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Bahnhofsmarianne
Die Bahnhofsmarianne erwischte mich jedes Mal.
Keine Ahnung, wie sie das machte – immer, wenn ich das Winnstädter Amtsblatt in ihren Briefkasten stecken und schnell weiterfahren wollte, stand sie schon hinter der Tür, kam rausgewatschelt und grinste ihr befremdliches Bahnhofsmariannengrinsen.
Ach, die Svenja!, sagte sie dann.
Die Bahnhofsmarianne gehörte zum gleichen Kaliber wie der Flaschensiggi und der Heck-Mann. So komische Leute halt, vor denen man als Kind Angst hat und über die man sich später lustig macht.
Von hinten sah sie ein bisschen aus wie ein Meerschweinchen, mit ihren breiten Hüften und dem wadenlangen Rock, aus dem zwei Stummelbeine hervorschauten, und von vorne, mit ihrem Damenbart und den runden Augen, erinnerte sie an eine verwirrte Kegelrobbe. Niemand nahm sie ernst, aber ihr Blick war extrem irritierend. Es war bizzar – man hatte den Eindruck, sie konnte damit in einen hineinsehen, an Stellen, von denen man selbst nicht wusste, was sich dort befand. Aber sie wusste es, und deshalb lächelte sie. Lächelte ganz leicht, wie jemand, der einen ertappt hat, aber es nicht verraten wird. Dabei war sie einfach nur schwachsinnig.
Jeder kannte sie. Sie saß oft auf dem Spielplatz herum und sang alte Schlager, manchmal ging sie in die Kirche, und an Marktagen stellte sie sich stundenlang neben den Gemüsestand vom Hermannshof, grinste allen Leuten von schräg unten ins Gesicht und sagte Hallo! Geht’s gut? Geht’s gut?, und immer zog sie ihren Einkaufstrolley hinter sich her wie einen räudigen Hund. Ab und zu hob sie ein paar Kieselsteine auf, flüsterte etwas und stopfte sie da rein.
Manchmal saß sie mit dem Flaschensiggi, dem Ortsmeister im Saufen, auf der Bank vorm Bäcker und beide erzählten sich Unsinn.
Sie wohnte allein in diesem winzigen Haus neben dem stillgelegten Bahnhof. Das Haus mit den blinden Fenstern und den vergilbten Gardinen. Vor meiner Zeit war das, als dort noch Züge hielten. Danach waren die Leute alle weggezogen und nur die Bahnhofsmarianne übriggeblieben.
Ich stöpselte die Kopfhörer ein, wählte meine Lieblingsplaylist, und los ging‘s – ab durch die Straßen, überall dorthin, wo jemand dieses Heft abonniert hatte, dieses stinklangweilige Ortsblatt, in dem drin stand, dass die Senioren letzten Mittwoch zusammen Kaffee getrunken und die Herren vom TV Winnstädt 1895 im Kegeln gewonnen hatten. Ich machte den Job eigentlich ganz gerne, jedenfalls im Frühjahr und im Sommer, wenn schönes Wetter war. Es fühlte sich erwachsen an, wie richtig arbeiten. Nicht, dass ich mir für später vorstellte, so einen Beruf zu haben, aber für den Anfang war es gut und außerdem hoffte ich jedes Mal, Tim zu begegnen, dem Tim, der meine Atmung beschleunigte und der mich albern lachen ließ und in dessen Nähe sich meine Nase bewegte, Witterung aufnahm, als wäre ich irgendein Tier. Er machte einen ähnlichen Job wie ich und fuhr Medikamente aus für die Rathaus-Apotheke; vielleicht könnten wir irgendwann ein Stück nebeneinanderher fahren und ein bisschen quatschen und uns gemeinsam cool und erwachsen fühlen, wir hätten Wind in den Haaren und …
Ja.
Als ich das erste Mal am Haus der Bahnhofsmarianne hielt, um das Amtsblatt in ihren Briefkasten neben der Haustür einzuwerfen, bekam ich fast einen Herzstillstand vor Schreck, als ruckartig die Tür aufgerissen wurde, Gruftgeruch ins Freie waberte und sich mir dieses runde Grinsegesicht entgegenschob: „Hallo! Geht’s gut? Geht’s gut?“
„Geht gut“, sagte ich, aber mein Herz schlug jetzt doppelt so schnell wie normal, versuchte, davonzugaloppieren, Heilige Scheiße – What the Fuck – verdammte Irre!, und ich sprang auf mein Rad und machte, dass ich fortkam.
