Ballettpapa
„Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.“
Ja, Tochter. Das weiß ich. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, von wem du den Spruch hast. Ich habe übrigens auch gar nicht vor, ein Versprechen zu brechen, sondern ich versuche vergeblich, dir zu erklären, dass ich es gar nicht versprochen habe. Also das mit dem Ballett. Das fiele mir nämlich nicht im schlimmsten Albtraum ein.
Sonst bin ich ja ziemlich begeisterungsfähig. Manchmal denke ich, dass das sogar meine Achillesverse ist. Aber Ballett? Ich habe gar nicht mal ein Problem damit, dass manchen Ballett vielleicht nicht männlich genug ist. In der Oberstufe habe ich als einziger Junge Rhythmische Sportgymnastik gewählt, weil nur in diesem Kurs Bodenturnen als Nebenfach in Frage kam und ich wollte doch unbedingt Flickflack lernen, weil ich das von dem Typen in „Highlander“ während der Tiefgaragenszene am Anfang so beeindruckend fand. Der hat beim Schwertkampf lauter Flickflacks gemacht, um … ja, warum eigentlich? Egal. Es war einfach cool. Klingt im Nachhinein irgendwie seltsam, dass ich, um cool zu sein, Rhythmische Sportgymnastik gewählt habe, aber mal ehrlich: ich dachte mir, ich bin der einzige Junge unter Mädchen, die sich ständig kokett mit Bändern vertüddeln. Das kann auch noch andere Vorteile haben.
Unabhängig davon lief der Sportunterricht dann aber doch ganz anders als erwartet. Gleich zu Beginn sagte die Lehrerin nämlich: „Ich weiß ja, warum ihr alle hier seid, nämlich weil ihr glaubt, dass das alles easy going ist.“ Dann klatsche sie zweimal laut in die Hände und rief: „Zirkeltraining!“
Am Ende der Stunde waren wir alle völlig fertig und ich war zusätzlich sauer auf die Lehrerin, weil sie mir mit unmissverständlichem Nachdruck nahelegte, doch einen anderen Kurs zu wählen. Natürlich erst nach der Doppelstunde Zirkeltraining! Die Gymnastikschuhe Größe 42 habe ich aber trotzdem behalten. Man weiß ja nie …
Tochter hat auch schon Ballettschuhe von Oma, die sie mir stolz präsentiert. Sie sieht also keinen Grund, warum ich nicht mit ihr zum Ballett zu gehen sollte.
Ich versuche Tochter möglichst schonend beizubringen, dass Ballett einfach idiotisch ist und sich niemand so einen Mist ansehen will. Ich tanze zwar selber gerne, aber so, wie ich das will und nicht, wie mir das irgendeine Krallowa vorschreibt. Anderen beim Tanzen zuzusehen ist für mich genauso wenig ein Genuss, wie anderen beim Essen zuzusehen. „Kommst du heute mit ins Theater? Es läuft ein Mangett. Vier Leute sitzen auf der Bühne und Essen. Es heißt ‚Schwanenbraten‘.“
Aber Tochter sagt, dass sie ja nicht zum Ballett will, um zuzugucken, sondern um selbst zu tanzen. Und wieder scheint der Volksmund recht zu haben, wenn er sagt: „Kindermund, ist noch kein Kraut gegen gewachsen.“
Dann holt Tochter auch noch ihr derzeitiges Lieblingsbuch „Pina Ballerina“. Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Tochter diesen reaktionären Mädchendreck zum Opfer gefallen ist? Ich gebe mir selbst die Schuld. Darin habe ich nämlich Übung, ich bin schließlich Deutscher. Wir haben uns so bemüht, den Propagandakram von Tochter fern zu halten, aber irgendwie haben sie es doch geschafft: Prinzessin Lillifee, Feen Filly Pferde und vor allem die rosa Mädchenelfenfeenbücher. Die hat sie sich nämlich aus der Bücherei ausgeliehen, als wir kurz nicht aufgepasst haben.
