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Balance

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02.11.2001
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Balance

Sie hat wässrige Augen. Die Doppelliterflasche hält sie wie ein Baby im Arm, das Etikett darauf ist eingerissen. Ihre Fingerspuren am Flaschenhals. Ich habe sie zu lange warten lassen. Sie sagte einmal, dass sie die Einsamkeit eines langen Tages umbringen würde. Pass gut auf, sagte sie, wenn du mich alleine lässt.
Wie war das noch gewesen? Der Freund rief an, bat um eine Gefälligkeit. Ein Kunde mache Schwierigkeiten, sagte er. Ich sagte zu, nahm den Schlagring mit. Es gibt nichts, was mich hält, wenn ein Freund meine Hilfe braucht. Zu oft schon war es umgekehrt. Deshalb eben. Danach ließ er ein paar nette Mädchen kommen und der Nachmittag begann sich wie Gummi zu ziehen.
Ich hatte nicht mehr an sie gedacht. Jetzt ist sie fertig mit den Nerven, das kann ich sehen. Sie zittert und die Flasche ist fast leer.
Wo ist der Sittich, frage ich. Der Käfig ist umgekippt, Körner und seine kleinen, weißen Exkremente sind über den Teppich verstreut, der Wasserbehälter zerbrochen. Die Stäbe des Käfigs sind verbogen, wahrscheinlich von ihren Tritten bearbeitet worden.
Du Schwein, flüstert sie. Dann, noch leiser: Du hast mich alleine gelassen.
Jetzt sehe ich es. Sie hat den Sittich am Lampenschirm aufgehängt. Dort baumelt er tot an einer Schnur. Ein paar hellblaue Federn hat er verloren und der rechte Flügel steht steif vom Körper weg. Klara muss wahnsinnig geworden sein. Ich kann nicht reden, lasse mich auf das Sofa fallen, spüre das Bier vom Nachmittag, sehe, wie Klara die Weinflasche an den Mund setzt.
Mein Gott, sage ich schließlich.
Klara beginnt lautlos zu weinen.
Du hattest kein Recht dazu, sage ich endlich.
Ich kann nicht mehr, antwortet sie. Ihre rechte Gesichtshälfte ist schwarz von herabgelaufener Schminke. Tu was, denke ich, sie darf dich nicht klein kriegen, nicht schwach sehen.
Ich stehe auf, gehe zu ihr, deute einen Schlag in ihr Gesicht an. Als sie schützend die Arme hochreißt, gräbt sich meine Faust in ihren Magen. Ich schlage sie niemals ins Gesicht. Sie bringt uns kein Geld mit geschwollenem Gesicht. Ich aber brauche das Geld, um mit meinen Freunden klar zu kommen. Sie klappt zusammen, würgt und erbricht etwas Wein.

Es regnet. So wie auch an den letzten Abenden.
Wenn der Regen aufhört sind wir frei, Kleines, habe ich ihr gestern gesagt. Nur, um etwas in die Stille zwischen uns zu sagen. Wo ist das, von dem du mir erzählst, kam fragend ihre Antwort. Ich wusste darauf nichts zu erwidern, auch weil ich wusste, dass ich sie belog, seit ich sie kannte. Sollte ich ihr die Wahrheit sagen, ihr sagen, dass es nie zu Ende sein würde, weil es die Freiheit ganz einfach nicht gibt? Ich hielt meinen Mund und lügend ihrem schweigenden Blick stand.

Sie scheint nachzudenken, hat aufgehört zu weinen, kauert am Boden.
Der Schlag muss fürchterlich wehgetan haben. Aber: Sie kann alles wegstecken, wenn sie will. Alle Schläge. Auch die Küsse. Ich bin nicht so stark wie sie. Ich könnte der Sittich sein. Kaum, dass mein Käfig offen wäre, wäre ich tot.
Mach dich hübsch, sage ich und gehe mit keinem Wort auf das eben Geschehene ein. Sie kriecht auf allen Vieren ins Badezimmer. Sie sperrt sich ein darin. Ich schneide den Sittich vom Lampenschirm, werfe den kleinen Körper aus dem Fenster.
Abflug, flüstere ich ihm nach. Mach’s drüben besser.
Ich trete den nutzlos gewordenen Käfig in ein Zimmereck, bin unruhig, noch nicht ganz zufrieden mit mir, habe keine Vorstellung, was nun wird. Ich werde nett zu ihr sein, sie zum Essen einladen, sie dann erst losschicken. Der Wagen ist in der Werkstatt, ein gutes Lokal nicht unweit und gut zu Fuß erreichbar.

