Bahnfahren
Stunden bereits drehten sich seine Gedanken im Kreis... Marty wusste einfach nicht mehr, was er denken sollte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu heute Morgen zurück. Einem Morgen, der begann wie jeder andere Morgen und sich dann so gründlich von jedem anderen Tag unterschied wie sich ein Schmetterling von einer Motte unterschied.
Als Marty heute Morgen aufstand, blinzelte die Sonne durch einen Spalt zwischen den verdunkelnden Gardinen. Er verhieß einen weiteren heißen Sommertag. Marty hasste heiße Sommertage. Er war eher ein Winter und Schnee Typ. An eisigen Wintertagen, konnte er sich einfach besser entfalten, es schien als konnte er nur bei schneidender Kälte nachdenken – seinen Gedanken freien Lauf lassen. Doch an diesem Morgen, war es heiß und sonnig und allein deshalb fiel es ihm schon so schwer aufzustehen. Mühsam rappelte er sich auf seiner Schlafcouch auf, blinzelte die letzten schläfrigen Reste ihrer Müdigkeit weg.
„Komisch an was Gedanken alles so hängen blieben, wenn man Zeit hat, sie fließen zu lassen.“ dachte Marty. „Das mir ausgerechnet der Moment direkt nach dem Aufwachen so in Erinnerung blieb und ich absolut nicht daran erinnern konnte was und ob ich gefrühstückt hatte!“
Seit er auf eine neue Schule ging, musste er morgens etwa eine Stunde lang mit der Bahn fahren. Im Winter hatte er diese Stunde noch genossen, er konnte seinen Gedanken nachhängen, konnte die glitzernden von Schnee bedeckten Felder betrachten oder sich einfach auf den Tag vorbereiten. Doch mittlerweile, kam ihm die Fahrt beinahe wie ein Höllentrip vor. Und dies lag vor allem an Thom. Thomas Mildenberg.
Marty ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Wegen Thomas war Marty so durcheinander. Leise sprach er seinen Namen aus, es fühlte sich so verdammt gut an, ihn auszusprechen.
Thom geht mit Marty in eine Klasse. Er stieg jeden Morgen eine Station nach Marty ein und begann lauthals herumzupöbeln. An diesem Morgen gab er ein paar Geschichten über eine Liaison mit einer Helen preis. Er tat dies mit einer gewohnt lauten Stimme und brach dazwischen immer wieder in dreckiges Lachen aus. Einem Lachen, dem man einfach anhörte, das es nicht echt klang.
„Stimmt das? Oder bilde ich mir das nur ein? Weil ich ihn heute Morgen auch ganz anders gesehen hatte?“ fragte sich Marty leise. Schritt für Schritt ging er diesen Morgen wieder und wieder durch. Doch nichts veränderte sich. Die Dinge, blieben so wie er sie heute Morgen gesehen hatte.
Normalerweise, hätte Marty einfach seinen MP3-Player eingeschalten und mit den Kopfhörern so laut Musik gehört, dass er Thom nicht gehört hätte, doch aus irgendeinem Grund, schien er das heute nicht zu können. Marty schnappte sich seine Sachen und wechselte den Wagon. Wieder für sich alleine, begann er sich zu entspannen. Er hatte bereits beinahe zu seiner gewohnten Ruhe zurück gefunden, als jemand in sein Abteil eintrat. Es war Thom. Thomas Mildenberg – der Rüpel. Thom – der Sprücheklopfer. Thomas – der Aufreißer und Weiberheld.
Schweigend setzte er sich Marty gegenüber. Eine kleine Weile schwieg er, dann flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme: „Es gibt keine Helen. Ich hab sie nur erfunden.“ Neugierig geworden, blickte Marty auf. Er studierte Thoms Gesicht. Noch nie hatte er es so genau betrachtet.
„Wie weich er ausgesehen hat. Wie sanft doch seine Gesichtszüge sind! Darüber habe ich noch nie nachgedacht!“ schoss es Marty bei dieser Erinnerung durch den Kopf!
Marty schwieg. Er wusste nicht was er zu dieser Eröffnung sagen sollte. Er wusste generell nicht, worüber er mit Thom hätte sprechen können. Er mochte Thom nicht. Doch wenn er ganz ehrlich war, kannte er Thom einfach nur nicht. „Ich bin eigentlich nicht so.“ flüsterte Thom weiter. „Aber wenn ich so bin, wie ich bin, merken doch die anderen dass ich irgendwie anders bin.“ Und als hätte er etwas furchtbar dummes gesagt, ließ er plötzlich den Kopf hängen. Eine verstohlene heimliche Träne rollte ihm die Wange runter.
„Anders heißt nicht automatisch schlecht. Ich bin auch anders.“ Erwiderte Marty leise. Er hatte das Gefühl, es würde die Stimmung stören, würde er lauter sprechen. „Anders sein erfordert Mut. Ich bewundere dich dafür!“ Murmelte Thom, dann wischte er sich die Träne weg, stand auf und verließ das Abteil so abrupt, wie er gekommen war.
Anders. Auch das Wort ging Marty durch den Kopf. Er war anders. Er interessierte sich nicht für Fußball und Autos wie seine Mitschüler. Wenn sie über Frauen sprachen, hielt er sich immer zurück. Frauen, waren für Marty Freunde. Er sah sie keineswegs an seiner Seite und konnte sich nur schwer vorstellen sie zu küssen. Seit es für ihn klar war, stand er dazu, dass er schwul war. Ihm war es egal, was andere darüber dachten.
Es schmeichelte ihm, dass Thom ihn dafür für mutig hielt. Ihm kam es immer als selbstverständlich vor. War es das was er damit meinte er sei anders? Meinte er, dass er auf Jungs steht?
Dieses Gedankenchaos unterbrach das schrille Klingeln der Haustür. Schlurfend öffnete Marty die Haustür. „Mir ist heute Morgen der Mut ausgegangen. Tut mir leid! Ich bin bis über beide Ohren in die verknallt, seit ich du in unsere Klasse kamst.“ Da stand er abwartend vor der Tür: Thom. Thomas Mildenberg – der Junge, der ihm seit heute Morgen nicht mehr aus dem Kopf ging.
Lächelnd ließ er ich herein. Thom hatte seinen Mut gefunden und mehr war ihm nicht wichtig. Alles andere würde sich geben. Jetzt konnte Marty Thom kennen lernen. Den Thom, der anders war.