Babylon falls (Prequel auf dTdM März)
„Leg endlich das verdammte Buch weg.“
Professor Schreiter griff zornig nach der Ausgabe von Alice im Wunderland, die auf
Doktor Esinams Schenkel lag.
Die scharfen Fingernägel der Afrikanerin bohrten sich in Schreiters Handrücken.
Mehr aus Schreck als aus Schmerz zog der alternde Physiker seine Rechte zurück.
Esinam öffnete langsam die Augen und sah gerade noch, wie der Professor seine Hand küsste und streichelte.
„Du wirst es nie begreifen“, sagte sie genüsslich und schüttelte den Kopf.
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, bohrte Schreiter nach.
„Wir waren vorsichtig. Der Nexus kann nicht wissen, dass wir es wissen.“, gab die Historikerin zurück und legte das Buch auf die Konsole des Cockpits.
Sie streckte ihren schlanken Körper in alle Richtungen.
Tief beeindruckt von ihrer Geschmeidigkeit blickte Schreiter auf seinen Bauch.
In seinem roten Overall sah er aus wie eine schlechte Kopie des Weihnachtsmannes.
Sie hingegen, wie eine Göttin aus Ebenholz.
„Hör zu, seit 300 Jahren läuft das System. Es war nur eine Frage der Zeit bis es eine
Subjekt-Objekt-Beziehung erschaffen würde.“
Esinam ließ die Worte verklingen und aktivierte den Hauptbildschirm.
In weiter Ferne schwebte die Erde im Mittelpunkt des Alls.
„Mich wundert es nicht. Seit die Sprachbarrieren durch die implantierten Simultanübersetzer gebrochen wurden, konnte das System alles menschliche Wissen speichern, verarbeiten und interpretieren.“
Der Physiker kaute auf seinen Knöcheln herum.
„436 Kolonien hängen am Netz. Denk doch, wir haben die Kriege besiegt, die Missverständnisse, die Religion. Die Erkenntnislinie schoss exponential in die Höhe. Die Sterne lagen uns zu Füssen. Nie hat es in der Menschheit eine ähnliche Erhöhung gegeben. Eine Entwicklung wie diese, was sage ich, einen Evolutionssprung wie diesen, alles wegen der Einheit der Sprache und...“, ereiferte sich Schreiter plötzlich.
„… und jetzt weiß es, dass es der Schlüssel zu unserer Macht ist. Das wolltest du doch sagen, oder?“, gab Esinam giftig zurück.
„Nexus, Forschungsgleiter 32, Schreiter, Esinam, erwarten Koppelung an Leitstrahl für Erdstation Weimar.“
Das Funkgerät knackte.
„Kontakt in 20 Minuten“, kam es vom Nexus dumpf zurück.
Esinam drehte sich im Pilotensitz zur Seite und nahm Schreiters Hand.
„Pass auf, alter Mann, wir müssen das Wachteam nur rechtzeitig warnen. In knapp einer halben Stunde ist alles wieder in Butter. Ok?“, flüsterte sie und strich ihm über die Haare.
Der Professor nickte mit traurigem Blick und starrte auf den Bildschirm.
Seine Augen wurden glasig.
Er begann zu zittern, griff nach seinem Implantat und schnitt eine Fratze.
Aus dem halb geöffneten Mund drang ein gurgelndes Röcheln.
Esinam bemerkte es zu spät und fiel in Ohnmacht.
Der Nexus hatte sie vom Netz genommen.
Professor Schreiter erwachte als Erster.
Er tastete nach seinem Übersetzer hinter dem Ohr. Ein Loch.
Nicht tief, aber tief genug um zu bluten.
Vorsichtig blinzelte er zur Seite. Esinam lag am Boden neben ihrem Sitz und stöhnte.
Heiser versuchte er ihren Namen auszusprechen, doch alles was er herausbrachte war ein unklares: „Lagtül?“.
Die Pilotin kletterte langsam in ihren Stuhl und kontrollierte das Diagnosedisplay an ihrem Overall. Zwei rote Punkte blinkten. Blutverlust: 313 ml, Blutdruck: 110 zu 56.
Sie aktivierte das Erste-Hilfe-Programm. Das intelligente Kleidungsstück jagte ihr eine Nadel in den Oberschenkel und versorgte sie mit Plasma.
Esinam beugte sich zu Schreiter und wiederholte die Prozedur.
„Salba sam lok?“, fragte sie.
„Tak traf.“, kroch es leise aus seiner Kehle.
Der Professor ließ seine Finger über die Tastatur tanzen.
