Bahnhofsgeschichte
"Bahnhofsgeschichte"
Das erste Mal sah er sie in der Bahn. Ebenso das zweite und dritte Mal. Immer stieg sie an der gleichen Station ein, um dann drei Stationen später wieder auszusteigen. Sie war schön, mit ihren langen, schwarzen Haaren und den großen Augen. Nur deshalb fiel sie ihm eines Tages auf. Die nächsten Tage achtete er nicht darauf, aber jedesmal zur gleichen Zeit stieg sie wieder dort ein, wo er sie das erste Mal gesehen hatte und stieg drei Stationen weiter aus. Eine Woche später sah er sie wieder. Genau wie am Tag drauf und allen folgenden bis zum Freitag.
Niemals hatte sie eine Tasche oder einen Rucksack dabei. Nie sah er sie mit einer Zeitung, oder einem Buch. Nie benutzte sie ein Handy, oder hörte Musik. Immer saß sie bloß da und schaute aus dem Fenster hinaus. Jeden Tag zogen die Schrebergärten, die Schnellstraße und das Parkhaus vorbei, ehe sie ausstieg und er weiterfuhr und über sie nachdachte.
Bald gewöhnte er sich daran darauf zu warten, dass ihre Station kam und sie einstieg. Es gab keinen Anlaß für ihn anzunehmen, dass sie ihn jemals gesehen hatte, wenn er dort, eine Sitzreihe weiter, getrennt durch Plastikglas, saß und sie nachsinnend anblickte. Dennoch war er jedesmal ein wenig traurig, wenn sie wieder ausstieg.
Wie sie wohl hieß? Was sie wohl tat? Er wußte es nicht, hatte auch keinen Anhaltspunkt für die Antwort auf eine der beiden Fragen. Sie blieb immer bloß das schöne Mädchen, das drei Stationen fuhr und dann ausstieg.
Niemals hatte er sie reden hören und niemals war sie mit jemanden in die Bahn gekommen, immer fuhr sie allein. Manchmal hatte er gedacht, sie sei stumm, könne gar nicht sprechen. Eines Montags aber sah er, wie sie einer alten Dame erklärte welche Haltestelle, die gesuchte war. Ihre Stimme war ebenso schön, wie ihr Äußeres. Sie sprach sehr leise, dabei sehr deutlich und mit einer warmen Stimmfärbung. An diesem Montag sah er sie zum ersten Mal lachen. Ihr Lächeln war zauberhaft, sie hatte ebenmäßig, weiße Zähne und sanft geschwungene Lippen, überhaupt ein wunderschön geformtes Gesicht. Es war eine ungewohnte Geste, dieses Lachen, niemals zuvor und niemals später hatte er sie lächeln sehen. Und als wenn er um die Einmaligkeit dieses Ereignisses gewußt hätte, prägte er sich diesen Moment ein, damit er sich einmal daran erinnern könne.
Eines Tages wurde sie von drei Jugendlichen bedrängt, die sie mit anzüglichen Worten und Gesten bedrängten. Er wollte einschreiten, als es drohte ärger zu werden, aber da kam ihre Station und sie stieg, ohne die Jugendlich mit einem Wort zu würdigen, aus. Er setzte sich wieder hin. Vielleicht ein wenig enttäuscht.
So ging es Wochen. Jeden Tag in der Woche stieg sie zu selben Zeit ein und wieder aus. Nichts geschah, was ihn ihr näher brachte und er unternahm auch nichts in diese Richtung. Bis zu dem Tag, als die Bahn so überfüllt war, dass er nicht seinen angestammten Platz einnehmen konnte, sondern sich auf ihren Platz setzen mußte. Als sie einstieg, erhob er sich und bot ihr den Platz an. Sie nickte bloß, sagte nichts, lächelte nicht. Er stand drei Stationen wenige Zentimeter von ihr entfernt, betrachtete ihr Gesicht, das ohne Makel war, schaute in ihre Augen, die so dunkel wie ihr Haar waren und verspürte, dass er sich in sie verliebt hatte ohne sie zu kennen.
Wie immer, stieg sie auch dieses Mal an der selben Station aus. Diesmal jedoch ging auch er. Er wußte nicht wozu. Was sollte er tun? Was sollte er ihr sagen? Es gab nichts, woran er anknüpfen konnte. Dennoch ging er mit, vielleicht um zu sehen, wohin sie immer ging, ob sie dort wohnte oder arbeitete. Vielleicht aber auch nur von einer diffusen Hoffnung angetrieben.
