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- 19.06.2001
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Ballast
BALLAST
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Auferstehung
Die Auferstehung der Toten war anfangs ein regional begrenztes Ereignis und bescherte der verschlafenen Ortschaft Woodred Wood nie gekannte Einnahmequellen. Zu Hunderten wurden Touristen von der Ost- und Westküste mit Bussen herangekarrt, direkt an den neu errichteten Billighotels ausgeladen und nach einem einfachen Auswahlprinzip auf die spartanisch ausgestatteten Doppelzimmer verteilt. Um Woodred Wood herum wurden ganze Wälder zugunsten großflächiger Parkplätze gerodet. Seit tausenden von Jahren natürlich fließende Gewässer legten die Stadtoberen trocken, um die sechsspurige Autobahn möglichst ohne Umwege nach Woodred Wood zu leiten. Die Toten selbst fristeten ein Leben als ‚Die Sensation des neuen Jahrhunderts‘ in einem geräumigen Gehege, das mit Elektrozäunen abgesichert war. Als atmosphärische Verschönerung hatte das ‚Komitee in der Angelegenheit Auferstehung‘ überall verrottete Grabsteine aufgestellt, besser gesagt, man hatte die Grabsteine der Toten vom Friedhof ins Gehege überführt. Dazu gab es stilechten künstlichen Nebel und Grunzlaute aus im Erdboden installierten Lautsprechern. Die Toten hatten keinerlei Rechte, da sie rechtlich gesehen tot waren. Den hinterbliebenen Angehörigen allerdings wurden in kurzen Gerichtsprozessen sämtliche Gelder wieder abgesprochen, die der eine oder die andere durch den Tod des Ehepartners, Kindes oder Elternteils ausgezahlt bekommen hatte. Das Geschäft blühte. Der Toten-Tourismus brummte. Das Geld floss. Die Bürger Woodred Woods wurden reich, und einige noch reicher. Nach viermonatigem stetigen wirtschaftlichen Wachstums gelangte eine Hiobsbotschaft in die kleine Stadt: Auch an anderen Orten stiegen die Toten aus ihren Gräbern und wurden wie in Woodred Wood ebenfalls als rechtlose Attraktionen einer gaffenden, sensationsgeilen Meute zur Schau gestellt. Und je öfter dieses Ereignis nicht nur in den Provinzen der Staaten, sondern auch weltweit geschah, um so weniger willig Geld ausgebende Großstädter waren bereit, den beschwerlichen Weg in ein kleines Kaff namens Woodred Wood anzutreten, das irgendwo in der mittleren Mitte des Landes lag, umgeben von einer idyllischen Hügellandschaft, mit durchschnittlich zweihundertdreißig brütend heißen Sonnentagen im Jahr von der Natur beschenkt. Es kam, wie es kommen mußte: Einem Flächenbrand gleich schossen überall auf der Welt Themenparks in die Höhe, gebaut von konkurrierenden Medienkonzernen, gesponsert von den drei verbliebenden Autoherstellern, betrieben durch windige Geschäftsmänner, von denen kein einziger eine wirklich lupenreine Weste besaß.
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Erkenntnis
In Woodred Wood sah man bald ein, dass der anfängliche kommerzielle Wahnsinn, der wie aus dem Nichts über das Örtchen gefallen war, sich wohl dem Ende neigte. Und nur wenige Wochen, nachdem es sogar im eisigen Grönland einen kleinen Schneepark für Tote gab, die freilich im Gegensatz zu ihren afrikanischen oder südamerikanischen Leidensgenossen eine noch ungelenkere Gehweise besaßen, war es in Woodred Wood aus und vorbei. Mit den Toten gab es kein Geld mehr zu verdienen. Und viel schlimmer als der ausbleibende Dollar war die Frage: Was, in Gottes Namen, sollte man nun mit den unnütz gewordenen Toten anstellen, die tapsig durch das Gehege wanderten und nicht wußten, was um sie herum eigentlich geschah? Im Grunde genommen waren es arme Kreaturen. Und nach dem Ende des großen Reibachs war es den meisten Einwohnern von Woodred Wood auch scheißegal.
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Versammlung
„Wir erschießen sie einfach!“, schlug Sheriff Dumbder vor. So wie er hatten sich fast alle Einwohner in einer der vielen leerstehenden Business-Lounges in einem der vielen verwaisten Hotels eingefunden. „Wir treiben sie zusammen und machen sie einfach kalt! Mein Vorschlag jedenfalls.“ Zufrieden plazierte das Produkt einer inzestuösen Sippschaft seinen fetten, mit Pickeln übersäten Hintern auf den edlen Business-Stuhl aus Chrom.
