- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Bahnen
Sie hatte schon immer Pilotin werden wollen.
Während gleichaltrige Mädchen spielend vor Puppenhäusern saßen und von Märchenprinzen träumten, hatte Erin Pilotin werden wollen.
In ihrer ersten Physikstunde hatte Erin Pilotin werden wollen.
Selbst als in den Abendnachrichten von einem Flugzeugabsturz mit 350 Toten berichtet wurde, hatte Erin Pilotin werden wollen.
Ein ausgezeichnetes Abitur, Verständnis für Luftfahrttechnik und Ausdauertrainig brachten sie dem Kindheitstraum in kleinen Schritten näher. Ihr klares Ziel stets vor Augen, konnten sie weder verschwindend niedrige Frauenquoten noch enorme Ausbildungskosten abschrecken.
Das Bewerbungsverfahren war komplex, langwierig und stellte extrem hohe Anforderungen an die zukünftigen Flugzeugführer. Natürlich.
Erin schien sämtliche Grundvorraussetzungen zu erfüllen.
Wie es sich wohl anfühlt, wenn sich das erste Mal ein 70-Tonnen-Koloss unter den eigenen Händen in die Luft bewegt?
Endlich war es soweit.
Die Startgenehmigung erreichte das Cockpit, Kontrolllämpchen blitzten auf.
Nieselregen. Freie Bahn.
Die schwere Maschine setzte sich gemächlich in Bewegung. Die Räder drehten sich erst langsam und ruhig, allmählich schneller und schneller. Ungeduldig fegten sie über das Rollfeld. Das Surren der Triebwerke klang zunehmend lauter, schriller, fordernder.
Erin verspürte ein Kitzeln in der Magengegend.
Und dann, plötzlich und unendlich sanft, hob sie ab, dem Himmel entgegen.
Das monotone Summen der Motoren hat etwas Beruhigendes.
„Zucker oder Milch, Frau Außenministerin?“
Erin musste eingenickt sein und war soeben von der freundlichen Stimme der Stewardess geweckt worden. „Danke, schwarz.“
Der heiße Kaffee tat gut. Erin streckte sich aus und genoss die Beinfreiheit der ersten Klasse. Sie war unterwegs zu einer Konferenz in Kairo. Ein Blick aus dem Fenster zeigte Umrisse von Wäldern, Flüssen, die sich durch Täler schlängelten, Seen und weit in der Ferne liegenden schneebedeckten Bergen. Sehnsucht, die sie nur hier oben kannte, packte sie bei jedem Flug aufs Neue.
Ihren Arbeitsplatz über den Wolken hat Erin nie bekommen.
Noch eine Viertelstunde am Fenster wollte sie sich gönnen um anschließend ein letztes Mal ihre Akten durchzugehen, einzelnen Stellen den restlichen Schliff zu geben.
Auf der Konferenz heute würde sie brilliant sein.