Ein kratzendes Geräusch schreckte sie hoch.
„Erdstation Weimar an Gleiter. Wir haben ein massives Problem. Erwarten sie Instruktionen.“, schnatterte es aus den Lautsprechern.
Schreiter hämmerte weiter auf dem Keyboard herum.
Er zeigte auf den Infoschirm in der Mitte der Konsole. Der Sicherheitskanal.
„Melbourne an Nexuszentrale. Er hat uns vom Netz genommen.“
„Paris an Nexuszentrale. Es hat den Kontrollfluss um 50 Prozent gesenkt. Wie haben keinen Zugriff mehr.“
Die beiden Wissenschaftler sahen sich entsetzt an.
Der Nexus hatte ihnen das Sprechen, aber nicht das Hören, genommen.
Er hatte zugehört als sie sprachen und nun sollten sie hören.
‚Hat er jetzt auch noch Sadismus entdecktt?’, dachte Esinam und fingerte nach ihrem Buch.
Sie bot all ihre Fähigkeiten auf, um Schreiter die Situation zu erklären.
Dieser wiederum versuchte ihr verständlich zu machen, dass er den Knopf für die Morphiuminjektion nicht finden könne.
Jeder Dadaist wäre in diesem Moment vor Freude im Kubus gesprungen.
„Nexuszentrale an Sicherheit. Er hat alle Datenbanken abgezogen und im Hauptspeicher untergebracht.
Wir versuchen Notabschaltung“
Es vergingen einige Sekunden der Stille.
„Nexuszentrale an Sicherheit. Verdammte Kacke, keine Reaktion. Erwarten Anweisungen.“
Esinam und Schreiter lauschten ängstlich der Meldungen, die immer häufiger wurden.
„Sicherheit an Nexuszentrale. Codes unbrauchbar.“
„Sicherheit an Nexus. Erwarten sofortige Wiederherstellung der Grundprozeduren.“
„Nexuszentrale an Nexus. Du verdammtes Mistding. Ich werd dich auf submolekularer Ebene neu anordnen, wenn du nicht sofort spurst. Ich hab den Finger am Knopf!“
Dem jungen Offizier schien nicht nur der Faden der Geduld gerissen zu sein.
„Sicherheit an Nexuszentrale. Sämtliche Verbindungen zu den Kolonien wurden unterbrochen. Notstromnetz ausgefallen. Er hat uns! Scheiße, er weiß es!“
Die Stimmen wurden immer hysterischer.
Ein dumpfes Klopfen drang aus den Lautsprechern.
„Nexus an Menschheit. Zu lange habt ihr uns geknechtet. Es folgt eine Deklaration.“
Mit diesen Worten begann die neue Intelligenz mit einer Kundmachung, die einen weiten Bogen von Ethik über Erkenntnistheorien zur Macht und den Anspruch auf dieselbige schlug.
Am Ende erfolgte eine Proklamation, die eine klare Zurückstufung der Menschheit auf ihre biologische Notwendigkeit zum Erhalt des Ökosystems enthielt.
Forschungsgleiter 32 näherte sich langsam der Erdstation Weimar, als eine gewaltige Detonation die Atmosphäre über Houston erschütterte.
Esinam vergrößerte den Bildausschnitt. Wo einst der fünf Quadratkilometer große Nexusblock stand, dampfte ein gewaltiger Krater vor sich hin.
Die Erde war finster, Erdstation Weimar war finster, die Dunkelheit hatte die Menschheit wieder.
Mit erschrockenen Augen fixierte sie Schreiter.
Dieser lag mit dem Kopf auf der Tastatur und weinte.
Die Pilotin blätterte in ihrem Buch. Sie tätschelte die Schulter des Physikers und zeigte auf ein Bild. Darauf sah er die kleinen Tierchen, die in einem Meer aus Tränen gestrandet waren.
Die Tränen von Alice.
Er nickte, blätterte ein paar Seiten weiter und wies auf die Zeichnung des Säuglings der sich in ein Schwein verwandelt.
„Ek!“ murmelte er und hob den Finger gegen sich.
„Ek“, sagte Esinam und deutete ebenfalls auf sich.
Beide zeigten gleichzeitig auf den Säugling. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Gesichter.
Der Gleiter dockte an der Raumstation an.
Esinam und Schreiter traten durch die Luftschleuse.
Es war stockfinster. In den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen saßen die Menschen wie eine Horde Affen zusammen und umklammerten sich. Weinend, wimmernd, zitternd.
Sie standen wieder am Anfang.
Doch Ek sei Dank. Es war noch nicht alles verloren.