In einer der letzten Reihen stand ein junger Mann auf, der mit seiner randlosen Brille durchaus dem entsprach, was man im allgemeinen als intelligenten Menschen bezeichnete. Der junge Mann räusperte sich. „Entschuldigung, aber das ist ja völliger Unsinn! Wie soll man etwas töten, was bereits tot ist?“ Geraune machte sich im Saal breit. „Ich meine, die Dinger da im Gehege sind tot! Wir können da nicht einfach hingehen und sie erschießen. Das ist vollkommen...“
„Dann verbrennen wir sie eben!“, unterbrach Reverend Rufus Ruffle den jungen Mann. Aus dem Geraune wurde ein zustimmendes Gemurmel. Ruffle war ein stattlicher Mann, der außerhalb seiner kirchlichen Pflichten mit vielen Frauen unzählige Kinder gezeugt und diese nach schmerzhafter Geburt in seinem Hause Gottes auf noch schmerzhaftere Weise entsorgt hatte. Meistens mit einem lapidaren „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen.“ in den Sümpfen ein paar Meilen außerhalb Woodred Woods, wo keiner jemals suchen würde. „Wir treiben sie im Gehege zusammen und verbrennen sie. Mit Feuer löschen wir das Problem!“
„Wollen Sie wirklich jeden einzelnen verbrennen? Das waren ja nicht die einzigen. Gestern ist die alte Agatha Southern aus ihrem Grab gestiegen und ziellos durch die Stadt geirrt. Eine von acht! Allein gestern!“, sagte der junge Mann leicht gereizt.
Ruffle zuckte mit den Schultern. „Und?“
„Warum geben wir denen nicht einfach etwas Land zum Leben? Die wissen doch nicht einmal, dass sie wieder... naja, auferstanden sind.“
„Aber wozu?“, fragte der Reverend mit einem spöttischen Grinsen. „Das kostet doch nur unnötige Gelder...“
„Wir haben das Gehege!“ Der junge Mann mit der randlosen Brille verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Im Gehege sind sie glücklich und zufrieden.“
James Teabone, durch das Geschäft mit den Toten zum absolut reichsten Bürger der Stadt aufgestiegen, schüttelte den Kopf, stand auf und brummte: „Unsinn! Jetzt, wo kein Geld mehr fließt, ist der Boden für uns viel wichtiger. Mit wandelnden Leichnamen darauf können wir kein Geld mehr verdienen. Aber Getreide läßt sich gut anbauen. Und den Überschuß können wir verkaufen. Die Toten sind unnützes Anhängsel. Überall auf der Welt gibt es sie. Wir können mit denen nichts mehr anfangen! Verbrennen wir sie einfach!“
„Was ist mit der Wissenschaft?“
„Junger Mann!“ Sheriff Dumbder sprang für seinen Körperbau erstaunlich schnell von seinem Stuhl auf. „Junger Mann! Mister Andrew Davidson! Die sogenannte Wissenschaft weiß bis heute nicht, warum die Toten auferstanden sind!“
„Man bemüht sich...“
„Ach, hören Sie doch auf mit dem Mist! Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Fast alle haben kräftig verdient an der Show. Und nun ist die Show vorbei. Wir sitzen auf einem Problem, welches ständig anwächst. Also, wenn erschießen nichts bringt, verbrennen wir sie! Oder was?“ Aus dem Gemurmel wurde ein händeklatschender Orkan. Es schien beschlossene Sache zu sein: Was kein Geld mehr brachte, wurde mit flammenden Mitteln aus dem Bewußtsein befördert.