Der Gipfel der Mädchenfängerei ist dieses Buch „Pina Ballerina“. Pina Ballerina ist ein Mädchen, das unsere Welt und die der Elfen nur retten kann, wenn sie als einziges Menschenkind bei dem alljährlichen Elfenreigen mittanzt. Der dramaturgische Gehalt dieser Geschichte entspricht dem eines Pornos. Pino Knallerino ist eine Mann, die Welt nur retten kann, wenn er als einziger Mann beim alljährlichen Rudelbumsen mitmacht.
Als Tochter dann tatsächlich anfängt, mit Ballettschuhen an den Füßen die Ballettposen aus dem Buch nachzutanzen, fällt mir noch eine entscheidende Hürde ein. Ich weiß aus Erfahrung, wie schüchtern Tochter gegenüber neuen Menschen und ganz besonders gegenüber Gruppen ist. Die Situation mit den vielen fremden Menschen beim Ballett wird sie zunächst überfordern und sie wird einen Rückzieher machen. Um dem entgegenzuwirken, versprechen wir uns gegenseitig, dass ich mit ihr zum Ballett gehe, wenn sie mir verspricht, dass sie dann aber auch mitmacht.
Als Tochter und ich den Flur vor dem Ballettraum des Turnvereins erreichen, treffen wir auf eine Herde schnatternder Mamaschwäne mit je einem rosa Tutu an der Seite, in dem der dazugehörige Tochterschwan steckt. Tochter greift nach meiner Hand, zieht mich zu sich nach unten und flüstert, dass sie wieder nachhause will.
Ich hab’s ja vorher gewusst. Das verkneife ich mir, denn so ein Papa bin ich nicht. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen, sage ich bestimmt und zerre sie sanft durch die Schwanenherde und in den Raum, wo die Ballettlehrerin die Stunde vorbereitet. Trotz ihrer Schüchternheit sehe ich in Tochters Augen deutlich die Faszination für diese freundlich lächelnde und waschechte Ballerina. Wir stellen uns bei der Ballerina vor und erfahren, dass es eine Warteliste für den Mittwochskurs gibt, dass Tochter aber heute testweise mitmachen darf und dann zum Freitagskurs für Neuschwäne muss. Ich müsse aber draußen warten, dürfe höchstens noch fünf Minuten an der Tür stehen, denn erfahrungsgemäß wäre es so für die Kinder leichter.
Das leuchtet mir ein und ich erkläre Tochter, dass wir das jetzt so machen, wie die Ballerina gesagt hat. Als die Stunde beginnt, will Tochter an die Hand. Tochter will auf den Arm. Tochter will nicht mehr tanzen. Tochter will, dass ich bleibe. Papa darf nicht bleiben. Papa geht. Tochter kommt mit.
Der Unterricht läuft und ich sitze mit Tochter alleine vor der Tür auf der Bank. Alleine in einer Herde von Schwänen, die uns teils kritisch, teils ängstlich anstarren. Um sie zu beruhigen, krame ich aus meiner Tasche ein altes Brötchen hervor, gebe Tochter die Hälfte ab, und wir werfen ihnen gemeinsam ein ein paar Krümel hin.
Dann erkläre ich Tochter, dass das Ganze nur funktioniert, wenn sie auch reingeht und alleine mitmacht. Sie hätte nun die Wahl: Entweder wir gehen nach Hause und kämen nächste Woche dann auch nicht wieder zurück, oder sie geht jetzt zu den Schwanenkindern und tanzt ohne mich mit.
Ein winziger Schwan flattert durch den Flur, der sich auf Tochters Schulter niederlässt und ich höre, wie er ihr etwas ins Ohr schnattert: „Du bist doch eine ganz tolle Ballerina. Du übst doch seit Wochen so fein die Posen von Pina Ballerina, schwebst elfengleich und pirouettierend mit deinen Ballettschuhen von Oma durch die Wohnung und hast dir sogar ein Tutu aus Tesa und Altpapier gebastelt. Du willst das doch unbedingt.“
„Aber jetzt will ich gar nicht mehr“, antwortet Tochter. Ich frage sie, ob ihr das zu viele Fremdschwäne sind und sie nickt zögerlich.
