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Bahnhofsmontag
Theo sah aus dem Fenster, als der Zug im Hamburger Hauptbahnhof einfuhr. Er würde zum ersten Mal in Hamburg sein, wenn auch nur für etwa eineinhalb Stunden, um auf seinen Anschlusszug zu warten, der ihn zum Vorstellungsgespräch mit seinem neuen Arbeitgeber bringen würde.
Sein Zug lief in den Bahnhof ein, er hörte die Durchsage über den Lautsprecher. Er schulterte seinen Rucksack, nahm den kleinen Koffer und stieg aus. Typischer deutscher Bahnhof, dachte er, mit der fast schon obligatorischen Kuppel, wie man sie in vielen Bahnhöfen fand.
Er sah zur Anzeige, auf Gleis 10, 17.05 Uhr ging seine Reise weiter. Theo schaute auf seine Uhr, er hatte noch fast eine Stunde Zeit. Langsam ging Theo durch die grosse Bahnhofshalle. Gerade war er an Gleis 10 angelangt, als er ein „Halt! Das ist meine Tasche!“ hörte. Ein Skater raste hakenschlagend auf ihn zu, balancierte wild mit dem einen Arm. Krampfhaft hielt er mit der anderen eine Tasche fest, die eindeutig nicht ihm gehörte. Einige Meter dahinter verfolgte ihn ein älterer Herr und rief noch mal:
“Halt, meine Tasche!“ Der Skater versuchte mit allen Mitteln, auch an Theo vorbeizukommen. Aber alles rudern war vergeblich und auch eine Gewichtsverlagerung brachten nichts. Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, fuhr er direkt in Theo hinein. Der griff beherzt nach der Aktentasche und drehte sich um seine eigene Achse. Die beiden wirkten wie zwei Eiskunstläufer, die zu einer Wurffigur ansetzten, denn der Skater ließ seine Beute nicht los. Durch den Schwung funktionierte Theo wie eine Zentrifuge, der Skater machte einen Bogen um ihn und flog förmlich auf einen abgestellten Gepäckwagen. Dort griffen ihn die Bahnbeamten auf, die durch das laute Rufen informiert worden waren. Theo ging dem älteren Herren entgegen und gab ihm die Tasche zurück.
“Danke, junger Mann, das war sehr mutig von Ihnen. Und das alles nur wegen einer alten Aktentasche mit einer leeren Thermoskanne“, sagte der Alte atemlos.
“Eine Thermoskanne?“ Theo machte in diesem Moment wohl einen ziemlich dämlichen Eindruck.
“Na ja, ich fahre in ein paar Minuten wieder zurück ins Heim, heute morgen war die Kanne noch voll und die Tasche enthielt noch ein paar belegte Brote mit Leberwurst, das hätte sich eher gelohnt.“
„Das müssen Sie mir jetzt aber erklären!“ Theo setzte sich, neugierig geworden neben den Alten, der sich auf einer Bank niedergelassen hatte. Dieser schmunzelte.
„Mein Name ist Peters, Wilhelm Peters. Ich wohnte früher mit meiner Evi in einem Dorf in der Nähe von Lüneburg. Jetzt bin ich Witwer, 78 Jahre alt und lebe im Lüneburger Altersheim. Jeden Montag morgen um 9.33 Uhr fahre ich mit dem Zug los und bin um 10.44 Uhr hier am Hauptbahnhof. Um 16.55 Uhr fahre ich zurück und komme um 17.34 Uhr wieder in Lüneburg an. So schaffe ich es pünktlich um 18.00 Uhr wieder im Heim zu sein und keiner meckert. In der Aktentasche bringe ich meine Verpflegung für den Tag unter, heute waren es einige Brote mit Leberwurst." Bei den letzten Worten zwinkerte er Theo schelmisch zu.
"Und wie lange machen Sie das schon?"
"Warten Sie mal, das kann ich ihnen genau sagen. August 94 starb meine Evi, März 95 brachten sie mich ins Heim, das erste Mal war ich hier im September 95."
"Und darf ich fragen, warum Sie das machen?" Theo war jetzt wirklich neugierig geworden.
„Aus Langeweile, junger Freund, aus purer Langeweile. Hier sitze ich ein paar Stunden und sehe Tausende von Menschen, nehme praktisch an ihrem Leben teil. Wenn auch nur an einem kleinen Teil ihres Lebens. Ab und zu komme ich mit ein paar Reisenden ins Gespräch, erzähle ihnen meine Geschichte und lasse mir Geschichte erzählen. Und wenn ich wieder zurück in meinem Heim bin, habe ich für den Rest der Woche auch noch genügend Gesprächsstoff für meine daheim gebliebenen Mitbewohner. Alle wollen dann wissen, was ich an meinem Bahnhofsmontag Tolles erlebt habe. Darf ich denn fragen, wohin Sie fahren?“
Theo erzählte ihm von seinem wichtigen Termin in Elmshorn, seine Vorstellung bei der neuen Firma. Wilhelm fand das alles sehr interessant. Nach einer Weile sah Wilhelm auf die Uhr und sagte: “Da kommt mein Zug. Es tut mir leid, meine junger Freund, aber ich muss jetzt leider gehen.“ Erst jetzt bemerkte Theo, wie schnell die Zeit vergangen war. Wilhelm drückte ihm die Hand und sagte: “Vielen, vielen Dank nochmals für Ihre Hilfe!“
Theo sah ihm nachdenklich nach, wie er mit seinem alten, abgewetzten Koffer zum gerade eingelaufenen Zug ging und einstieg.
Einige Minuten lang saß er auf der Bank, bis er hörte, dass sich die Abfahrt seines Zuges um zehn Minuten verzögern würde.
Er sah sich um und entdeckte in der Nähe eine Telefonzelle.
Ohne lange zu überlegen betrat er die Zelle und wählte eine Nummer. Nach dem zweiten Läuten wurde der Hörer abgenommen.
„Sander?“ meldete sich eine alt klingende Stimme. Theo lächelte.
„Hier auch Sander. Hallo Opa, ich wollte nur mal wieder hören, wie es dir so geht.“