Klara hat sich zurecht gemacht, sieht überwältigend aus. Ich halte meinen Arm um ihre Hüfte, spüre den Stoff ihres Kleides, weiß, dass sie nackt darunter ist, nur Strümpfe trägt, weil ich es so für besser halte.
Die Straße ist leer, schwarz vom Regen. Wir waren die Letzten im Lokal, tranken mit dem Besitzer, den ich kenne. Er bat darum, Klara heute Nacht haben zu dürfen. Klara kicherte, sagte, dass es schon klarginge, wenn ich wollte. Ich wusste, dass er wie immer genug bezahlen würde, weil er auf Klaras Arsch scharf war. Nicht diesen Abend, sagte ich zu ihr, du bist heute zu schön für ihn. Meine Worte machten sie ganz aufgeregt und sie drängte danach, bald aufzubrechen.

Wir schlenderten die dunkle Strasse hinunter und hatten uns kaum mehr im Griff. Es ging schnell. Alles ging zu schnell, alles war für diesen Moment aufgespart. Jemand stieß die Tür meines Käfigs auf.

Ich hebe sie auf die Motorhaube eines abgestellten Peugeots. Sie öffnet ihre Beine, führt sich meinen Schwanz ein, sagt, dass sie mich liebt, dass es schon recht ist, wie es ist. Meine rechte Hand hält ihren Kopf an den Haaren nach hinten. Ich spüre klebriges Haarspray an den Fingern.
Ich dich auch, flüstere ich. Ich dich auch, Klara.
Dann habe ich die feine Schnur in meiner Linken, lege diese unbemerkt um ihren Kehlkopf. Komm jetzt, mein Vöglein, flüstere ich, säge mit den Zähnen an ihrem Ohrläppchen. Dann kommt sie. Es sind ihre Wellen, die an meinem Strand brechen und bei der letzten Welle ziehe ich die Schnur ruckartig zu, entlade mich in ihr und denke nicht an morgen. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel glänzen. Dort haben heiße Schnecken gewildert, ihre Spuren hinterlassen. Ein Strumpf ist zerrissen. Ich wische meinen Schwanz am Saum ihres Kleides ab, gehe ein paar Schritte zurück, stehe neben mir, besinne mich, habe ja noch etwas zu tun. Ich zerre an ihren Haaren, reiße drei, vier klebrige Büschel davon aus, stopfe sie ihr in die nasse Scham. Als ich ihren rechten Arm im Bereich des Gelenkes breche, steht dieser steif vom Körper weg.

Ich überlege, wo ich noch Bier herbekomme.
Die Balance ist wichtig vor dem Abflug. Und der richtige Aufwind.
Wenn sie mich suchen, sollen sie mich am Tresen finden. Vertieft im Gespräch mit einer schönen Frau, die wie ich mit Blut an den Händen durch die beginnende Nacht treibt. Vielleicht reden wir über da gewesene Gefühle und aberkannte Sensibilität, bevor mich die Cops durch die Tür prügeln.
Vielleicht schweigen wir auch nur und Einer rät die Gedanken des Anderen.
Nichts mehr sagen müssen, könnte frei machen.
So oder anders.
Es ist unwichtig. Der Regen hat aufgehört.

 

Hallo Aqua!

Schön, einmal wieder etwas von Dir zu lesen. Und dieser Text hier erscheint mir sehr typisch für Dich: wortgewaltig und stilistisch einwandfrei, beschreibst Du die Gewalt, das für manche in ihrer Welt alltägliche, kranke, gewaltdurchbrochene Leben. Der Titel...wo ist die Balance? Zwischen ihr und Ihm? Die Abhängigkeit? Zwischen ihr und dem Wellensittich? Leben und Tod? Gewalt und „Liebe“? Freiheit und Käfig?... Ich überlege noch daran, wie so oft bei Deinen Texten,...

