diese Schandtat entschuldigt. Im Laufe meiner Schulzeit wurde aus Robert irgendwann Robby, und später dann auch mal Rob, aber nichts davon wollte so recht zu mir passen, und so nennen mich die meisten meiner Freunde heute nur Bambam, was wohl einerseits eine nette Umschreibung für Ballaballa ist, andererseits auch auf die Technobeats anspielen könnte, mit denen ich mir jedes Wochenende einige Gehirnzellen wegpuste, aber das ist eine andere Geschichte. Nach der Schule, die für mich immer nur eine Erfindung war, die dazu diente, friedlebende Menschen zu quälen und mit unnötigem Wissen vollzustopfen, absolvierte ich brav meinen Zivildienst und begann dann ebenso brav ein Studium, doch schon bald fand ich heraus, dass der Unterschied zur Schulzeit hierbei sehr gering bis undefinierbar und das Wissen noch abstruser war. Folglich erinnerte ich mich an den schlauen Satz, dass man nur durchs Leben lerne und stürzte mich kopfüber in selbiges. Es könnte natürlich auch sein, dass daran eher die Bauchlandung bei den ersten Klausuren Schuld war, aber ich will ja nicht kleinlich sein. Auf jeden Fall brach ich also sehr zum Leidwesen meiner um meine berufliche Zukunft besorgten Eltern mein Studium ab und sah mich auf den freien Arbeitsmarkt um, wer mich denn wohl mit offenen Armen empfangen würde. In diversen Bewerbungsgesprächen wurde mir schnell klar, dass offene Arme scheinbar ebenso eine Illusion sind wie Milchtüten, die sich öffnen lassen, ohne dass man dabei die Hälfte des Inhalts über den Küchenfußboden verteilt, und so landete ich schließlich in einer kleinen Videothek, in der ich fortan Videokassetten und DVDs zurück in die Regale ordnen durfte, dafür aber immerhin eine Art Hungerlohn und obendrein noch die Möglichkeit, Filme gratis zu sehen, bekomme. Da ich schon als Kind fernsehsüchtig war und es meinen Eltern noch nach dem Abitur schwer fiel, mir auszureden, nach Hollywood zu ziehen, ist das immerhin eine kleine Entschädigung für eine rosige akademische Zukunft, und wenn man sich ein wenig einschränkt, kann man davon sogar leben.
Mein Alltag sieht also so aus, dass ich mich morgens so gegen zehn Uhr aus dem Bett quäle, mich kurz darüber ärgere, nicht doch weiter studiert zu haben, weil ich dann nämlich noch zwei Stunden länger hätte schlafen können, und dann den Tag in guter Gesellschaft mit Bruce Willis, Sandra Bullock, Cameron Diaz oder Robert De Niro verbringe, bevor ich abends wieder nach Hause gehe und meistens von einem besseren Leben träume. Ja, bei Bruce und Sandra und Cameron ist immer alles einfach, und es gibt immer ein Happy End, aber ich heiße nun mal nicht De Niro, und bei uns Normalsterblichen hat das Leben leider die unangenehme Eigenschaft, immer genau so zu verlaufen, wie man es sich am wenigsten wünscht. Ich weiß ja nicht, wie es bei euch ist, aber da ich vermute, dass auch ihr weder Willis noch Bullock heißt, schätze ich, ihr kennt das Gefühl, morgens nach einer durchgezechten Nacht verschlafen in die Küche zu schlurfen, die Kaffeedose zu ergreifen wie einen Rettungsring, mit letzter Kraft den Deckel zu öffnen und euch ausgerechnet dann im Bodenblech zu spiegeln. Ich frage mich in solchen Momenten immer, was schlimmer ist; dass der Kaffee alle ist, oder der Anblick des eigenen Spiegelbildes, aber ich glaube, ich schweife vom Thema ab. Besser wird mein Leben dann erst am Wochenende, wenn ich unterwegs bin, alle Discos in der Umgebung unsicher mache, bis zur Erschöpfung tanze und dabei das Gefühl habe, ich könnte so in meine eigene Welt, die nur aus Melodien, Beats, Kunstnebel, Friede, Freude und Eierkuchen besteht, abtauchen und bräuchte nie wieder zurückkehren in das, was sich Realität nennt, und wo Drogen verboten, die Musik von Modern Talking aber erlaubt ist. Kurzer Rede langer Sinn, wenn ich zu guter Musik tanzen darf, blühe ich richtig auf, sogar noch mehr als wenn ich in einem guten Film versinke, nur leider hat beides die unangenehme Eigenschaft, nach dem Abspann beziehungsweise nach dem Sonntag unweigerlich vorbei zu sein.
