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Back to Germany
Das war also Sommer in Deutschland, so blieb es auch ... Regen, die ganze Zeit. Es war kalt. Immerzu fror ich in Deutschland. Ständig hatte ich Husten und Schnupfen. In Afrika war ich niemals krank gewesen. Ich dachte an Daddy. An den Tag, als er aus der Stadt zurück gekehrt war. "Bald fliegen wir nach Hause, mein Schatz", hatte er voll Freude gesagt. Vier Jahre waren es gewesen, in unserem kleinen Dorf. Sonnige Jahre, die wir mit Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern verbracht hatten. Sie alle waren, wie auch mein Vater, an einem Gemeinschaftsprojekt verschiedener Stiftungen beteiligt gewesen. Der große Schritt aus der Apartheid war noch nicht gelungen. Doch es waren Weichen gestellt worden.
Gelangweilt sah ich aus dem Fenster. Fuhr mit dem Finger die Scheibe entlang, malte die Spuren der Regentropfen nach. "Nach Hause ...", dachte ich. Das einzige Zuhause, an das ich mich erinnern konnte, war in Afrika. Draußen war kein Mensch zu sehen. Niemand begrüßte den Regen, niemand tanzte, niemand sang. Es ärgerte mich.
Wütend zog ich meine Regenjacke an und lief raus auf die Straße. Ich streckte die Arme aus, drehte mich im Kreis, hielt mein Gesicht dem Regen entgegen. Er war bitterkalt. Mein Vater kam die Straße hochgefahren, parkte und stieg aus.
"Charly! Es ist zu kalt, um im Regen zu spielen!", rief er. "Es ist immer für alles zu kalt in Deutschland!", schrie ich ihn an. Mit voller Wucht sprang ich in eine Pfütze direkt vor ihm. Das Wasser spritzte auf seinen Anzug. Sein weißes Hemd war übersät mit bräunlichen Flecken. Zornig blinzelte ich ihn an. Wartete auf das Donnerwetter. Doch es kam keines. Er zog sein Jackett aus, legte es auf das Dach seines Wagens. "Warte nur, wenn ich dich in die Finger bekomme!", lachte er. Dann jagte er mich die Straße rauf und runter, durch den strömenden Regen, bis wir beide völlig durchnässt waren. An der Haustür blieb ich stehen, blickte zu ihm auf. "I want back home, Daddy. Please, I want back", sagte ich leise. Ich konnte die Hilflosigkeit in seinen Augen sehen, als er antwortete: "Wir sind zu Hause, Charly."
Bald darauf kam der erste Schultag. Ich bekam eine bunte Schultüte, voll mit allerlei Leckereien. Meine Freude darüber hielt sich in Grenzen. Die Notwendigkeit eines solchen Überflusses verstand ich nicht. Das Schuljahr hatte schon zwei Wochen zuvor begonnen, daher stand ich ganz allein vor der versammelten Klasse. Ich schaute in die vielen Gesichter. Kein einziges davon kannte ich. Doch die kannten mich. Ihre Eltern hatten die Arbeit meines Vaters in den Medien verfolgt. "Du kannst bei mir sitzen!", rief ein Mädchen. Aber ich wusste schon, wo ich sitzen wollte, denn da war Liz. Ihre dunkle Haut war das Einzige, was mir hier vertraut erschien. Ich setzte mich und sprach sie an: "I'm Charly. What's your name?" "Kannst du kein Deutsch?", fragte sie. Auf die Idee, Deutsch mit ihr zu sprechen, wäre ich nicht gekommen. Sie wurde meine beste Freundin. Ich hatte sehr schnell sehr viele Freunde. Denn die Eltern dieser Kinder wollten gern, dass sie sich mit mir anfreundeten. Häufig riefen sie an und vereinbarten Spieltermine mit meiner Mum. Das mochte ich nicht. Es gab Kinder, mit denen ich nicht spielen wollte.
Manchmal versuchte ich, ihnen beizubringen, wie man auf Bäume klettert. Sie waren nicht sehr gut darin, was an ihren Schuhen lag. Nie wollten sie barfuß gehen, daher waren ihre Füße schrecklich empfindlich. In Deutschland war der Boden aber auch wirklich sehr hart. Mir fehlte der staubige Boden Afrikas. Ich übte mit Liz besonders oft, bis es ihr endlich gelang, auf einen nicht ganz so hohen Kirschbaum zu klettern. Es wurde unser Baum. Wann immer uns etwas oder jemand nervte, kletterten wir hoch.
