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Baba
Clarissa schläft auf dem Rücksitz. Ich sehe ihre kleine Stupsnase und die süßen Sommersprossen im Rückspiegel. Wie soll ich das nur überstehen? Damals war ich so alt wie sie... drei. Und ich hatte auch blonde Zöpfe.
Bei Gott, ich kann das nicht. Mir ist so schlecht wenn ich daran denke... Am liebsten würde ich heulen. Ja, bei Gott, heulen würde ich und alles wach schreien wenn ich mich befreien könnte. Aber nein, nein. Ich muss das machen... ich muss! Sonst ist es zu spät und ich werde ewig von Geistern und Dämonen verfolgt werden. Ja, diese kleinen Dämonen die zu einem kommen wenn man einsam auf seinem Bett liegt und die Stille alles plattdrückt. Verzweiflung, Wut, Angst, noch mal Verzweiflung. Und die Stimmen, die sagen: „Das und das und das hättest du anders - besser machen können. Du bist so schwach! Mädchen, sieh dich an, du bist so schwach!“ wispern sie.
Julian hält an. Unter den Reifen knirscht Kies. Er zieht die Handbremse. Ich atme nicht.
„Christina? Alles in Ordnung?“ Erst nach Sekunden nicke ich. „Soll ich mitkommen?“ fragt er besorgt, berührt sanft meine Wange. „Nein...“ Ich schlucke meinen Schmerz hinunter. Er sammelt sich bedrohlich rumorend in meinem Bauch. „Nein, ich muss das alleine schaffen.“ Er lächelt verständnisvoll und küsst mich auf die Stirn. „Ich liebe dich über alles. Ich will dass du das weißt. Egal was passiert, ich werde immer für dich da sein. Das schwöre ich.“ Mir kommen die Tränen. Noch mehr Schmerz den ich nicht ertragen kann. „Nein Julian, bitte... Bitte nicht! Du wirst diesen Schwur eines Tages brechen. Schwör bitte nicht.“ „Christina! Sieh mich an! Sieh mir in die Augen!“ Er hält mein Gesicht jetzt mit beiden Händen. „ICH.... LIEBE..... DICH! Und ich schwöre bei meiner Seele, bei Gott und allen Sternen im Himmel, ich werde immer für dich da sein.“ Dann blickt er verächtlich zum Haus gegenüber. „Nicht so wie er.“
„Julian, ich hab solche Angst.“ Er umarmt mich und ich beginne heftig zu weinen. „Was ist wenn er mich nicht sehen will? Was ist wenn er sagt: verschwinde! Geh weg! Du hast mich bis jetzt nicht gebraucht, was willst du nun von mir?“ „Wer hat hier wen verlassen? Du ihn? Nein, wohl kaum.“ Ich bebe und schluchze. Komme kaum noch zu Atem. Clarissa schläft fest.
Ich erinnere mich an die Nacht in der es geschah. Ich war drei. Es ist schon so lange her, aber es ist real in meinen Kopf wie vor zwei Tagen. Oder ist es doch nur ein Film den ich mal gesehen habe? Meine Welt ist der reinste Widerspruch. Und ich bin ein Seiltänzer...
„Er war kein schlechter Mensch...“ schluchze ich. „Sie hat ihm nur keine Chance mehr gegeben.“ „Sie hat ihm jahrelang Chancen gegeben.“ entgegnet Julian kühl. „Nimm ihn nicht in Schutz. Es war richtig, was deine Mutter damals getan hat.“
Ich sehe sie vor mir – eine kleine Frau. Mir erschien sie damals groß und mutig. Ich sehe das Blut in ihrem Gesicht, auf ihrem Kleid. Und die andere Frau, die mich in die Arme nimmt. Ich weine nicht.
Ein Polizist stellt fragen. Es ist dunkel draußen. Sommer. Und alles richt nach Blumen und Blut und Alkohol. Oder hab ich mir das nur eingebildet weil die andere Frau, die mich hielt, von Schnaps sprach? Ja. Damals wusste ich doch gar nicht was Schnaps ist.
Ich steige aus dem Landrover. Eine alte Frau mit Kopftuch und Gänsen schlendert vorbei. Oh bei Gott, das ist alles so lange her. So lange... Ein Hund bellt. Ein Mann auf einem Fahrrad fährt vorüber, grüßt mich in einer fremden Sprache, in einem fremden Land. Kleine Kinder in schmutzigen Kleidern hüpfen um mich herum. Sie wissen, wenn Besuch kommt, kriegen sie Süßigkeiten. Clarissa würde gerne mit ihnen spielen. Aber Julian verscheucht sie.
Und dann kommt ein Mann aus dem Hof. Sein Haar ist grau und sein Gang leicht gebückt. Er humpelt am verbogenen Metalltor vorbei. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich. Dann kommt er näher. Ich gehe auch zwei Schritte. Zwei. Dann halte ich inne. Er ist mager und blass. Sein Gesicht ist übersäht mit Falten, wie Straßen auf einer Landkarte. Ich will schreien. Er sieht mich an.
Und dann beginnt er plötzlich zu weinen. „Mein Mädchen...“ flüstert er fassungslos und überglücklich in gebrochenem Deutsch. Er nimmt meine Hände, sieht wie groß sie geworden sind. Er fährt mir durchs Haar. Ich habe so viele Fragen. So schrecklich Vieles will ich wissen. Wo er all die Jahre über war. Wo die Liebe ist, die mir zustand. Wo die Worte sind, die mich hätten trösten können wenn ich traurig war. Aber in diesem Augenblick bin ich stumm. Wenn ich ihn ansehe weiß ich, er hat genug gelitten. Er hat gesühnt.
Ich falle ihm um den Hals. „Baba...“
[Beitrag editiert von: Alexis am 13.03.2002 um 00:26]