Sie hatten die Stühle vor das Eiscafé gestellt, obwohl es noch viel zu kalt war, um draußen zu sitzen, aber trotzdem freute ich mich, das zu sehen, und auch der kühle Fahrtwind schmeckte schon ein bisschen nach Frühling.
An der Apotheke fuhr ich immer ganz langsam vorbei, um Tim die Möglichkeit zu geben, mit seiner Ladung Medikamente genau in dem Moment dort herauszukommen, aber das klappte leider nie, und dieses Mal kam ausgerechnet der Heck-Mann aus der Tür und ich machte mich schnell aus dem Staub.
Der Heck-Mann war unberechenbar. Meistens sah er auf trügerische Weise fast aus wie ein beliebiger, langweiliger Kerl mit Stirnglatze, über die sich allerdings eine breite, rote Narbe zog – eine Naht, welche die Glatze zusammenhielt und alles einschloss, was auch immer darunter liegen mochte und ihn zum Heck-Mann gemacht hatte; und wenn er einem also ganz stinknormal entgegenkam, passierte es, dass er unvermittelt seinen Kopf zur Seite riss, als hätte er einen Schuss abbekommen, und ein lautes Heck! in die Luft brüllte, markerschütternd, und dann vielleicht noch eins: HECK! – als hätte er ein Megaphon im Kehlkopf implantiert, und wir erschraken jedes Mal wieder bis auf die Knochen, obwohl wir wussten, dass es kommen würde – nur eben nicht, wann.
Trotzdem war der Heck-Mann verheiratet – natürlich nicht mit einer normalen Frau, sondern mit der Schlampe von Winnstädt. Diesen Spitznamen hatten wir uns nicht ausgedacht, der war ihr bereits verliehen worden, lange bevor wir anfingen, solche Sachen zu registrieren. Sie hatten mindestens sechs mausgesichtige Kinder, von denen die kleineren entweder an ihrer Mutter klebten wie verrotzte Marshmallows, oder vom Heck-Mann durch die Gegend geschoben wurden, übereinandergestapelt in einem zerbeulten Kinderwagen, allesamt mit extravaganten Namen versehen wie Roxane, Romeo, Leander, Scarlett und so weiter, wahrscheinlich als Kontrapunkt zu ihrer tristen Existenz. Nur Romeo, der Älteste – eine Klasse über mir –, war völlig aus der Art geschlagen: viel zu hübsch für den Rest der Familie, mit intelligentem Gesicht und einem zornigen Blick in seinen dunklen Augen. Garantiert als Baby vertauscht, sagten manche, oder gestohlen. Er hatte keine Freunde und man sah ihn nie lächeln, und ich konnte das verstehen; ich fragte mich, wie sich das anfühlte, was für ein beschissenes Leben das sein musste, wenn man der Sohn vom Heck-Mann und der Schlampe von Winnstädt war.
Ich hatte den alten Bahnhof ans Ende meiner Tour gelegt, weil danach keine Häuser mehr kamen, nur noch der Feldweg zum See, und auch dieses Mal passierte es fast wieder, dass ich so schlimm erschrak. Ich war bereits im Feierabendmodus und summte den Song mit, den ich gerade hörte und überlegte, ob ich anschließend noch ein bisschen durch die Gegend fahren würde, einfach so, und ja: wegen Tim, und dass es sicher bald warm genug wäre, um im See … „Hallo! Geht’s gut? Geht’s gut? Ach – die Svenja!“
Sie kannte meinen Namen …
Keine Ahnung, woher und warum. Wir hatten noch nie etwas miteinander zu tun gehabt. Gut, ich kannte ihren Namen auch, aber – ich meine: sie war die Bahnhofsmarianne.
„Kannst du mir helfen, Svenja? Helfen?“, fragte sie und blinzelte mich mit ihren Robbenzwinkeraugen an. „Komm rein, ja?“
Man tanzte nicht nackt durch die Straßen, man ritt nicht auf einem Schwein durch den Ort, und man ging auch nicht ins Haus der Bahnhofsmarianne.