Wenn es warm genug war, spielten viele meiner Freunde mit Wasserpistolen und bauten Planschbecken in ihren Gärten auf. Mich machte das sehr wütend. Wasser war kein Spielzeug. Hatte es in Afrika lange nicht geregnet, sah man an oft am Rande von Feldern verendete Tiere liegen. Sie waren verdurstet. Auch die Natur litt darunter, dadurch eben auch die Menschen in Afrika. Niemals hätte ich Wasser so verschwendet. Man sah hier selten Tiere. Einmal machten wir einen Ausflug mit der Schule in den Zoo. Es gefiel mir nicht, und als meine Lehrerin von mir wissen wollte, wie mir Deutschland denn gefallen würde, sagte ich: "Es ist grau und die Tiere hier sind böse, darum sind sie im Gefängnis."
Zu der Zeit, als wir nach Deutschland kamen, tobte gerade der Markenwahn. Alle in meiner Klasse trugen Kleidung von ein und derselben Marke. Alle ... außer Ella. Niemand sprach mit Ella. Keiner spielte mit ihr. Als wir einmal aus der Pause kamen, hatte jemand all ihre Sachen ausgeräumt. Sie lagen im ganzen Raum verteilt. Immer wenn sie versuchte etwas aufzuheben, nahm es jemand fort, warf es einem anderen zu. Dabei lachten sie laut. Sie fing an zu weinen und lief nach draußen. Ich weinte auch, weil sie mir so leid tat. Aber auch weil mir klar wurde, meine afrikanischen Freunde würde man hier nicht mögen. Ich verstand es auch nicht. Zwar hatte ich auch Kleidung von ebendieser Marke, doch trug ich meist meine Shirts mit dem kleinen Krokodil. Es erinnerte mich an Afrika. Niemand sagte je etwas darüber. Ich lud Ella zu mir zum Spielen ein, nahm eines meiner Shirts, schnitt das Krokodil aus und klebte es auf Ellas. Sie freute sich so. Ich freute mich, dass sie sich freute. Nein, ich bekam keinen Ärger, meine Mum hat mich geküsst. Aber Ella durfte nicht mehr mit mir spielen.
Es wurde Weihnachten, was ein wenig tröstete, machte das Leuchten all der Lichter Deutschland doch ein bisschen wärmer. Ich bekam eine Sofortbildkamera, mit der ich versuchte, das Leuchten einzufangen. Es gelang mir nicht. So versuchte ich, es zu zeichnen. Fortan zeichnete ich ständig. Bilder von Deutschland nur in Pastell, die von Afrika malte ich stets in Acryl.
Nach den Ferien war Ella fort und Liz' Granny starb. Auf der Beerdigung spielten sie "Für Elise". Ich lauschte der Melodie, die erstmals dieses Gefühl der Melancholie in meinem Herzen erwachen ließ, welches ich einmal so lieb gewinnen würde. So traurig aber schön. Zu traurig für Liz. Wir schlichen uns davon, ohne Mäntel, in unseren schwarzen Samtkleidchen, durch den glitzernden Januarschnee. Begannen zu rennen, gegen die Kälte, gegen die Traurigkeit. Bis hin zu unserem Baum. Kletterten hinauf, die Lackschuhe waren danach sicher hin. Immer wieder hatten wir in den letzten Monaten hoch oben gesessen, all unsere Sorgen kannte dieser Baum. Im Sommer hatten wir seine Kirschen gegessen, die Kerne hoch in die Luft gespuckt, wie zum Trotz gegen den Ernst unseres Lebens, der mit dem Beginn der Schule Einzug gehalten hatte. Dort oben schimpften wir über unsere Lehrer und Eltern, bis wir müde wurden. Nun saßen wir da, froren entsetzlich und Liz weinte die ganze Zeit. Irgendwie wusste ich, wir würden nie wieder herkommen, da jetzt Dinge vor uns lagen, für die es nicht mehr ausreichen würde, einfach nur auf einen Baum zu klettern.