Andrew Davidson jedoch gab nicht auf. „Und wenn...“ Er wartete, bis der Jubel abgeflacht war. „Und wenn wir sie für uns einspannen? Sie für uns arbeiten lassen?“ Augenblicklich war es still in der Business-Lounge. „Gleichzeitig studieren wir die Toten, versuchen mehr über das Warum zu erfahren. Und dabei lassen wir sie für uns arbeiten. Warum mühsam das Getreide ernten? Warum mühsam im Fluß fischen?“
Reverend Ruffle runzelte die Stirn. „Zugegeben, ein sinnvoller Vorschlag. Aber wozu?“
„Wozu?“ Entrüstet blickte Davidson auf die Anwesenden. „Wozu, fragen Sie?“
„Ja, wozu?“, antworte der Reverend gelassen. „Der Boom ist vorbei. Und sollen wir angesichts einer unnatürlichen Stufe der Evolution plötzlich alle entlassen, die bisher das getan haben, was Ihrer Meinung nach zukünftig unsere Toten verrichten sollen?“
„Es wäre...“
„Nein! Sie haben wohl nicht begriffen, dass jeder hier gutes Geld verdient hat, Mister Davidson. Einschließlich Sie!“
„Ich...“
„Ja, Sie! Das können Sie nicht abstreiten.“
„Ich...“
„Mit was kommen Sie mir jetzt, hm?“
„Können Sie das mit Ihrem Gott vereinbaren?“
„Was? Tote wieder tot machen?“
„Ja.“
„Selbstverständlich!“
Andrew Davidson spuckte verächtlich aus. „Sie sind ein schleimiges Arschloch!“
Reverend Rufus Ruffle lächelte gnädig und sagte: „Das mag sein, Mister Davidson. Jedoch sind wir alle hier im Saal... wie sagten Sie... schleimige Arschlöcher. Wir alle haben an den Toten verdient. Doch nun ist es vorbei. Sehen Sie keine Nachrichten? Überall auf der Welt geschieht das, was offenbar hier bei uns in Woodred Wood angefangen hat. Finden Sie sich damit ab! Es wird Zeit, wieder in die normale Realität zurückzukehren. Und deshalb sollten wir die Toten verbrennen, verdammt!“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln setzte sich Ruffle auf seinen Platz und tätschelte das verkrüppelte Knie seiner Frau. Er beobachtete, wie Davidson noch eine Weile unschlüssig auf einem Bein hin und her wippte, sich jedoch scheinbar geschlagen dann ebenfalls wieder auf seinen Stuhl setzte. Elender Scheißkerl, dachte Ruffle. Eine halbe Stunde später wurde abgestimmt, und die Verbrennung der Toten mit überwältigender Mehrheit für den übernächsten Morgen angesetzt.
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Agatha
Die verstorbene Agatha Southern stand vor dem Elektrozaun und starrte durch die engen Maschen aus dem Gehege hinaus auf die Straße. Seit Stunden berührte sie immer und immer wieder den Zaun, und jedes Mal wurde sie von dem Stromschlag durchgerüttelt. Es machte ihr nichts aus. Tote kannten keinen Schmerz. Als es dunkel wurde, fing es an zu regnen. Agatha drehte sich um und stapfte mit wackeligen Schritten auf eine große Glashalle zu, die man als Unterstand in das Gehege gesetzt hatte. Andere Tote taten es ihr gleich. Manche blieben einfach im Regen stehen. Nach und nach fanden sich fast alle Toten des Geheges in der Halle ein, standen dicht aneinandergedrängt und starrten mit teilnahmslosen, glasigen Augen zum Himmel hinauf. Milliarden Wassertropfen klatschten auf das Glasdach und vereinigten sich zu großen und kleinen Rinnsälen, die an der Kuppelwand hinabstürzten.
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Erkenntnis
Vorsichtig setzte Davidson das Rasiermesser an, um die wenigen Bartstoppel aus seinem vernarbten Gesicht zu entfernen. „Blöder Reverend!“, murmelte er leise. Die Klinge machte ein merkwürdiges Geräusch, als sie über die lederne Haut fuhr. „Wozu, fragt der mich! Wozu das alles?“ Er wusch die Klinge ab und schnitt sich dabei. „Scheiße!“, fluchte er und steckte sich den Daumen in den Mund. Zufällig sah er in den Spiegel und entdeckte einen Schatten, draußen vor dem Fenster. Erschrocken stieß Davidson einen schrillen Schrei aus und drehte sich um. „Was zum...!“ Erleichtert atmete er durch. Nur ein weiterer Toter, der aus unerklärlichen Gründen in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war. „Na? Irrst du ziellos durch die Straßen? Durch den Regen?“ Davidson legte das Rasiermesser auf den Rand des Waschbeckens und ging zum Fenster. Bei dem Toten, der im strömenden Regen ausdruckslos in Davidsons Badezimmer starrte, handelte es sich um Emmet Brown. Vor zwei Monaten war er mit seinem Wagen über das Brückengeländer geschossen und in den Fluß gestürzt. Man hatte den Leichnam Browns aus dem Wrack herausschweißen müssen, so sehr hatte der Aufprall das Fahrerhaus verbogen. „He, Emmet! Kennst du mich noch?“, fragte Davidson amüsiert den Toten. „Nein, natürlich nicht. So wie die anderen bist du nur ein totes Etwas. Und aus irgendeinem Grund haben deine Zellen beschlossen, dich noch eine Weile rumlaufen zu lassen. So vermute ich es jedenfalls.“ Emmet Brown stand einfach nur im Regen und starrte an Davidson vorbei ins Badezimmer. Andrew, durch einen vermeidbaren Unfall in seiner langweiligen Kindheit mit einem steifen Bein bedacht, drehte sich um. „Was ist denn da? Spiegel, Waschbecken... Oh, ich verstehe!“ Lachend ging er zum Waschbecken und nahm das Rasiermesser in die Hand. „Geht es dir darum, Emmet?“, fragte er. „Möchtest du es gerne haben? Hm?“ Langsam ging er wieder zu dem offenen Fenster. „Du weißt doch noch, was eine scharfe Klinge anrichten kann, hm?“ Er hielt dem toten Emmet die Klinge genau vor dessen halb verwestes Gesicht. „Weißt du, ich hab mich heute stark für dich und die anderen gemacht. Aber keiner wollte auf mich hören. Solange ihr uns Geld gebracht habt, hat man sich um euch gekümmert. Sogar eine sinnlose Glaskuppel hat man aus dem Boden gestampft, damit ihr euch unterstellen könnt. Dabei ist es doch scheißegal, ob ihr friert oder naß werdet. Nun, übermorgen wird man euch verbrennen.“ Mit der Klinge schnitt er Brown durch das Auge. Und Brown wich zurück...