Der Job in der Videothek ist im Grunde das beste, was mir passieren konnte, denn auch, wenn es nicht gerade die blühendste Zukunftsaussicht ist, so sorgt er zumindest dafür, dass ich einen geregelten Tagesablauf habe und nicht vollkommen in meiner eigenen Welt versinke. Noch dazu ist er besser als die Jobs, die ich bisher hatte, es waren zugegebenermaßen nicht viele, so dass ich mich nicht unbedingt als der große Durchblicker hinstellen möchte, aber immerhin habe ich mich früher in den Schulferien bei einem Sklaventreiber und Kioskbesitzer verdingt, dann habe ich mal einen Nebenjob in einem Plattenladen angenommen, den ich aber aufgeben musste, weil meine Vorstellungen von guter Musik oft mit denen der Kunden kollidierten und ich mich vehement geweigert habe, CDs von Wolfgang Petry und ähnlichen Volksverdummern zu verkaufen, und dann habe ich während des Studiums noch in einer Buchhandlung gearbeitet, was allerdings auch nicht gerade eine Erfüllung war. Jetzt in der Videothek wird mir nicht dauernd gesagt, was ich zu tun habe, meine Hauptaufgabe besteht darin, Ordnung zu schaffen und Kunden behilflich zu sein, wobei ich endlich einmal von den Errungenschaften einer fernsehsüchtigen Kindheit profitieren kann. Es ist ja ganz merkwürdig, aber während die Kunden von Buchhandlungen oft pikiert reagieren, wenn man ihnen mehr über einen Schriftsteller oder ein Buch sagen kann als sie selbst wissen oder sich wie Geier auf jeden Fehler stürzen, den man im Verkaufsgespräch macht, sind die Kunden von Videotheken meist dankbar, wenn man ihnen etwas über den Film, den sie leihen wollen, erzählt und fallen einem, zum Glück nur bildlich gesprochen, um den Hals, wenn man versucht, ihren Geschmack zu treffen und Empfehlungen auszusprechen. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Leute, die einen Film sehen wollen einfach nur auf gute Unterhaltung aus sind, und die Menschen, die Bücher lesen, dies oft nur tun, weil sie glauben, man müsse ein Buch gelesen haben, um mitreden zu können und sich in den Schleier von literarischer Bildung zu hüllen. Aber ich weiß es nicht genau, und es gehört vielleicht auch nicht hierher, denn schließlich wollte ich ja etwas über mich und nicht über andere Leute erzählen. Aber genau das war eben auch damals in der Buchhandlung mein Problem, dass ich nämlich viel zu viel rede und damit vielen auf den Keks gehe, da schließlich nur die wenigsten interessiert, was ich zu sagen habe. Und auch in dem Punkt denke ich, dass das daran liegt, dass ich ein Niemand bin, denn wenn ich tatsächlich De Niro heißen würde, oder wenigstens Dieter Bohlen, würdet ihr vermutlich den ganzen Tag lang an meinen Lippen hängen, egal, ob ich nun etwas zu sagen habe oder nicht. Zum Glück haben aber die Kunden in Videotheken immer alle eines gemeinsam, nämlich dass sie eigentlich einsam sind, nichts zu tun und Langeweile haben. Sie hören sich also oft nicht nur geduldig mein Gelabere an, sondern sind froh, dass endlich jemand mit ihnen spricht und sie mal auf andere Gedanken bringt. Sicher gibt es auch Ausnahmen, aber mal ehrlich, wenn jemand nicht gelangweilt wäre, würde ihm doch etwas besseres einfallen als sich einen Film auszuleihen, der sowieso schon dreimal im Fernsehen lief, oder er würde wenigstens ins Kino gehen.
