Bald hab' ich dich
Eines nachts, nachdem es die trübe Sonne schon lange aufgegeben hatte, ihre erdrückenden Schatten auf die Erde zu werfen, als nun der blaue Mond schweren Herzens, aber vorbildlich, ihre mühselige Arbeit verrichtete und sein verzweifeltes Lächeln auch eines auf mein verbittertes Gesicht zauberte, entdeckte ich einen kleinen Jungen, in zerlumpten Kleidern, hastige Bewegungen ausführend und mit einem traurigen, geistvollen Gesicht - denn kein Gesicht konnte geistvoller sein als das eines Kindes, da es noch keinen Geist besitzen musste -, zu einer für ihn allzu späten Stunde in einem großen Park, inmitten der Büsche, die mir schon immer am besten gefallen hatten, da ihre Schatten so mächtig wirkten, und er sah aus, als suchte er etwas. Nachdem ich sein Treiben eine Weile beobachtet hatte, wagte ich mich vorsichtig ein paar wenige Schritte näher an ihn heran, allerdings schreckte er zurück, als er mich hörte, jedoch auf eine Art, als hätte er mich bereits erwartet, tat seine Sache sogleich aber unbeeindruckt weiter. Ich hingegen war sehr beeindruckt – wegen seiner Augen -. Sie waren mir vertraut, obwohl ich sie wegen des schwachen Lichtes nicht gut erkennen konnte, ja, sie schienen etwas in sich zu tragen, das ich nur allzu gut kannte...
„Was machst du hier und ausgerechnet zu dieser Zeit, kleiner Mann?“ Er zeigte keine Reaktion. Ich wiederholte meine Frage etwas nachdrücklicher, denn ich war natürlich neugierig geworden. Der Junge warf mir einen Blick zu, wie ich ihn nie in meinem Leben vergessen würde können.
„Bald hab’ ich dich! Bald hab’ ich dich!“ schrie er mir plötzlich überlegen und voller Grausamkeit zu und begann auf grässlichste Weise, die sich ein Mensch nicht einmal annähernd vorstellen konnte, zu lachen. „Bald hab’ ich dich!“ schrie er noch lauter als zuvor. Mein Kopf meinte, zerbrechen zu müssen, so viel Schmerz bereitete mir sein Geschrei. Ich wollte fortlaufen, doch aus irgendeinem Grund bewegte ich mich keinen Millimeter von der Stelle. Ich hatte Angst.
Und er suchte weiter. „Fast schon bin ich bei dir!“ Ich wusste nicht, was hier vorging. Mir wurde schwindelig. Und immer wieder diese Augen, in denen sich der graue Mond von seiner hoffnungslosesten und erloschensten Seite spiegelte. Und immer wieder seine furchtbare Knabenstimme. „Du jedoch wirst mich nie mehr finden! Nie mehr! Nie wieder!“ Wieder? Weshalb wieder? In mir regten sich die Gedanken, alle möglichen hoben sich empor, bloß, um wieder zusammenbrechen zu können. Mein schwermütiges Herz begann wie wild zu pochen und ich hörte einen schrecklichen Aufschrei: „Ja! Ich hab’ dich! Ich hab’ dich!“ Er verstummte und lief mit einem abscheulichen Grinsen davon. Etwas in mir wollte ihn zurückhalten, etwas anderes ihn umbringen.
Voller Angst ging ich ganz langsam auf die Stelle zu, von der aus er seine Arbeit und seine Worte getan hatte. Zu meiner Erleichterung – vielmehr war es Enttäuschung – fand ich dort bloß einen Spiegel. Ich hob ihn vom feuchten Boden auf, fand allerdings nichts Besonderes daran. Als ich hineinblickte, konnte ich nichts entdecken als das unspektakuläre Abbild meines fahlen, alten Gesichtes, war aber nicht fähig, den Blick von mir abzuwenden und ganz plötzlich, aber langsam, vollzog sich eine Veränderung meines Spiegelbildes, es schien sich zu verjüngen, und das Gesicht des kleinen Knaben kam zum Vorschein. Ich wandte mich um, denn vielleicht hielt ich ja den Spiegel schief und er stand hinter mir, doch er war nirgends zu sehen, - außer im Spiegel.
Der Wind, der ja zusammen mit dem Wasser die Sterne gezeugt hatte, begann heftig zu wehen und unter lautem Geklirre zerbrach das Spiegelglas und somit auch das Abbild des Jungen. Diesem Augenblick war es bestimmt, der schrecklichste meines Lebens zu werden, denn nun verstand ich seine Worte, nun wusste ich ohne jeden Zweifel, was ich nie wieder finden würde...