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Telefonat
Das Telefon klingelte. Fluchend stieß Reverend Ruffle die Schwester seiner Frau von sich herunter. „Das gibt’s doch nicht!“ Sein kleiner schiefer Penis erschlaffte. Theresa hielt sich kichernd ihre beiden Armstümpfe vor den Mund. „Hau ab, du Hure!“, befahl der Reverend barsch. Immer noch kichernd verließ Theresa das Zimmer. Ruffle sah kurz zu seiner Frau, die neben ihm mit einem leisen Röcheln schlief, dann nahm er den Hörer ab. „Es ist mitten in der Nacht, verdammt! Was soll das?... Davidson? Was... Was? Völlig unmöglich! Sie... Sie haben was getan? Rasiermesser... Auge? Aha. Ja... Ja... Sind Sie sich da sicher, Davidson? Das Ding hat eine Reaktion gezeigt? Verdammt, das gibt’s doch nicht! Hören Sie zu! In einer Stunde treffen wir uns in der Kirche. Rufen Sie Dumbder an. Der Fettsack soll auch kommen... Das ist mir scheißegal, ob der Sheriff dabei ist, seinen verkrüppelten Hunden in den Arsch zu ficken! Ja... Das können Sie ihm wortgenau sagen! Und verständigen Sie noch diesen Aasgeier Teabone! In einer Stunde also! Ja...“ Er legte den Hörer auf die Gabel. „Großer Gott. Wir hätten sie gleich auslöschen sollen.“
„Wen?“, fragte gähnend seine Frau, die durch das laute Geschrei ihres Mannes aufgewacht war. „Wen hätten wir auslöschen sollen?“
„Die verdammten Nigger! Und jetzt schlaf weiter!“, brummte Ruffle. Dann stand er auf, ging in die Küche, trank einen nicht ganz so starken Kaffee und rauchte eine filterlose Marlboro, schlurfte barfuß ins Bad, duschte sich kurz ab, zog sich an und ging in die Kirche, gleich links neben seiner luxuriösen Villa.
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Agatha
Agatha Southern bekam einen Regentropfen ab und zuckte zusammen. Es war nicht wie bei dem Elektrozaun, wo lediglich totes Fleisch durch Stromstöße kurz zusammen- und auseinandergezogen wurde. Es schien ein bewußtes Zucken der alten, verstorbenen Frau zu sein, als der Regentropfen ihre gelbe, zerrissene Haut berührte. Erstmals seit vielen Stunden zeigte sie so etwas wie Regung. Wie die anderen starrte sie noch immer zum wolkenverhangenen dunklen Himmel hinauf. Doch nun senkte sie langsam ihren Kopf. Irgendetwas geschah mit ihr, mit ihren abgestorbenen Zellen. Nicht mehr ganz so wackelig torkelte Agatha aus der Glashalle ins Freie hinaus. Hier war sie nun endgültig dem peitschenden Regen ausgesetzt. Früher hatte sie den Kindern Mathematik beigebracht, hatte in den Pausen darauf geachtet, dass sich kein Kind an den klobigen Spielgeräten auf dem Schulhof verletzte. Jetzt, viele unter der Erde verbrachte Tage später, stand die tote Agatha Southern im Gehege der einstigen einzigen Attraktion, die Woodred Wood jemals zu bieten hatte, und streckte langsam die Arme aus.
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Treffen
Die Elektrokerzen tauchten die Kirche in eine kalte Atmosphäre. Zwischen Bildern und Statuen Jesu Christi hatte der windige, geschäftstüchtige Reverend Schwarze Bretter anbringen lassen. Egal, ob nun ein gebrauchter Motor angeboten, oder der eigene Bruder der Satanei angeklagt wurde, die Bretter erfüllten ihren Zweck und verschafften Rufus Ruffle ein willkommenes Zubrot. Nicht, dass er es nötig hatte, aber ein Mann wie er nahm, was er bekommen konnte. James Teabone, Sheriff Dumbder, Andrew Davidson und der Reverend selbst standen vor dem Altar und berieten sich, wie man mit der neuesten Entwicklung, die Davidson beobachtet hatte, verfahren sollte.