Soviel also erst mal zu meiner Arbeit, auch wenn mir dazu noch etliche Geschichten einfallen würden, aber ich wollte mich euch schließlich vorstellen, und zum Glück ist bei mir der Job nicht das einzige, was mich charakterisiert, denn solche Menschen gibt es ja leider auch viel zu viele. Aber meiner Meinung nach kann eine Arbeit nur ein Mittel sein, um Geld zum Leben zu verdienen und nicht der Lebensinhalt selbst. Ich will damit ja gar nicht sagen, dass ich etwas gegen diejenigen habe, die vollkommen in ihrer Arbeit aufgehen, nein, im Gegenteil, ich bewundere Menschen, die für sich ein Ziel und einen absoluten Weg gefunden haben, nur ist das bei mir nicht so, und ich bin ehrlich gesagt auch froh, dass ich mich noch nicht so festgelegt habe, denn solange man noch auf der Suche ist, erlebt man einfach mehr. Andererseits ist es oft auch schade, wenn man sich eingestehen muss, dass man seine wahren Fähigkeiten noch nicht entdeckt hat, weil man sich dann immer fragen muss, ob da überhaupt welche existieren, und die ewige Sucherei macht einen auf Dauer auch nicht glücklich, oder meint ihr nicht? Also meine Exfreundin sagte mir immer, in mir schlummere ein Genie, es würde nur nicht wach werden. Ich bin mir heute zwar nicht mehr ganz sicher, ob sie das wirklich als Kompliment gemeint hat, aber immerhin ist es tröstlich, dass überhaupt etwas in mir schlummert. Bevor ich nun aber noch weiter vom Thema abkomme, erzähle ich euch lieber etwas über meine Hobbys beziehungsweise über das, womit ich meine Freizeit so sinnlos ausfülle. Wie schon gesagt ist das wichtigste für mich die Musik, weshalb auch abends zuhause der erste Griff meinem CD-Player gilt. Ich glaube, ohne Musik könnte ich gar nicht leben, der Beat des Techno ist für mich genauso wichtig wie mein Herzschlag oder aber das rhythmische Atmen. Darum ist es auch kein Wunder, dass meine Bude über und über mit Platten, CDs und Tapes vollgestopft ist, und die Boxen der Musikanlage stehen natürlich so, dass sie den ganzen Raum beschallen können. Wenn ich abends heimkomme, liegt die Fernbedienung schon auf der Kommode unter meiner Garderobe, so dass ich sofort Musik anmachen kann, denn ohne geht es einfach nicht. Also ihr müsst euch das so vorstellen, ich komme vom Treppenhaus in die Wohnung, die sich übrigens in einem Altbau nicht weit von der Innenstadt und somit auch nicht weit von meinem Arbeitsplatz direkt unter dem Dach befindet. Genaugenommen ist es eher ein ausgebauter Dachboden als eine Wohnung und daher im Sommer manchmal ziemlich heiß, aber ich finde es urgemütlich hier, gerade wegen der verwinkelten Ecken und der vielen Schrägen. So richtig lässt sich mein Zuhause nicht beschreiben, aber ich denke, es passt zu mir. Also erst mal ist es nicht besonders schön, dafür aber geräumig und gemütlich, außerdem ziemlich billig, die ganze Wohnung besteht nur aus einem einzigen Raum, nur die kleine Küche und das noch kleinere Badezimmer sind abgetrennt, ansonsten steht in einer Ecke mein Bett, in der anderen ein Sofa, zwei Sessel, ein Tisch und natürlich der Fernseher, an den beiden Wänden ohne Schräge habe ich einmal meinen Kleiderschrank und einmal eine Regalwand aufgebaut, überall wo Platz ist stehen kleinere Regale voll mit CDs, Videos oder Büchern herum, die Möbel passen genaugenommen alle nicht zusammen, die Wände sind mit Plakaten von Technoevents und anderen Dingen zugeklebt, und im Prinzip ist alles ein einziges großes Chaos. Vielen meiner Freunde gefällt die Bude überhaupt nicht, andere verbringen so oft wie möglich ihre Zeit bei mir, und im Grunde kommt es ja doch nur darauf an, sein eigenes Reich zu haben, in dem man tun und lassen kann, was man möchte. Ein weiterer großer Vorteil an der Bude ist die alte Dame, die unter mir wohnt, sie lebt allein, ist mindestens hundert Jahre alt, freut sich immer wieder über Besuch, selbst wenn ich nur komme, um mir einen Dosenöffner auszuleihen, und wenn ich ihr jeden Tag ihre Post von unten die vier Stockwerke mit hochbringe oder ihr die Einkaufstüten trage, ist sie oft so dankbar dafür, dass sie die doppelte Portion an Mittagessen kocht und ich endlich mal wieder eine vernünftige Mahlzeit bekomme. Das allerbeste aber an ihr ist ihre Schwerhörigkeit, denn dadurch hört sie trotz Hellhörigkeit des Hauses meine Musik nicht, beschwert sich nicht und ich kann ungestraft mein Trommelfell belasten.