Ich bewegte mich ja selbst auf dünnem Eis, mit meiner Mutter, die gerne ein Hippie geworden wäre, nur dass sie dafür mehrere Jahrzehnte zu spät auf die Welt gekommen war. Aber nun versuchte sie trotzdem, hier das Woodstock-Feeling am Leben zu erhalten. Deswegen hatte ich ja auch diesen Job angenommen, fuhr einmal in der Woche durch die Gegend und verteilte das öde Amtsblatt, um ein bisschen eigenes Geld zu verdienen, mit dem ich mir alltagstaugliche Sachen kaufen konnte, damit ich nicht länger dieses Zeug aus Mamas Dritte-Welt-Laden anziehen musste; vor allem sparte ich auf so ein Paar sauteure Nike Air Max. Wenn meine Mum das unbedingt durchziehen wollte, der letzte Hippie von Winnstädt zu sein, dann bitte ohne mich: ich musste hier zur Schule gehen und meine Jugend verbringen, und zwar unter Gleichaltrigen, die mit Rap groß wurden und in Nike-Turnschuhen und Klamotten von H&M.
Tim war natürlich immer cool gestylt, aber ich glaube, ich hätte ihn auch toll gefunden, wenn er in einen Sari gewickelt Polka getanzt hätte.
„Komm rein, ja?“
Ich fragte mich, was Miriam tun würde, wenn sie an meiner Stelle wäre, oder die anderen: Jana, oder Hannah Schilling, und die Antwort war eindeutig: nicht hineingehen – niemand würde das tun, aber dann – wie so oft – schob sich das gutherzige Gesicht meiner Mutter vor diese abweisenden Gedanken: Natürlich hilfst du der armen Frau!, sagte sie, im Hintergrund sangen die Beatles With a little help from my friends, und ein farbenfrohes Grüppchen von Mamas Freundinnen schwenkte ihre Batik-Ärmel im Takt.
Das Licht war anders – weniger irgendwie, gefiltert durch die engen Maschen der vergilbten Gardinen, die mich an das Hochzeitskleid einer lebendig begrabenen Braut erinnerten und deren Anblick mir die Luft abschnürte. Gerade hell genug, dass ich die Zeichnungen und das Radio sehen konnte und die vielen Pappkartons in den deckenhohen Regalen. Es war, als wäre das Licht aus einer anderen Zeit übriggeblieben, wie ein nachträglich colorierter Film, als wäre es jahrelang eingesperrt gewesen und verblichen wie alles hier, und die Welt da draußen hatte sich alleine weitergedreht – nur, dass ab und zu die Bahnhofsmarianne auf- und wieder zurückgesprungen war.
Es war kühl und roch nach Schlafzimmer, Keller und Gemüseeintopf. Ich glaubte, es irgendwo rascheln zu hören und ich dachte, Ratten können wenigstens fliehen.
An den Wänden hingen Bilder – solche, wie Kinder in der ersten Klasse sie mit Wasserfarben malen, auf einem flachen Tisch lag ein hoher Stapel von meinen Amtsblättern, und ich fragte mich, ob die Frau eigentlich lesen konnte.
Das Radio sah aus, als würde gleich Adolf Hitler daraus sprechen, aber sie hatte einen Schlagersender eingestellt, Ich traf sie irgendwo, allein in Mexiko, schmachtete jemand: Anita, antwortete die Bahnhofsmarianne. In einer Ecke lehnte der Einkaufstrolley, den sie immer dabei hatte, und einen kurzen, absurden Moment lang freute ich mich, ihn zu sehen.
Niemandem würde ich das hier erzählen, nicht einmal Miriam, deren Geht’s-noch-Gesicht ich schon vor mir sah, geschweige denn den anderen, und schon gar nicht meiner Mutter, die mit ihrer übergriffigen Präsenz in meinen Gedanken schließlich schuld daran war, dass ich in dieser Situation steckte.
Die Bahnhofsmarianne bat mich, ihr zwei der ganz weit oben liegenden Pappkartons herunterzuholen, weil sich darin etwas befand, was sie brauchte: „Grün und Gelb – ist ja Frühling!“
„Stimmt“, sagte ich mit trockenem Mund und kletterte auf einen Stuhl – logisch, dass sie mit ihren Meerschweinchenfüßen das nicht so gut hinbekam –, und nach einigem Balancieren und Umstapeln reichte ich ihr die gewünschten Kisten. Sie öffnete den Deckel des ersten Kartons wie ein selbstzufriedener Zauberer, der das obligatorische Kaninchen aus dem Zylinder zieht.