„Wir können sie immer noch einfach verbrennen.“, sagte Teabone, gelangweilt in der Nase bohrend. „Überhaupt halte ich es für eine Frechheit, mich wegen ein paar unwillkürlicher Zuckungen der Dinger aus dem Schlaf zu reißen.“
Davidson runzelte die Stirn. „Aber so einfach ist es nun mal nicht. Emmet Brown hat eine unmittelbare Reaktion gezeigt. Nachdem ich die Klinge durch sein Auge hab gleiten lassen... Ich meine, das war eine richtige Reaktion, kein Zufall. Emmet ist mit voller Absicht zurückgewichen. Weil ich ihn verletzt habe.“
„Wie kann man einen Toten noch verletzen? Hm? Sie sagten doch bei der Versammlung, dass die Toten tot sind.“, merkte Dumbder an.
„Das weiß ich selbst. Aber was, wenn auch bei anderen derartige Reaktionen geschehen? Das ist eine sehr gute Chance, diese Scheiße vielleicht erklären zu können. Und mal davon abgesehen, meine Herren, möchten Sie nach Ihrem Ableben einfach so verbrannt werden?“ Davidson wandte sich zu Ruffle. „Reverend? Soviel ich weiß, läßt es Ihr Glaube nicht zu, sich verbrennen zu lassen...“
Der Reverend runzelte wütend die eitrige Stirn und fuhr sich mit der Hand durch die wenigen grauen Haare. Bräunliche Schuppen fielen herunter und bedeckten sein schmutziges Jacket. Er holte tief Luft und sagte: „Dass Sie mich mal um den Verstand bringen würden, Davidson, das war mir schon immer klar. Nur den Zeitpunkt hatte ich nicht so früh erwartet.“ Ruffle setzte sich auf eine Holzbank. „Also was schlagen Sie nun genau vor?“
„Wieviele Tote befinden sich jetzt im Gehege? Zweihundert? Zweihundertfünfzig?“, fragte Davidson.
„So zweihundertzwanzig.“, antwortete der Sheriff, „Dann hat Teabone noch acht von den Dingern bei sich im Keller...“
„Halts Maul, George!“, unterbrach ihn Teabone wütend, „Oder ich erzähl den beiden, was du mit deinen Hunden veranstaltest!“
Ruffle sah grinsend zu Davidson, der mit verwirrten Gesichtsausdruck einen Schritt zurück gegangen war. „Ach, Davidson! Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht gewußt haben. Was solls? Teabone vögelt lebende Leichname, Dumbder verlauste Köter.“ Er blickte zu Teabone und Dumbder und sagte sichtlich erfreut: „Habt Ihr wirklich gelaubt, solche perversen Spielchen versteckt halten zu können?“ Er begann schallend zu lachen. „Das habt Ihr doch nicht wirklich geglaubt?“
„Das...“ Davidson schüttelte den Kopf und räusperte sich.
„Lassen wir am besten diese Angelegenheiten einfach mal bei Seite. Wissen Sie was, Davidson? Teabone? Sheriff?“ Der Reverend stand auf und wischte sich die Schuppen von der Schulter. „Ich sehe das nämlich so: Die einfachste Methode wäre, jeden Toten zu verbrennen, das Gehege einzureißen und, wie Teabone bereits in der Versammlung anmerkte, den verfügbaren Boden mit Getreide anzubauen, das wir später für gutes Geld an den Küsten verkaufen können. Andererseits habe ich, und ich nehme an, dass ich im Namen aller Einwohner Woodred Woods spreche, keine Lust, mir irgendwann unangenehme Fragen stellen lassen zu müssen, warum wir keine Behörde benachrichtigt haben, dass diese Scheißtoten Reaktionen zeigen können.“ Er spuckte aus. „Dann erzählen Sie mal, was Sie sich gedacht haben, junger Mann!“ Herausfordernd sah Ruffle zu Davidson, der ziemlich unglücklich auf den Boden starrte.
