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Bahnhof Sternberg
Sie war fasziniert vom Anblick dieser Landschaft, die harmonischer nicht hätte sein können. Der kleine Ort war von Hügeln umgeben, auf denen die verschiedensten Bäume, Sträucher und Blumen wuchsen. Auf einer Lichtung, die von einem dichtem Tannenwald umgeben war, konnte man einen Hochstand erkennen, vor dem ein Jäger mit seinem Hund stand. Das Gewehr, das er geschultert hatte, musste man nicht ernst nehmen, man hatte das Gefühl, dass es niemals Unheil anrichten würde. Sie hätte den Jäger gerne nach dem Namen seines Hundes gefragt, ihm gesagt, dass zwischen den Tannen ein Reh an einer Futtergrippe stand. Aber das ging nicht.
Der Ort selbst, der von einem Marktplatz beherrscht wurde, bestand aus wunderschönen Fachwerkhäusern. In manchen Fenstern brannte schon Licht, obwohl es eigentlich noch nicht nötig war, die Beleuchtung anzustellen. Aber gerade dieses Licht ließ alles noch wärmer erscheinen. Sie hätte gerne gewusst, was hinter den Fenstern war, aber wie sollte sie das erfahren. Auf den Straßen herrschte reges Treiben, alle hatten etwas zu tun, schienen in Unterhaltungen zu verharren oder an den Marktständen einzukaufen. Worüber sie wohl sprachen, was sie beschäftigte? Sie bedauerte, dass sie das nicht erfahren würde. Am Brunnen, der in der Mitte des Marktplatzes stand, spielten Kinder zufrieden mit einem Ball. Hier hätte sie zu gerne mitgespielt, die Kinder nach ihren Namen gefragt, vielleicht ein bisschen mit dem Wasser aus dem Brunnen umher gespritzt. Einige, wenige Autos befuhren die engen Straßen. Ein Lieferfahrzeug hatte die Ladeklappe geöffnet und versorgte das kleine Kaufhaus, auf dem mit großen, roten Buchstaben der Name „Kaufhaus Bergmann“ stand, mit neuen Waren. Hier schien alles seine Ordnung zu haben, es gab kein Durcheinander, ganz offensichtlich keine Konflikte, hier lebte man gerne, das konnte man deutlich erkennen.
Am Rande der Stadt befand sich ein kleiner Bahnhof. Reisende standen auf dem Bahnsteig, warteten auf den Zug, der sich in der Ferne schon ankündigte. Wohin sie wohl fuhren, besuchten sie jemanden oder freuten sie sich schon auf einen Urlaub, weit weg von hier? Die Bahnhofsuhr schien stehen geblieben zu sein, da es allmählich dunkel wurde, die Zeiger der Uhr aber den späten Vormittag anzeigten. Kleine Signale, die vor der Bahnhofseinfahrt aufgestellt waren, blinkten abwechselnd in rot und grün. Bald würden alle, die hier standen, wegfahren. Wie gerne würde sie mitfahren, mit all denen, die da standen. Das große Schild am Bahnhofsgebäude ließ die Reisenden wissen, in welchem Ort sie sich befanden. „Bahnhof Sternberg“ stand in schwarzen, verschnörkelten Buchstaben auf dem weißem Schild. Irgendwann würde nun der Zug einfahren, alle aufnehmen und dann in einem Tunnel verschwinden, der ein wenig außerhalb der Stadt lag.
Eine große Sehnsucht überkam sie beim Anblick dieser Szenen. Wie gerne wäre sie da gewesen, an der Hand ihrer Mutter oder mit den Kindern am Brunnen, inmitten des Marktplatzes oder einfach am Bahnhof stehend, um dann mit dem Zug ins Unbekannte zu fahren.
Eine Träne kullerte über ihre Wangen, sie wusste, dass sich diese Sehnsucht nicht erfüllen würde. „Kind, was ist denn los?“, hörte sie ihre Mutter fragen, die plötzlich neben ihr stand. „Ich wär so gerne in dieser Stadt, alles ist so schön da“, antwortete sie, während immer mehr Tränen über ihr Gesicht liefen. „Aber das ist doch eine Modelleisenbahn, eine Modellstadt, das ist doch nur ein Spielzeug, da kann man nicht leben“, sagte die Mutter, „schau doch mal, draußen ist es doch viel schöner und da ist alles wirklich“. Sie sah ihre Mutter ernst an, als sie sagte, „in Wirklichkeit ist alles nie so schön. Ich mag die Wirklichkeit nicht“.