„Ah! Mein Grün! Hallo! Geht’s gut? Geht’s gut?“, rief sie in den Karton, und ich sah, dass sich darin verschiedene Farbtuben und Flaschen befanden, ausschließlich Grüntöne, und ich war froh, dass es so etwas Harmloses war.
„Ich zeige dir meine Kinder, ja?“, sagte die Bahnhofsmarianne mit verschwörerischem Nicken und Wahnsinn in den Augen; ich musste an Gläser mit konservierten Embryos denken, die in einer trüben Flüssigkeit schwammen und sagte, ich müsste jetzt allerdings gehen. Zum Frisör. „Schöne Haare. Wie der Papa,“ sagte sie und nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen ihre Finger. Sie hielt den Kopf schräg und stocherte mit ihrem Blick in meinem Inneren herum.
Ich kannte meinen Vater gar nicht.
Laut meiner Mutter war ich das Ergebnis einer Liaison mit einem schwedischen Klimaforscher, der kurz danach bei einer Polarexpedition ums Leben kam. Mehr bekam ich nicht raus. Ich war mir sicher, das war erfunden. Meine Oma vermutete einen verfilzten Althippie aus Matala, der selbstgebastelte Hanf-Armbänder verkaufte. Und was war das jetzt für Gerede?
Ich stieg auf mein Rad und fuhr zwei Runden um den See.
„Ach, die Svenja! Kannst du mir helfen? Wieder helfen?“
Diesmal brauchte sie das Rot, und während ich auf dem Stuhl stand und mit den Kartons jonglierte, sangen die Bahnhofsmarianne und das Radio Ein Bett im Kornfeld.
Ich überlegte, ob ich sie fragen sollte, was sie gemeint hatte, mit Wie der Papa.
„Ah! Mein Rot!“, freute sie sich, „Geht’s gut?“, und als ich vom Stuhl gestiegen war grinste sie wieder auf ihre verschwörerische Art und zeigte mit ausladender Geste auf den Tisch. Er war vollgestellt mit kleinen Kartons, Streichholzschachteln und anderen Mini-Boxen, und die Bahnhofsmarianne stellte sich stolz daneben, als wäre sie ein Drogenfahnder, der eine LKW-Ladung Heroin hochgezogen hat. „Meine Kinder“, sagte sie, und mir stockte das Blut. Vorsichtig schob sie eine der Schachteln auf, hielt sie dicht unter ihr rechtes Auge, flüsterte etwas hinein, öffnete sie etwas weiter und legte sie direkt vor mir auf den Tisch.
„Michaela“, sagte die Bahnhofsmarianne und sah mich erwartungsvoll an.
Michaela war ein Kieselstein mit aufgemaltem Gesicht und angeklebten Haaren, grau, strohig und verfitzt. Sie stellte mir auch die anderen vor: Marlen, Johnny Blue, Anita, Theo, Santa Maria und so weiter; sie sahen alle ähnlich schlimm aus und ich glaube, es war das Armseligste und Traurigste, was ich jemals gesehen hatte.
„Cool“, sagte ich.
Im selben Moment, als ich aus der Tür trat und die Bahnhofsmarianne fröhlich Bis bald, Svenja! rief, kam Romeo auf seinem Rad vorbeigefahren, Anglerrucksack auf dem Rücken und eine Ladung bedauernswerter Fische auf dem Gepäckträger –, und wirklich: dieser unselige Hurensohn, der geklaute Balg vom Heck-Mann, drehte langsam den Kopf zur Seite, hob süffisant die Augenbrauen und grinste mir rotzfrech ins Gesicht.
„Ich zeige dir die Eltern, ja? Ja?“, sagte die Bahnhofsmarianne, legte einen Finger an den Mund und lief auf Zehenspitzen zum Tisch, auf dem zwei Schuhkartons standen.
Ihr Museumsradio hatte sie diesmal auf einen anderen Sender eingestellt – der gleiche Rock- und Popsender, den ich zu Hause hörte, und ich kam mir vor wie eine Astronautin, die nach langer Zeit einen Funkspruch von der Erde empfängt.