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Selektion
„Endlich mal ein Tag, an dem kein Toter aus den Gräbern steigt.“, flüsterte Gaywang zu Shuhara, dem einzigen Japaner in Woodred Woods. Es hätten mehr sein können, waren es anfangs auch sogar. Doch durch angeborene Engstirnigkeit, verbunden mit einem latenten Rassenhaß und dem immer noch tief sitzenden Pearl-Harbor-Trauma, wurden in einer spontanen Progromnacht fast alle Japaner von einem betrunkenen Mob unter der Leitung des Reverends an den hübschen Kastanienbäumen aufgeknüpft, die in exakten Abständen entlang der Hauptstraße angenehmen, kühlen Schatten spendeten. Shuhara hatte sein Überleben dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass er unter Teabones Aufsicht heranwuchs. Und da Teabone schon seit eh und je mit das Sagen in Woodred Wood hatte, verschonte man den kleinen Shuhara. Gaywang und er waren bei der Polizei beschäftigt und, den Kriterien entsprechend, gut im Umgang mit den gebräuchlichen Handfeuerwaffen. Sowohl legale, als auch illegale.
Shuhara nickte gelangweilt und sagte: „Ja. Das vereinfacht die ganze Angelegenheit. Erfreulich.“ Sie standen auf einer erhöhten Holzkonstruktion und überwachten den reibungslosen Ablauf der Selektion. Die Toten hatte man mit Heugabeln und Schlagstöcken zusammengetrieben. Jetzt standen sie stumm und wankend in einer langen Reihe. Sheriff Dumbder und ein paar andere schritten die Reihe entlang und schnitten jedem Toten mit einem scharfen, in der Sonne funkelnden Messer durch ein Auge. Diejenigen, die keine Augen mehr hatten, wurden sofort aussortiert und zurück in die Glashalle gebracht. Shuhara gähnte. „Aber warum machen die das? Scheiß auf die Reaktionen!“
„He, Mann! Du hast Davidson und den Reverend gehört. Das erspart uns e-ven-tu-el-len Ärger.“ Glücklich grinste Gaywang und präsentierte einem angewiderten Shuhara seinen stinkenden, zahnlosen Mund. Endlich hatte er es mal geschafft, ein schwieriges Wort ohne größere Probleme auszusprechen.
Shuhara winkte ab und sagte: „Pah! Was für Ärger? Als ob sich irgendjemand für dieses Kaff interessiert. Wie sind ja nicht die einzigen auf der Welt mit den Dingern...“ Er schaute auf seine alte Armbanduhr. „Scheiße! Ich hoffe, das dauert nicht ewig!“
Unten im Gehege stand Sheriff Dumbder vor der toten Agatha Southern. „Na, altes Mädchen? Hättest wohl nie gedacht, wieder die elende Hitze zu spüren. Obwohl...“ Er zückte das Messer. „Wenn dieser Wichser Davidson Recht behält, dann...“ Er setzte die Klinge an. Agatha zeigte keine Reaktion. „Würde mich wundern, wenn eine schon zu Lebzeiten vertrocknete Jungfer plötzlich...“ Er machte eine schnelle Bewegung mit dem Messer. „Na?“ Die Tote ging deutlich erkennbar bewußt einen Schritt zurück und stolperte über einen Stein. „Das hätte ich kaum für möglich gehalten. Unsere alte Agatha! Wer hätte das gedacht?“ Dumbder deutete den beiden Männern, die bei ihm waren, an, die Tote aufzuheben. „Bringt sie zu den anderen.“ Seufzend wischte er sich den Schweiß aus seinem verschrumpelten Gesicht. „Verfluchte Scheiße, ist das heiß! Der Regen hätte ruhig noch ein wenig andauern können... Aber das wars dann wohl. Wieviel haben wir? Jimmy?“
Der Angesprochene, ein degenerierter, ewig Speichel aus den Mundwinkeln verlierender Mann überprüfte kurz seinen Notizblock. „Dreiundzwanzig.“
„Dreiundzwanzig von zweihundertzwanzig.“, murmelte der Sheriff. „Die von Teabone nicht mit eingerechnet. Aber das ist auch egal. Die acht Dinger gehören ihm. Also gut, dann seht zu, dass ihr die anderen allesamt in die Halle treibt. Das wird ein schönes Feuerchen geben!“
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Grillfest
Davidson und Ruffle standen etwas abseits und unterhielten sich. Der Reverend rauchte genüßlich eine Marlboro ohne Filter, inhalierte den Rauch tief ein und ließ ihn nur stoßweise wieder aus seinen kränklichen Lungen heraus. „Na, hat doch alles wunderbar geklappt.“
„Ja, hat es. Nur habe ich mit mehr gerechnet, als mit dreiundzwanzig.“
„Das nennt man einfach Pech, junger Mann.“, sagte Ruffle und bot Davidson eine Zigarette an. „Greifen Sie ruhig zu. Spielt eh keine Rolle, wenn Sie verstehen, was ich meine...“
„Ja, durchaus.“ Lächelnd zog Davidson eine Marlboro aus der Packung. „Haben Sie Feuer?“ Der Reverend reichte ihm ein Feuerzeug. „Hübsch...“, merkte Davidson an. Eine nackte Frau, die sich einen Riesendildo in ihren Arsch schob, war auf dem Feuerzeug abgebildet. Er drehte das Feuerzeug um. Auf der anderen Seite war es statt einer Frau ein farbiger Mann. „Wo bekommt man sowas?“ Er zündete sich die filterlose Zigarette an und gab Ruffle das Feuerzeug zurück.