Nun ist es aber nicht nur so, dass ich der alten Dame das Treppensteigen erleichtere, mein Essen abstaube und mich dann gedankenlos mit Musik zudröhne, ein paar mehr Inhalte hat mein Leben dann doch und dabei meine ich nicht nur die ausgeliehenen Videos. Zumindest trenne ich meinen Müll, quäle keine Tiere, laufe nicht Amok, wenn die Leute im überfüllten Bus nach Schweiß stinken, und ich bemühe mich wenigstens darum, immer so zu leben, dass ich niemandem schade. Zugegeben, das ist nicht gerade viel, und wenn ich noch länger darüber schreibe, verfalle ich noch in eine Identitätskrise, aber immerhin tue ich niemandem weh, bemühe mich, zu allen Menschen nett zu sein und meinen Freunden selbst dann unter die Arme zu greifen, wenn ich sie eigentlich lieber an die Wand klatschen würde. Überhaupt sind Freunde ja das wichtigste im Leben, zumindest dann, wenn es nichts anderes gibt, worauf man stolz sein kann. Und da ich wenigstens in diesem Punkt nicht scheitern möchte wie in so vielen anderen Lebensbereichen, versuche ich mich zumindest als guter Freund, was dann höchstens noch böswillig so ausgelegt werden kann, dass ich mich ausnutzen lasse. Ich gebe ja zu, dass ich nicht gut kochen kann und mich auch nicht wirklich zum Putzen eigne, aber einigermaßen sauber ist es bei mir schon, denn da ich ziemlich oft Freunde von mir zu Besuch habe und wir uns auch vor und nach Discobesuchen meistens bei mir aufhalten, möchte ich ja nicht unangenehm auffallen. Ich könnte euch meine Freunde jetzt einem nach dem anderen vorstellen, aber erstens wäre das langweilig, und zweitens schaffe ich es ja noch nicht einmal, mich selbst vorzustellen, und somit verschiebe ich einige erklärende Sätze über meinen Bekanntenkreis auf später.