„Weißt … du, wer mein Vater ist?“, platzte ich heraus. Ich hatte sie vorher noch nie persönlich angesprochen. Die Bahnhofsmarianne hielt den Kopf schräg, lächelte auf ihre seltsame Weise vor sich hin und sagte: „Das kann sein, kann schon sein, wenn es stimmt, aber die Väter sind immer schwierig – guck mal, Svenja, hier“, und dann zeigte sie auf die beiden Schuhkartons.
Ich betrachtete die Gesichter von Mama und Papa, zweier behaarter Steine, so groß wie Ratten, und im Radio spielten sie Legendary, meinen derzeitigen Lieblingshit. Natürlich sang ich jetzt nicht mit, aber trotzdem summte es ganz laut neben mir – ich rüttelte an meinen Ohren, wie, um nach dem Tauchen das Wasser rauszubekommen, doch es war echt: Mit ihrem brüchigen Altfrauenstimmchen und in Fake-Englisch sang die Bahnhofsmarianne den Refrain meines Lieblingssongs – Gurnebieläddschenns –, und die Melodie und der Rhythmus passten ganz gut. Ich starrte sie an und hörte zu, bis das Lied zu Ende war.
Sie grinste ihr Robbengrinsen.
„Schöne Musik“, sagte sie.
„Ja“, sagte ich.
Ich hatte die Sonnenbrille aufgesetzt und Shorts angezogen – meine Beine blass wie Altarkerzen, aber durchtrainiert und gut in Form; es roch nach frisch gemähtem Gras und die Luft war so selbstverständlich warm, als hätte es nie Kälte und Regen gegeben, oder nur in der dunklen Fantasie eines Pessimisten. Aus den Autos hämmerten dumpfe Bässe, Rasenmäher brummten im Background Chor, Vögel und Handys tönten um die Wette, HECK!, Ping-Pong-Bälle ploppten, und auf dem Spielplatz kreischten Horden von kleinen Kindern so schrill, als wären ihre Stimmen den ganzen Winter lang in dunklen Kisten eingesperrt gewesen.
Ich musste nur noch zur Bahnhofsmarianne, dann war ich fertig und wollte mich mit Miriam und Jana vor dem Eiscafé treffen, um den Sommer einzuläuten.
Vielleicht würde ich es heute schaffen, ohne dass sie mich bemerkte, hoffentlich, dachte ich, und in dem Moment, kurz vor ihrem Haus, rief mich eine Stimme von hinten, und es war, als würden alle Geräusche ringsum schlagartig verstummen: „He, Svenja! Warte mal! Fährst du auch an den See?“
Tim …
„Yep“, sagte ich – egal, dass ich gar keine Badesachen dabei hatte und eigentlich verabredet war –, und ohne den Kopf zur Seite zu drehen, als würde dort niemand hinter dem Eingang stehen und auf mich warten, um mir seine Enkel zu zeigen oder Rocksongs zu trällern, fuhr ich mit Tim am alten Bahnhof vorbei und runter den Weg zum See. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie die Tür geöffnet wurde, ich spürte, wie zwei runde Augen mir ungläubig hinterherschauten, wie die Blicke sich in meinen Rücken bohrten, hörte, wie es leise „Svenja!“ rief –, aber die Sommergeräusche waren lauter und Tim merkte es nicht, und ich dachte, so weit kommt es noch, dass ich mir von der Bahnhofsmarianne ein schlechtes Gewissen machen lasse!
Ich setzte mich zu Miriam und den anderen auf die Decke, und dann kam Tim dazu. Es war eng und lustig, wir blödelten herum, Tim saß neben mir, unsere Arme und Beine berührten sich und keiner rutschte zur Seite. Die anderen kicherten albern, nur ich war ganz still, und wenn ich doch etwas sagte, klang es rau und tief, als wäre ich eine Kettenraucherin. Es war schon richtig heiß und es ging nur ein ganz leichter Wind. Immer wieder hörte man es kreischen, platschen und spritzen, wenn jemand vom Bootsanleger ins Wasser sprang. Am liebsten hätte auch ich mich mit meinen Sachen einfach in den See geworfen.
„Ich muss dich mal was fragen - kommst du kurz mit rüber?“, sagte Tim und nickte in Richtung des Klamottenhaufens hinter uns. „Klar ... Kann ich machen“, sagte ich mit fremder Stimme, und dann gingen wir und setzten wir uns auf sein Handtuch.