„Gibt’s überall hier in der Gegend.“, sagte der Reverend. „Naja, an den Küsten vielleicht nicht mehr, aber hier schon.“
„Sieht irgendwie komisch aus, wenn Sie mich fragen. Wie in einem Traum.“ Davidson deutete auf den gigantischen, brennenden Scheiterhaufen in der Mitte des Geheges, neben der Halle aus Glas.
Reverend Rufus Ruffle zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Sie haben doch, was Sie wollten. Der Rest ist einfach nur unnützes Zeug.“
„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wenn Sie sterben? Wegen dem Verbrennen?“ Fasziniert betrachtete Davidson die grausige Szenerie. Wie Vieh wurden die Toten zu dem Scheiterhaufen getrieben, und einer nach dem anderen ging in Flammen auf. „Sie könnten auch so enden.“
Ruffle schnippte die Marlboro weg. „Ich hab mir Gedanken gemacht. Und wissen Sie was?“
„Was denn?“
„Ich habe erkannt, dass es mir scheißegal ist. Und wenn ich Ihnen mal etwas im Vertrauen sagen darf... Ich hab mit fast allen Frauen hier in Woodred Wood geschlafen, sie gevögelt, was auch immer. Der handlosen Schwester meiner Frau hab ich die Fotze blutig gestoßen, während Melissa neben uns friedlich schnarchte. Vordergründig bin ich einem Gott verpflichtet, der sowas zuläßt.“ Er zeigte auf die Toten. „Wenn er zuläßt, dass sämtliche Idioten wieder auferstehen dürfen, dann ist mir das scheißegal, ob sich die Sache mit meinem Glauben vereinbaren läßt. Und außerdem, das ist ja das große Geheimnis, gibt es gar keinen Gott, oder sonstwas.“
„Da erzählen Sie mir nichts Neues.“, murmelte Davidson und nahm einen letzten Zug. Gekonnt drückte er die Marlboro mit Daumen und Zeigefinger aus. Dabei sah er lächelnd zu Ruffle. „Also finden Sie sich damit ab, nach Ihrem Tod wahrscheinlich wie die meisten sinnlos durch die Gegend zu irren und letztendlich verbrannt zu werden?“
„Wenn ich sterbe, lasse ich mich anschließend gleich einäschern. So einen Unsinn wie geschehen will ich mir gar nicht erst antun.“
„Verstehe.“
„Gut.“ Der Reverend blinzelte mit seinen durch grauen Star entstellten Augen. „Ich gebe Ihnen Recht, Mister Davidson.“
„Womit?“
„Die Szenerie ist schon erschreckend. All die Toten, die ins Feuer getrieben werden. Es riecht wie bei einem guten Grillabend. Nur werden statt saftigen Steaks verweste Spielereien der Evolution gebraten.“
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Agatha
Widerstandslos ließ sich Agatha Southern zu den anderen zweiundzwanzig Toten bringen. Sie wußte nicht, warum sie in den engen Zwinger eingesperrt wurde. Drinnen war es stockfinster. Etwas berührte ihre Hand, die nur noch aus Knochen und etwas muffig riechenden Fleisch bestand. Weder Davidson und die anderen konnten ahnen, dass der Augenschnitt keinerlei Wirkung zeigte. Wer tot war, war nun einmal tot. Lediglich unerklärliche Vorgänge innerhalb der abgestorbenen Zellen der Toten ließen diese zum Spielball der perversen Gesellschaft werden. Und trotzdem war da was. Irgendwas, was Agatha Southern dazu veranlaßte, ihren Kopf etwas nach links zu drehen. Aber bis die toten Lebenden erkannten, dass nur einer von vielen Hebeln des Zufalls sich bewegt hatte, verbrachte Agatha Southern wochenlang Stunden regungslosen Dasitzens in mittelalterlich wirkenden, mit allerlei experimentellen Spielzeugen ausgestatteten Räumen von Andrew Davidson. Hätte sie wirklich so etwas wie Willen oder Trieb gehabt, vielleicht hätte es Agatha Southern schätzen können, dass es Emmet Brown war, der ihre Hand berührt hatte.