Liebe Grüße
Anne

 

Hi Aqua

Kann mich der Maus anschließen, typischer Aqualungtext, mit wenigen wohlgesetzten Worten schilderst und erzeugst du die Gewalt und Energie, die diese Geschichte so schockierend machen. Die Ich-Perspektive ist hier genau richtig.
Nur um den Sittich tuts mir leid :hmm:, der einzige rundum sympathische Charakter in der Story

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Aqua,
ich las sicher drei Wochen nicht.
Und nun diese Geschichte. Sag mir, wann dir das einfällt, ob du erst denkst und dann schreibst oder ob die Worte so aus dem Stift tropfen und fließen. (Heute sind sie mir wie getropft).
Tiefe Verneigung vor den Worten
*******Merlinwolf*******

 

Hallo Mäuslein, wolkenkind, Merlinwolf,

ich freue mich, dass ihr meine Geschichte gelesen habt. Danke. Besonders freut mich, dass der Text als "typischer Aqua- Text" bezeichnet wird.
Diesmal habe ich nix gedacht, die Worte sind einfach getropft, Gesa. Immer dann entstehen so bizarre Situationen auf dem Blatt Papier. Irgendwo hatte ich das Wort Balance aufgeschnappt, dann kam der Flash zum Text.

Liebe Grüße an euch - Aqua

 

Hallo Aqualung!

Beeindruckend - mit wenigen, teils fast zynischen Worten erschaffst Du eine Situation, eine Atmosphäre, einen unausweichlichen Teufelskreis, dessen einziger Ausweg zugleich das Ende zweier Existenzen bedeutet.

Alles Weitere haben andere bereits gesagt, und ihrem Lob kann ich mich nur anschließen!

Aragorn

 

Hallo Aqua,
wie jedesmal, wenn ich eine von Deinen Geschichten lese, hast du es mal wieder geschaft, dass ich eine Gänsehaut gekriegt habe. Dir gelingt es mit gut gewählten Worten eine bedrückende Stimmung zu schaffen,sodass ich nur dachte, Gott sei Dank war es nur eine Geschichte. Obwohl es bestimmt genug Menschen gibt, für die dieser Alltag, so wie Du ihn beschreibst, Wirklichkeit ist.
Sehr starker Text, Aqua!

LG
Blanca

 

Hei aq-bab´,

ich hatte deinen text schon gestern gelesen und eben als ich so durch den park schlenderte, da fiel er mir wieder ein. Ja! Es müssen also gute Texte sein! Ich schlenderte durch den Park und beschloss zur 1km entfernten Uni zu gehen, um mich an einen dieser Rechner hier zu setzen und was zu schreiben.

Ganz selbstverständlich nimmst du diesen Schlagring mit wie andere halt ihren Haustürschlüssel. Erklärungen sind überhaupt nicht nötig, denn die Handlungen geben einen Einblick in das Funktionieren dieser Seele mit all diesen grausamen Selbstverständlichkeiten. Schön wertfrei ist es zudem wieder geschrieben.

Dieser Auszug aus einem Leben gibt lässt gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft der Prots vermuten.

Ich bewundere deinen Stil-wie immer-und natürlich wie du gekonnt die Normalität der Handlungen und Gedankengänge des Hauptcharakters beschreibst. Schocken soll es...und das tut es!

Super!

Stefan

 

Guten Abend, Aragorn, Blanca, ARCHE...,

ich bin hin und weg und ich freue mich über eure Kritik. Die Gesellschaft bedarf einer Durchleuchtung. Nur sezieren wollen scheint nicht zu genügen, drum tropft es weiter aus der Feder. Schön, dass ihr alle dabei seid.

Arche, Mann, du LEBST und ATMEST und SCHREIBST was!!!!
Ich bin erdrückt vor Freude und pack den Schlagring weg.

Zisch mir jetzt noch ein schnelles Bierchen.
Muss ja Isa nicht sehen, heheheh....

Ich schick euch was - Aqua

 

Hallo Aqua,

der Anfang deines Textes hat mir gut gefallen - da ist der Charakter des Ich-Erzählers noch in der Balance zwischen gut und böse. Aber dann kippt es, und der Ich-Erzähler sieht nur noch wie das Klischee eines bösen, brutalen Zuhälters aus.

Vielleicht mal drüber nachdenken, ob ich recht habe?

Grüße,
dein Stefan (aka Leixoletti)

 

Hallo leixo,

danke für deine Kritik, die eine neue Auslegungsvariante für diese Story zur Diskussion stellt. Die des beinharten Zuhälters. Ja, der Prot hält die Balance zwischen gut und böse. Und ich denke, die hält er vom Beginn weg durch.
Der Mord selbst ist wie einen Schlagring einstecken und dem guten Freund beistehen. In beiden Fällen will er damit helfen. Das Leben der Charaktere ist völlig falsch gelaufen, alles zerbricht. Ein brutaler Zuhälter würde davonlaufen. Er tut es nicht, will die Balance halten bis zum Abflug.

Könnte es so sein?

Liebe Grüße - Aqua

 

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