Arschbombeeee! brüllte irgendwer. Neben uns wurde ein Delfin aufgepumpt. Mütter verscheuchten Wespen und beruhigten ihre quengeligen Kleinkinder mit Reiswaffeln und Apfelstücken aus Tupperdosen.
„Und, was eigentlich?“, fragte ich.
„Ach so“, sagte Tim. „Ja. Eigentlich wollte ich nur mal … Eigentlich nur so …“ Wir saßen beide mit den Gesichtern zum See, als wäre er eine Kinoleinwand, und gebannt sahen wir zu, wie die Leute ins Wasser sprangen. Romeo legte einen formvollendeten Kopfsprung hin. „Heck!“, sagte Tim, als Romeo untergetaucht war. Ich kicherte leise, aber dann rief ich ebenfalls „Heck!“, und wir fingen an zu lachen wie die Blöden, und wenn wir uns beruhigt hatten, machte wieder einer von uns Heck!, und wir kicherten erneut und taten so, als wäre es das Lustigste auf der Welt. „Schluss jetzt, aber!“, sagte Tim mit gespielter Strenge, und als ich immer noch nicht aufhörte, drückte er endlich seinen Mund auf meinen und brachte mich zum Schweigen.
Mitten in der Nacht fuhr ich noch einmal los und steckte das Amtsblatt bei der Bahnhofsmarianne in den Briefkasten – es war das erste Mal, dass sie mich nicht abpasste, gute Idee eigentlich, dachte ich, mache ich jetzt immer so.
Grillen zirpten, die Luft war noch warm, und der Mond stand über dem Ende der Straße wie ein chinesischer Gong.
Wir trafen uns jeden Tag am See. Winnstädt war der schönste Ort der Welt.
In der zweiten Woche, am Ende unserer Tour, die wir neuerdings zusammen fuhren, gingen wir in den Laden und kauften uns ein XXL-Strandtuch, jeder bezahlte die Hälfte; es war grün und flauschig, viel zu groß eigentlich, und es fühlte sich an wie unsere erste gemeinsame Wohnung.
Wir fuhren nebeneinander her, der warme Wind blies uns die Haare aus dem Gesicht und meine Haut kam mir vor wie ein neuentdeckter Körperteil, unverwundbar an allen Stellen, die Tim berührt hatte, und es war, als hätte jemand die Schutzfolie von meinen Lippen abgezogen und sie, frisch glänzend, ihrer wirklichen Bestimmung zugeführt, und für immer würde ich diesen krassen Duft in der Nase behalten, nach Seetang, Frottee, Bier, Sonnencreme und etwas anderem, was es vorher nicht gab.
Der Sommer war da, mein Leben hatte begonnen – unser Leben hatte begonnen, wir waren cool und erwachsen, und Yeah – we're gonna be legends!
Anfang September fuhr niemand mehr zum Baden an den See, es regnete oft und wurde immer kälter.
Einmal war ich später gekommen und hatte Tim gesehen, wie er mit Hannah Schilling auf unserem Strandtuch herumknutschte – es wäre nichts, hatte er gesagt, wäre nur Spaß gewesen –, ich versuchte irgendwie, das zu glauben, aber bald darauf war trotzdem Schluss.
Vielleicht hatte es auch nie richtig angefangen, wer wusste das schon.
Egal.
Ich kam nur noch einmal zum See und saß wieder bei Miriam und den anderen, doch offensichtlich hockte Romeo jetzt öfter bei ihnen –, ab da hatte ich endgültig keine Lust mehr. Und dann begann sowieso das schlechte Wetter.
Meine Tour war fast zu Ende. Das Winnstädter Amtsblatt war das gedruckte Eingeständnis der provinziellen Trostlosigkeit, und genauso öde war der Job, es zu verteilen, aber spätestens in drei Jahren würde ich hier weg sein. Es gab auch keinen Grund mehr, der Bahnhofsmarianne die Zeitung heimlich bei Nacht und Nebel vorbeizubringen –, sollte sie doch rauskommen – Ach, die Svenja! – das konnte sie gerne tun, Die Svenja hat keine Zeit, würde ich sagen, Die Svenja hat verdammt nochmal keine Zeit mehr! – und weg wäre ich: so einfach ging das.