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Sonnenuntergang
Gedankenverloren blickte Andrew Davidson auf die neue Ladung, die zu dem Scheiterhaufen geführt wurde, der seit Wochen ununterbrochen brannte. Seine These hatte sich als falsch erwiesen. Die Toten waren nur sinnloses Geplänkel einer mißbrauchten Natur. Kurz erinnerte er sich an Agatha Southern. Hatte er nicht etwas erkennen können? Eine Regung? Irgendwas? Er wischte die Gedanken aus seinem Hirn. Davidson saß neben Melissa Ruffle. „Da ist er.“
Melissa öffnete ihre Augen und sah von der Tribüne runter zu dem brennenden, alles verschlingenden Ungetüm. „Wo?“
„Na da! Siehst du ihn nicht?“
„Oh...“ Sie erkannte ihren verstorbenen Ehemann, einst mächtigste Person der kleinen Stadt, nun seelenloses Etwas, das seinem unwiderruflichen Tod entgegen getrieben wurde. „Ja.“
„Sag mal...“ Behutsam legte Davidson seine Hände auf Melissas. „Warum hat er eigentlich Theresa so verunstaltet?“
Melissa Ruffle zuckte mit den Schultern. „Es hat ihm wohl gefallen.“
„Aha.“
„Ja.“ Sie schaute nach oben. „Wir werden einen schönen Abend haben.“
Davidson nickte. „Ja. Nur die Hitze ist störend. Die Sonne wird von Tag zu Tag größer.“
„Ja.“ Sie schmiegte sich an ihn. „Egal! Da, jetzt ist er dran!“ Zusammen mit Davidson verfolgte sie das unrühmliche Prozedere: Reverend Rufus Ruffle wurde mit einem unsanften Stoß in die Flammen geworfen und verbrannte mit ein paar komischen Zischlauten. Melissa Ruffle hatte unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes das Testament ändern lassen. Und sie hatte es genossen, einerseits mit Davidson nie gekannten Sex zu haben, andererseits den letzten Willen von Rufus Ruffle außer Kraft zu setzen. Die große Sonne verschwand langsam und tauchte die Gegend in ein blutiges Rot.
„Schau mal!“ Auf der Tribüne gab es wie jeden Tag Ausschreitungen zwischen betrunkenen Jugendlichen. Fäuste flogen, Blut spritzte, Glas zersprang an Köpfen in mikroskopisch kleine Bruchstücke. „Ob ich weiß, was mit mir passiert, wenn ich einmal sterbe?“, sagte Davidson leise zu sich.
Melissa hatte es dennoch gehört. „Das weiß keiner, Andrew.“
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Requiem
Durch die Bullaugen der verwaisten Internationalen Raumstation, die pro Umrundung des Planeten dreißig Meter Höhe verlor und somit irgendwann entweder in der Atmosphäre verglühen, oder bei entsprechendem Winkel und glücklichen Umständen ziemlich viel Chaos anrichten könnte, hatte man eine hervorragende Aussicht. Durch die grauen Wolkendecken hindurch konnte man tausende langgezogene Linien aus Rauch und Asche sehen. Überall auf der Welt wurden die Toten verbrannt. Wie Geschwüre schlängelten sich diese Linien über den Himmel, vereinigten sich, lösten sich auf, oder bildeten bizarre Formationen. Die Lebenden verkrochen sich in ihre Häuser, mauerten sich ein. Eine Erklärung für die Auferstehung wurde von vielen geliefert, jedoch endeten näher eingehende Untersuchungen im Nichts. Es gab einfach keine Antwort auf das Warum. Von Tag zu Tag wuchs die Anzahl derer, die aus ihrem Tod aufwachten, um ein kurzes oder langes Dasein als wandelndes Etwas zu fristen. Unweigerlich war es vorbei. Und es betraf nur die Menschen.
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Abgang
Um ihn herum war nur noch heißer Sand. Der Himmel über ihm wurde von einer rötlichen Masse beherrscht, die in unregelmäßigen Abständen Blitze aus Feuer sandte, um den verdorrten Boden noch mehr zu erhitzen. Vor vielen Millionen Jahren war er Andrew Davidson gewesen. Aber das wußte er freilich nicht. Konnte es auch nicht wissen. Teilnahmslos hatte er den Untergang der Menschheit überstanden, hatte regungslos mit angesehen, wie die Erde mehr und mehr starb. Um ihn herum waren ganze Tier- und Pflanzenarten ausgestorben, doch er als Toter hatte das nicht registriert. Davidson starrte zu dem riesigen roten Etwas. Und dann, endlich, begann er zu brennen. Feuer bedeutete das endgültige Aus. Und so wie Davidson würde in einigen tausend Jahren die Erde selbst ihr Dasein aufgeben. Spektakulär. Endgültig. Unausweichlich.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
15.02.2003