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- 05.02.2003
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Bahnschienen
Bahnschienen
Es wird Abend.
Stimmengewirr, Lautsprecherdurchsagen im Bahnhof.
Ich sitze im Abteil und nun endlich setzt sich mein Zug in Bewegung.
Schön, so einen Fensterplatz zu haben.
Wie hypnotisiert sehe ich auf das schwarze Band des Nachbargeleises mit seiner silberfarbenen Oberseite unterhalb meines Zugfensters.
Jetzt, wo der Zug immer schneller fährt wird dieses Band scheinbar mit Leben erfüllt.
Manchmal entfernt es sich wie von Geisterhand um im nächsten Moment wieder unruhig schlängelnd neben dem Zug herzulaufen - dann wieder liegen die Schienen von gegenüber sekundenlang einträchtig neben dem eigenen Waggon parallel sichtbar am unteren Rand des Zugfensters und sie wirken dort zeitweise wie angeklebt.
Die untergehende Sonne spiegelt sich noch auf der Oberseite der Schienen aber mit der eintretenden Dämmerung verändert sich diese Spiegelung immer mehr in einen matten Ton, als kündigte sich damit die Ruhe an, die schon bald von schimmernden Schienensträngen im fahlen Licht des Vollmondes ausgehen wird.
Plötzlich werden sie verdeckt durch einen riesigen Schatten, der donnernd an meinem Fenster vorbeirast.
Erschreckend laut reisst der Gegenzug mich aus den Gedanken.
Es ist, als wolle man mir klar machen für welchen Zweck die schwarz-matten Geleise da draußen wirklich dienen.
Doch da sind sie auch gleich wieder , die beiden schlängelnden Metallbänder unterhalb
meines Fensters.
Wieviele Blicke sind ihnen wohl schon hinter den Fenstern gefolgt, wieviele Gedanken mögen sich in ihrem nicht enden wollenden Vorbeiflug verloren haben!
Gedanken an den Liebsten, Erinnerungen an verlorenes Glück und Gedanken an die
letzte Umarmung beim Abschied, Gedanken an die erste Umarmung bei der Ankunft, an die Zeit wie von früher und wie alles damals war....
Gedanken an die Hoffnung des Wiedersehens geknüpft - millionenfach überall auf der Welt wo Menschen in ihren Gedanken versunken aus dem Zugfenster sehend ungewollt entlang an Schienenbändern mit ihren Blicken gleiten wird an ein Wiedersehen gedacht.
Sicherlich, zwischendurch verlassen auch ihre Blicke diese fremden Schienen, und doch kehren sie immer wieder dorthin zurück.
Endlose Schienenbänder - endlose Gedanken - kaum ein Unterschied scheint zu bestehen.
Mögen Schienen Kälte und Hitze aushalten - Gedanken können ebenso Kälte und Hitze im Befinden auslösen und der Mensch muss ihnen ebenso widerstehen können.
Endlose Schienen, die doch irgendwann einmal wieder enden sind vielleicht vergleichbar mit endlosen Gedanken, die ebenfalls irgendwann einmal enden müssen und an deren Ende wir nicht so recht glauben möchten.
Wahrlich kaum ein Unterschied.
Sanfte Linienführung von Schienen, die Fernweh symbolisieren oder Heimweh auslösen können ist es nicht ähnlich mit Gedanken, die sich wie in einer Schiene zu bewegen scheinen immer mit dem Ziel der Hoffnung?
Manchmal ist es, als bewirke gerade noch die Spurbreite den Unterschied zwischen Gedanken und Schienen wenn sich diese in der Ferne verlieren.
Wenn sie sich die Gedanken in der Ferne verlieren....
Immer weiter..... Immer weiter.
Niemand weiß wo sie endlich enden.
Nein, das Ziel wissen wir nicht, wir wissen nur die Richtung.
Wir kennen das Ende - und möchten doch immer weiterfahren.
© K. Briesemeister 02/2003 schienen.doc Donnerstag, 27. Februar 2003