Ball holen
In hohem Bogen fliegt der Ball über das Spielfeld, verläßt es und hält sich noch weitere hundert Meter in der Luft, ehe er auf dem staubigen Boden aufschlägt. Wie eine schmackhafte Himbeere hatte er sich gegen den sonnenblauen Himmel abgezeichnet, immer kleiner werdend und sich schließlich meinem Blickfeld ganz entziehend. Ich vernehme nur das blechern hohle Geräusch seines Aufpralls in weiter Ferne.
„O nee“, stöhnt Jürgen, „nicht schon wieder...“. Sabine lächelt entschuldigend und zieht die Schultern hoch. Robert sagt, sie hat mehr Kraft als Verstand.
Widerwillig trottet Jürgen los, den Ball zu holen. Er läßt die Schultern hängen und kickt mit seiner Sandalette in den Staub. Er bleibt, an einer Wurzel wahrscheinlich, hängen, stolpert und flucht mir unverständliche Worte. Bestimmt hat er sich den Zehennagel ‘runtergerissen.
Robert brüllt: „Mensch Jürgen, nun mach mal hin jetzt!“
Ohne sich umzudrehen, winkt Jürgen hinter seinem Rücken ab. Er macht dicke Backen und bläst die Luft stückweise aus, nachdem er sie ein paar mal von der einen Backe in die andere geschoben hat.
Hinter mir pult sich Renate an den Fingernägel, ganz konzentriert. Ihr Unterkiefer schiebt sich vor, als sie den Dreck hinter ihren Nägeln vorholt und ihn dann in meine Richtung schnippt. Ich beschwere mich.
„Wie lange der braucht, einen Ball zu holen! Da könnt‘ man glatt ein Buch drüber schreiben! Jetzt bleibt er auch noch stehen!“ Es ist ihm anzuhören, daß Robert genervt ist. Wie sich herausstellt nicht ganz ohne Grund: Schon in einiger Entfernung sehe ich Jürgens schlaksige Gestalt, die sich bückt und augenscheinlich etwas aufhebt. Plötzlich hält er was hoch und schreit:
„Cool, ich hab Geld gefunden!“
Hol lieber den verfluchten Ball, denke ich bei mir, als er das kleine Metallding ausgerechnet so hält, daß die Sonne, davon reflektiert, mir genau ins linke Auge sticht. Maria hängt sich derweil in das Volleyballnetz, so daß es gefährlich durchhängt und die Pfosten sich biegen. In offensichtlicher Langeweile streckt sie ihre Zunge in die Landschaft.
Ich hole tief Luft, sauge den höchst möglichen Anteil Sauerstoff aus der Luft, drehe mit den Schultern und stelle mich gerader hin. Dann blas ich mir die verbrauche Luft unter den Pony.
„Jürgen, was ist, bring den Ball!“ kreischt Maria. Jürgen bückt sich und nimmt den Ball. Er wirft ihn hoch, um anschließend dagegenzutreten, was den Himbeerball erneut dazu verleitet, durch die Luft zu fliegen. Irgendwohin. Diesmal rennt Jürgen schnell hinterher. Maria trommelt eine Melodie auf ihren Schenkeln.
Rolf neben mir gibt eine Mischung aus Seufzen und Stöhnen von sich, setzt sich und malt in den Staub. Sieht aus wie ein kubistisches Kaninchen.
Als ich wieder zu Jürgen sehe, ist er verschwunden. Vermutlich ist er dem Ball soweit gefolgt, daß die Erdkrümmung ihn jetzt überragt. Doch plötzlich: Ein rosa Punkt am Himmel, der in der Luft immer größer wird, aber trotzdem noch weit entfernt landet. Jürgen taucht wieder auf, nimmt den Ball und setzt sich drauf, um sich seine schicken Schnürsandalen neuzuschnüren, weil sie, wahrscheinlich vom vielen „Zaubern“, aufgegangen sind. „Zaubern“, so nennt er seine infantilen und mißglückten Versuche mit dem Ball anzugeben.
„Jetzt ist er auf dem Rückweg“, sage ich zu Rolf, als hätte ich etwas verbotenes beobachtet. Rolf reckt den Hals. Dann steht er umständlich auf wie ein alter Mann und klatscht sich den trockenen Staub von den Händen und Sachen. Er kratzt sich am Kopf und reibt sich das Auge, als sei er gerade aufgestanden.
Jürgen schlendert zurück, hampelt herum mit etwas, das wohl so etwas wie Breakdance-Schritte sein sollen. Mit jedem seiner Hopser wird der Ball in seiner Hand größer und leuchtender.
„Wie ist jetzt der Punktestand?“ will Jürgen noch mit einigem Abstand zum Spielfeld wissen.
„Äh“, sagt Rolf, öffnet den Mund und sieht in den Himmel. Die anderen lenken ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf ihn und verziehen das Gesicht wie in sorgenvollem Ekel. Aber es ist nur wegen der Sonne, die genau über Rolf steht und blendet, daß es in den Augen wehtut.
Als Jürgen wieder ganz da ist, ist es Rolf wieder eingefallen, und wir erinnern uns, daß wir gerade erst angefangen haben.
Alle seufzen erleichtert, als Jürgen den Ball endlich in unser Feld wirft. Sabine hinter mir knackt mit ihren Fingergelenken und schlurft auf ihren Platz. Und obwohl sie die Angabe gerade verpatzt hatte, muß sie laut Regel eine Wiederholung spielen.