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Bahnen

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22.09.2001
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Bahnen

Sie hatte schon immer Pilotin werden wollen.
Während gleichaltrige Mädchen spielend vor Puppenhäusern saßen und von Märchenprinzen träumten, hatte Erin Pilotin werden wollen.
In ihrer ersten Physikstunde hatte Erin Pilotin werden wollen.
Selbst als in den Abendnachrichten von einem Flugzeugabsturz mit 350 Toten berichtet wurde, hatte Erin Pilotin werden wollen.
Ein ausgezeichnetes Abitur, Verständnis für Luftfahrttechnik und Ausdauertrainig brachten sie dem Kindheitstraum in kleinen Schritten näher. Ihr klares Ziel stets vor Augen, konnten sie weder verschwindend niedrige Frauenquoten noch enorme Ausbildungskosten abschrecken.
Das Bewerbungsverfahren war komplex, langwierig und stellte extrem hohe Anforderungen an die zukünftigen Flugzeugführer. Natürlich.
Erin schien sämtliche Grundvorraussetzungen zu erfüllen.

Wie es sich wohl anfühlt, wenn sich das erste Mal ein 70-Tonnen-Koloss unter den eigenen Händen in die Luft bewegt?

Endlich war es soweit.
Die Startgenehmigung erreichte das Cockpit, Kontrolllämpchen blitzten auf.
Nieselregen. Freie Bahn.
Die schwere Maschine setzte sich gemächlich in Bewegung. Die Räder drehten sich erst langsam und ruhig, allmählich schneller und schneller. Ungeduldig fegten sie über das Rollfeld. Das Surren der Triebwerke klang zunehmend lauter, schriller, fordernder.
Erin verspürte ein Kitzeln in der Magengegend.
Und dann, plötzlich und unendlich sanft, hob sie ab, dem Himmel entgegen.

Das monotone Summen der Motoren hat etwas Beruhigendes.

„Zucker oder Milch, Frau Außenministerin?“
Erin musste eingenickt sein und war soeben von der freundlichen Stimme der Stewardess geweckt worden. „Danke, schwarz.“
Der heiße Kaffee tat gut. Erin streckte sich aus und genoss die Beinfreiheit der ersten Klasse. Sie war unterwegs zu einer Konferenz in Kairo. Ein Blick aus dem Fenster zeigte Umrisse von Wäldern, Flüssen, die sich durch Täler schlängelten, Seen und weit in der Ferne liegenden schneebedeckten Bergen. Sehnsucht, die sie nur hier oben kannte, packte sie bei jedem Flug aufs Neue.
Ihren Arbeitsplatz über den Wolken hat Erin nie bekommen.
Noch eine Viertelstunde am Fenster wollte sie sich gönnen um anschließend ein letztes Mal ihre Akten durchzugehen, einzelnen Stellen den restlichen Schliff zu geben.
Auf der Konferenz heute würde sie brilliant sein.

 

Hallo Eroica!

Deine Geschichte hat etwas Interessantes: Man kann sie sowohl als halbvolles wie auch als halbleeres Glas lesen.

Deine Protagonistin ist Außenministerin und träumt während eines Fluges von ihrem Kindheitstraum, Pilotin zu werden.
Nun kann ich lesen: Sie konnte sich ihren Traum nicht erfüllen und ist deshalb vielleicht traurig.
Oder ich kann lesen: Sie konnte sich zwar ihren Traum nicht erfüllen, aber sie hat einen Beruf, bei dem sie viel fliegen muß.

Jetzt tu ich mir schwer, eine Kritik anzubringen, da mir dafür Deine Intention wichtig wäre.
Wenn Du die Geschichte so schreiben wolltest, daß man sie von beiden Seiten her lesen kann, dann ist sie Dir gelungen. :)
Wenn Du sie aber in eine (der beiden genannten oder eine andere) Richtung schreiben wolltest, dann fehlen meiner Meinung nach auf alle Fälle gefühlsmäßige Informationen, die das deutlich machen.

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Susi,
vielen Dank für deine Kritik!

Deine Bemerkung "Man kann sie sowohl als halbvolles wie auch als halbleeres Glas lesen" hat mir gefallen, da ich genau diese Wirkung beabsichtigt hatte.

Natürlich ist Erin traurig, wenn sie, insbesondere beim Fliegen, an ihren Kindheitstraum denkt.
Andererseits ist sie sehr erfolgreich, vielleicht sogar weitaus erfolgreicher, als sie es als Pilotin gewesen wäre.
Die alte Sehnsucht hat sie allerdings nie losgelassen.

Auf zu viele gefühlsmäßige Informationen habe ich bewusst verzichtet, damit der Leser sich sein eigenes Urteil bildet.

Mein persönlicher Gedanke zur Geschichte war ganz einfach, dass man trotz eines verlorenen Traumes nicht aufgeben soll. Wenn Erin nur der Pilotenkarriere hinterhergetrauert und alles andere abgelehnt hätte, wäre sie schließlich keine Außenministerin geworden.
Erins Beispiel zeigt, dass es viele, mitunter sehr verschiedene "Bahnen" gibt, die ein Mensch einschlagen kann.
Möglicherweise ist sie nicht wirklich glücklich (wer ist das schon?), aber sie hat etwas aus ihrem Leben gemacht.

 

Hallo Eroica,

die Intention kommt, finde ich, sehr gut rüber. Auch der Satzbau, mit den relativ kurzen Konstruktionen untermauert das noch. Sie schweift nicht lange ab oder redet viel, sondern geht gerade ihren Weg.
Die Geschichte hat am Ende auch eine gute Wendung, was weitere Unterhaltsamkeit aufbaut.
Aber eine kleine Kritik habe ich trotzdem. Irgendwie stolper ich über die Wiederholung von "...hatte Erin Pilotin werden wollen...", dass hört sich nicht ganz so gut an. Benutz dafür am besten Synonyme. die Intention der Zielstrebigkeit würde dadurch auf keinen Fall geschmälert werden.

Alles Gute,
Jaster

 

Hi Eroica

Ich kann das Lob meiner beiden Vorredner leider nicht ganz teilen. Zwar ist deine Geschichte sehr kurz, aber trotzdem finde ich sie etwas zu sehr auf die Pointe ausgerichtet, zumal diese beinahe in der Mitte steht.
Auch sehe ich nicht die Möglichkeit, die Geschichte "von beiden Seiten" zu lesen, da ein Flug für eine Außenministerin vermutlich nicht sonderlich aufregend sein wird, wird wohl kaum ihr erster sein.

Da die Geschichte nur auf die Pointe aufbaut, fehlt natürlich auch die von Häferl bereits angesprochene Logik ein bisschen.

"Mein persönlicher Gedanke zur Geschichte war ganz einfach, dass man trotz eines verlorenen Traumes nicht aufgeben soll."
Im Text sehe ich keinen Grund, weshalb sie nicht Pilotin werden konnte, außer ihrer eigenen Entscheidung, sie scheint ja "alle Grundvorraussetzungen zu erfüllen."

"Auf zu viele gefühlsmäßige Informationen habe ich bewusst verzichtet, damit der Leser sich sein eigenes Urteil bildet."
Damit hast du sicher recht, aber ein paar Hinweise, und wenn es nur Andeutungen sind, sollten dem Leser schon gegeben werden ;)
Sonst könnte man bei jeder Geschichte sagen, dass nur die Leser nicht "gefühlvoll" genug lesen würden.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

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