Der Bahnhof war wie so viele, in grau gehalten, mit zwei Gleisen, eines in die Stadt hinein, eines aus der Stadt heraus. Die Wände waren plakatiert mit Konzertterminen von Bands und Musikern, die niemand kannte. Allgegenwärtig waren die Graffitis der Jugendlichen und die Tauben, die wohl auf jeden Bahnhof zum Bild gehörten. Einzig außergewöhnlich war ein Kiosk, der in seiner grellen Buntheit in dieser tristen Umgebung furchtbar deplaziert wirkte und aus dem türkische Folklore den Bahnsteig beschallte.
Es war nicht schwierig ihr zu folgen, nicht nur, weil bloß ein paar Menschen an dieser ausgestiegen waren. Sie ging nicht weit, nur bis zu einer Bank, die am Anfang des Bahnhofs stand und den Blick auf eine Straße ermöglichte, welche unter dem Bahnhofsgebäude verlief. Dort setzte sie sich hin und betrachtete die Straße, den Verkehr und die vorbei eilenden Männer und Frauen.
Er verstand nicht was sie dort tat, oder besser, er begriff nicht, warum sie nichts tat. Zwei Bahnen fuhren vorbei und sie saß noch immer da, ohne sich auch nur bewegt zu haben. Da beschloß er den Kioskbesitzer zu fragen, ob sie dies immer tat, nur dort sitzen und beobachten. Der Kioskbesitzer war ein älterer Türke mit einem Schnauzbart, der gerade in der Hurrieyet las.
"Entschuldigen sie."
"Ja, bitte?"
"Kennen sie die junge Frau dort vorne?"
"Sicher kenne ich sie. Sie kommt jeden Tag um diese Zeit."
"Was tut sie denn dann?"
"Sie sitzt bloß da, manchmal fütterte sie die Tauben." Er schaute auf die Uhr, die 19:32 zeigte. "Gleich wird sie wieder fahren. Wieso fragen sie?"
"Nur so. Sie ist mir die letzten Tage hier aufgefallen," log er und nahm nächste Bahn, die in den Bahnhof einfuhr.
Die folgenden Tage geschah nichts. Alles war wie immer, sie stieg ein und aus und er fuhr weiter, in Gedanken über sie versunken. Am übernächsten Freitag aber, es war der 11.4. stieg er erneut an der selben Station wie sie aus. Diesmal mit dem festen Willen mit ihr zu reden. Zu quälend war in den letzten Tagen der Gedanke daran gewesen niemals mit ihr gesprochen zu haben, niemals versucht zu haben eine Chance zu nutzen. So setzte er sich neben sie auf die Bank. Sie schwieg. Er schwieg. Die Zeit verging, die ersten beiden Bahnen kamen und fuhren wieder. Mit der nächsten Bahn würde sie wieder fahren. In einiger Entfernung hörte er die Bahn schon kommen. Da erhob sie sich und schaute ihn an. Vielleicht zum ersten Mal sah sie ihn auch.
"Darf ich dich was fragen?"
Einen kurzen Augenblick wußte er selbst auf diese einfach Frage keine Antwort. Dann sagte er: "Sicher."
"Hast Du jemals geliebt?"
Er war verwirrt und hatte einige Mühe seine Gedanken zu ordnen. "Ich...weiß nicht."
Sie lachte ein warmes Lachen, das sein Herz erschaudern ließ. "Nein, dann nicht. Hättest Du, wüßtest Du es. Es gibt nichts vergleichbares, wie wahre Liebe."
Er nickte bloß stumm. Die Bahn war fast da, sie näherte sich dem Gleis.
"Sollte man dann nicht jede Chance, selbst die kleinste, nutzen um bei dem zu sein, den man liebt?" fragte sie.
"Ich...ich denke schon," erwiderte er und wollte sie fragen, was sie meinte, als der Lärm, der einfahrenden Bahn alles übertönte. Er sah noch, wie sie ihn anlächelte, wie ihr Haar vom leichten Wind verwehte wurde, wie schön sie doch wirklich war, als sie sprang. Die Bahn ergriff ihren zarten Körper. Sie war sofort tot.
Sie hieß Nina, war 21 Jahre alt, studierte Germanistik und Kunst, sie hatte eine Katze, die sie Ally genannt hatte. Sie lebte in einer geräumigen Altbauwohnung, in der Nähe der Uni, wo niemand der Nachbarn ihren Namen kannte. Ihr Freunde und Kommilitonen hielten sie für einen großartigen Menschen, voller Liebe und Wärme und ihre Eltern waren so stolz auf ihre wunderschöne Tochter, die alle Chance der Welt hatte. Nina war Single.
Vor einem Jahr, am 11.4., um 19:35 war ihr Freund Chris vor die einfahrende Bahn gesprungen. Er war die Liebe ihres Lebens gewesen.