„Aber du willst doch auch so eine tolle Ballerina sein. Dann musst du doch auch schön und fleißig Unterricht nehmen“, quakt der Schwan weiter auf sie ein.
„Muss ich gar nicht. Jeder bestimmt sich selbst“, sagt Tochter, und so geht das Gespräch noch einige Zeit. Der Schwan schnattert weiter und ich mache selbst völlig entnervt zweimal Anstalten, die Entscheidung für Tochter zu treffen und einfach mit ihr zu gehen. Dabei werden wir unauffällig von der Schwanenherde beobachtet. Ein besonders prachtvoller Höckerschwan, der sich ein fliederfarbenes Tuch elf Mal um den Hals gewickelt hat, verdreht immer wieder die Augen, rutscht unruhig auf der Bank hin und her und gibt entnervte Laute von sich. Schließlich lässt sich Tochter dann doch unerwartet von dem Schwan auf ihrer Schulter bezirzen und witscht durch die Tür in den Ballettunterricht.
Ich blicke mich im Kreis um und sage zu den mich anstarrenden Schwänen, dass ich mich oft über mich selbst ärgere, weil ich das Gefühl habe, dass ich viel zu ungeduldig mit Tochter bin. „Zu ungeduldig!“, platzt es aus dem Höckerschwan heraus. „Pah, ich hätte meiner Josephine schon längst …“ Der Schwan hört mitten im Satz auf, sieht meine gespannten Gesichtsausdruck und scheint plötzlich ganz dringend sein Gefieder mit dem Schnabel durchpflügen zu müssen.
Ein kleiner Singschwan bemerkt hilfreich, dass sich seine Schwanentochter bestimmt gerne mit meiner anfreunden würde und dass sie die beiden nach der Stunde bekanntmachen will. Dann würde es meiner Tochter bestimmt beim nächsten Mal leichter fallen. Ich bedanke mich und während wir ein wenig Klönschnatt betreiben, fällt mir zum ersten Mal wirklich auf, dass ich als einziger Mann unter ausschließlich weiblichen Schwänen vor der Turnhalle sitze. Die Erinnerungen kommen wieder hoch und ich klatsche zweimal laut in die Hände. Zirkeltraining! Aber keiner der Schwäne scheint die Anspielung zu verstehen. Ich versuche, die Situation zu retten und mich in den Schwarm einzugliedern, doch ernte leider nur verstörte Blicke, als ich zu diesem Zweck aus meinem Holzfällerhemd mein Strickzeug ziehe.
Nach der Stunde stürzt sich Tochter mit glühendem Kopf und voller Stolz in meine Arme. Tochter Singschwan wird ihr vorgestellt. Sie erscheint ihr zwar ein wenig suspekt, aber zumindest wechselt sie ein paar Worte mit ihr.
Nachdem ich noch ein wenig mit den Schwänen geschnattert habe und wir uns bis zum nächsten Mal verabschiedet haben, treten Tochter und ich fröhlich den Nachhauseweg an.
Mich juckt was und als ich den Ärmel des Holzfällerhemdes hochziehe, sehe ich, dass mir am Unterarm eine weiße Feder wächst. Schnell und unauffällig rupfe ich sie heraus und werfe sie ins Gebüsch. Ich frage Tochter, ob sie denn am Freitag wieder zum Ballett gehen will. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig erleichtert bin, als sie verneint.
Für ihr Ego und ihre ausgeprägten Fantasiewelten scheint der einmalige Ballettbesuch erst mal gereicht zu haben, denn Tochter tanzt weiterhin in ihrem Altpapier-Tutu durch die Wohnung und übt Pinas Posen. Und ich habe neulich im Übermut sogar meine Gymnastikschuhe reaktiviert und mitgemacht. Zum Glück muss man Büchereibücher irgendwann zurückgeben.