Dass wir uns vor und nach der Disco immer bei mir treffen hat noch einen anderen Grund, es ist nämlich so, dass ich jedes Mal, wenn wir nicht gerade irgendwo hingehen, wo man zu Fuß hinkommen kann, abgeholt werden muss, weil ich nämlich keinen Führerschein habe. Nicht, weil ich zu blöd dafür bin oder weil ich zu denen gehöre, die kein Auto fahren, weil sie glauben, durch diesen passiven Widerstand unseren Planeten retten zu können, nein, ich habe es einfach früher nicht eingesehen, warum ich eine Führerscheinsprüfung ablegen sollte. Ich wohnte mitten in der Stadt, konnte alle meine Freunde zu Fuß erreichen, in die Disco fuhr man sowieso immer zu mehreren, und da unter einer Gruppe Achtzehnjähriger immer einige Autofanatiker sind, gab es in der Hinsicht nie Probleme. Warum also hätte ich die Strapazen, die die Führerscheinprüfung mit sich bringt und von denen mir damals so ziemlich jeder die schönsten Horrorvisionen erzählt hat, auf mich nehmen, habe ich mir gedacht, und später, so mit zwanzig, hätte ich gerne einen Führerschein gehabt, weil die Autofanatiker auf wundersame Weise ausgestorben waren und nun niemals fahren konnten, weil sie ja etwas trinken mussten, ja, genau, nicht 'wollten', sondern 'mussten', aber da war es mir dann zu peinlich, mit den anderen Achtzehnjährigen zusammen in der Fahrschule zu sitzen. Ich verstehe allerdings bis heute nicht, warum man, wenn man auf eine Technoparty fährt, weil man sich zu der Musik austoben will, etwas trinken muss. Ich meine, wozu soll man sich mit Alkohol benebeln, schließlich bekommst du doch auf solchen Events jede auch noch so ausgefallene und in ihrer Wirkung unberechenbare Pille. Mich sieht man jedenfalls in der Disco grundsätzlich nur auf der Tanzfläche, denn Musik ist für mich einfach das größte, zumindest wenn es gute Musik ist, und nicht dieser kommerzielle Mainstream, bei dem es nur darum geht, Geld zu scheffeln. Bei echter Musik muss es um Gefühl gehen, echtes Gefühl, und die Vibes müssen einen in eine andere Welt katapultieren, oder zumindest aber die Realität vergessen lassen. Musik ist zum Abschalten da, muss die Phantasie anregen, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Leute ohne Phantasie und Träume genauso gut tot sein könnten, weil sie ja eh nicht leben. Darum tanze ich mich also regelmäßig in Extase, vergesse dabei alles um mich herum und kann mich also an den Wochenenden richtig frei und vor allem lebendig fühlen.
Aber ich träume natürlich nicht nur beim Tanzen vor mich hin, sondern auch, wenn ich abends allein in meiner Wohnung bin, was selten vorkommt, und ab und zu auch bei der Arbeit, aber darauf wollte ich jetzt nicht hinaus. Also wenn ich alleine bin, sehe ich mir natürlich viele Filme an, weil auch die mich oft in eine andere Welt katapultieren, oder ich sehe mir die Nachrichten im Fernsehen an, die mir mit all ihren Kriegen in Afghanistan oder sonst wo, mit ihren Wirtschaftskrisen, ihren Politskandalen oder Unglücken, die überall und viel zu oft passieren, und weiß hinterher wieder, warum es so wichtig ist, sich in andere, bessere Welten zu träumen. Wenn ich mir ansehe wie oft Menschen sich gegenseitig das Leben schwer machen, nicht nur in der großen, weiten Welt, sondern selbst dann, wenn sie sich im Bus so in den Gang stellen, dass niemand mehr durchkommt und dann breit grinsen, wenn eine Mutter mit zwei kleinen Kindern völlig gestresst ist, weil sie nicht gleichzeitig sich und die Kinder festhalten kann, wenn ich sowas feststelle, und man kann es an jeder Ecke feststellen, dann schäme ich mich manchmal dafür, dieser Spezies anzugehören. In solchen Situationen setze ich mich dann zuhause oft hin, male mir aus, wie schön alles wäre, wenn das Gerede von Love, Peace und Harmony nicht nur leere Worte wären. Manchmal schreibe ich auch eigene Gedichte oder kleine Geschichten, schreibe so vor mich hin, genau wie auch jetzt, einfach nur, um meine Träume nicht nur Träume sein zu lassen, oder der Sehnsucht, etwas ändern zu können, ein bisschen Raum zu bieten. Ich habe keine Ahnung, ob das, was ich schreibe, mal jemand lesen wird, und wenn es jemand lesen wird, ob meine Gedanken dann irgendetwas erreichen, aber mir fällt es dadurch auf jeden Fall leichter, mich in der Welt zurechtzufinden, das Leben, wenn auch nur ansatzweise, zu verstehen und meiner Verwirrung Luft zu machen.