„He, Blumenkind, besuchst du wieder deine Freundin?“, hörte ich es rufen, dann schob sich ein Fahrrad in mein Blickfeld, eine Junge mit braunen Haaren und einem dämlichen Anglerrucksack auf dem Rücken.
„Verpiss dich, Romeo!“, rief ich.
Ich steckte das Ortsblatt in den Briefkasten der Bahnhofsmarianne, ich musste ein bisschen nachschieben, damit es reinpasste, die Box war voll irgendwie, ich sah durch den Schlitz zwei ältere Amtsblätter darin liegen, vielleicht auch mehr, das war schwer zu erkennen. Ach, die Svenja! sagte niemand, die Tür ging nicht auf, obwohl ich jetzt richtig laut am Briefkasten herumrüttelte, um die Zeitung darin zu versenken, und ich wünschte, ich wäre mir wirklich sicher, es nicht schon vorher bemerkt zu haben.
Viele waren nicht gekommen: jemand von der Gemeindeverwaltung, der Pfarrer, zwei Leute, die ich nicht kannte und der Flaschensiggi.
Ich lehnte in einiger Entfernung an der Mauer und lauschte dem Rascheln der trockenen Blätter über mir, sah ihnen zu, wie sie lautlos zu Boden fielen. Der Wind trug ein paar Wortfetzen herüber, das Gurren einer Taube und das Husten vom Flaschensiggi.
Es war noch einmal warm geworden, die Sonne gab alles und die Schatten der Zweige bewegten sich wie die Lamellen einer Jalousie, die man mit den Fingern auf und zu schiebt.
„ … aber Marianne Fürst hat in ihrem Leben …“, sagte der Pfarrer, und irgendwo bellte ein Hund.
Es war, als hörte ich diesen Nachnamen zum ersten Mal. Ich hatte ihn immer wieder an ihrer Tür gelesen, aber nie darüber nachgedacht, ihn nie wirklich in Zusammenhang mit der Bahnhofsmarianne gebracht, als wäre er nur eine in Buchstaben umgewandelte Hausnummer, als wäre er zu groß für sie; und nun stellte ich mir vor, es hatte hier einmal zwei junge, verliebte Leute mit Fünfziger-Jahre-Frisuren gegeben, die ganz glücklich waren über ihr neugeborenes Baby, auf dessen rosa Armbändchen Marianne Fürst stand – ein Name, mit dem man alles werden konnte: Filmschauspielerin oder Nobelpreisträgerin oder Schlagersängerin – aber das hatte sie komplett vermasselt, sie war hiergeblieben und einfach nur die Bahnhofsmarianne geworden.
Ich stöpselte die Kopfhörer ein und stieß mich von der Mauer ab,
über mir im Baum raschelten die Blätt…,
und deshalb werden wir Mari…,
und irgendwo bellte der Hun…,
WHAT WE'RE DOING HERE AIN'T JUST SCARY, IT’S ABOUT TO BE LEGANDARY – maximale Lautstärke –, und es war absurd, es konnte nicht sein: die Bahnhofsmarianne lag da vorne in diesem Sarg und war so tot wie der Dreck unter meinen neuen Nikes, und trotzdem spürte ich genau, wie ihre Blicke sich in meinen Rücken brannten, und ich wusste, dort würden sie für immer bleiben.
Wir saßen vor dem Eiscafé, die Beine langgestreckt und die Gesichter in der Sonne. Vor mir stand ein riesiger Krokant-Eisbecher und Mama trank einen Latte Macchiato. Ich hatte sie eingeladen. Wir sprachen nicht viel – das war okay, aber irgendwann startete ich einen neuen Versuch: „Glaubst du nicht, ich bin inzwischen alt genug, um zu wissen, wer mein Vater ist?“. „Mille Grazie“, sagte der Kellner zu jemandem am Nachbartisch, als wäre er ein echter Italiener. Ich schob mir einen Löffel Eis in den Mund und überlegte, wie lange ich die Luft anhalten könnte. Mama rührte in ihrem Kaffee, strich sich eine Strähne aus der Stirn und ihr Blick sagte Eigentlich ja.
„Ich will auch ein Eis!“, rief ein kleines Mädchen, das an unserem Tisch vorbeigezogen wurde. „Heute nicht, Scarlett“, sagte Romeo, der es an der Hand hielt. Er sah mir kurz in die Augen, nickte, und ich nickte zurück, als wären wir ganz normale Menschen.