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B. schweigt
B. betritt jetzt Flur zwölf. Es ist jener Bereich der JVA, in dem sie vor fünfzehn Jahren ihre private Wäsche abgegeben hat. Jetzt nimmt sie einen transparenten Beutel in Empfang - und schüttelt den Kopf beim Anblick der Schlabberjeans aus einem anderen Leben.
Ein Beamter bringt sie zu Tor drei. Er lässt sie vorangehen, schiebt sie durch Tor zwei und murmelt: „Alles Gute.“
Die ersten Schritte ohne Bewachung. Die tatsächlich ersten zehn Schritte nach fünftausend Tagen unter Aufsicht.
Zögernd, als suche sie eine verletzte Katze, nähert sie sich Tor eins, zeigt ihren Passierschein und tritt ins Freie.
Die Verantwortlichen haben mitgedacht. Kein Mensch rechnet mit ihrer Entlassung zum heutigen Tag. Der Termin war für den nächsten Monat angesetzt und deshalb steht da keine Journalistenmeute; deshalb steht da überhaupt niemand vor dem Tor.
Noch nicht mal Benny und Kjeld, denkt sie und lächelt. Benny und Kjeld, die Papierfähnchen mit der Schwedenflagge schwenken und ganz versessen sind auf Egons nächsten Plan. Sie hat keinen Olsenbandenfilm versäumt im Knast, hat mit dem üblichen Fünf-Plätze-Abstand nach links und rechts im Kino gesessen und sich kaum eingekriegt vor Lachen.
Die anderen haben sich neugierig umgedreht. Sie war die Prominente hier - dabei ging die Hälfte dieser weggesperrten Mädels noch auf die Hauptschule, als sie ihn durchzog - ihren Kampf, Kreuzzug und Krieg.
B. wendet sich nach rechts. Folgt dem mit sauberen Platten verlegten Weg bis zur ersten Kreuzung und überquert die Ampel, gesetzeskonform, bei Grün.
Zehn Minuten geht sie so, dann steht da, stumm und grau wie ein Zeuge Jehovas, eine Bank.
B. setzt sich. Sauber, wie alles hier, ist die Bank, mit einem geleerten Papierkorb daneben.
Macht einen auf keusch, der Rechtsstaat, denkt sie. Dabei ist er doch nichts weiter als ein Sammelbecken für menschlichen Müll.
Sie schließt die Augen, absorbiert die wärmenden Strahlen der Sonne und ruht sich aus von all der Freiheit.
Sie hat die Gesetze befolgt, bis jetzt. Nun aber wirft sie den Wisch mit der Telefonnummer des Bewährungshelfers und seinen Terminen in den Papierkorb.
Ein Bruch der Regeln des Rechtsstaates. Des deutschen Staates - der verkommen ist zu einer dreckigen Hure; der sich, mit rotgeschminkten Lippen, Europa an den Hals wirft und unter den Tisch kriecht, um jedem Kanaken einen zu blasen.
Ruhig bleiben, ermahnt sich B.
Und betrachtet das Treiben der Sperlinge.
Die kleinen Scheißer haben ihr ständig das Fensterbrett versaut, im Knast. Haben sie ausgelacht und sind weggeflogen. Ein einziges Mal hat sie einen erwischt, sein doofes Vogelgesicht mit den kleinen, engstehenden Augen betrachtet und ihn dann … ha, in ihrer Hand zerquetscht. Studiert, wie seine Augen aus dem Schädel traten, sein Plusterleib aufplatzte und Blut und Gedärm herausquoll.
Ein gutes Gefühl war das, ein Genuss.
Gar nicht meine Art, denkt B. und runzelt die Stirn.
Sie war doch keine Genießerin. Was gab es denn schon zu genießen, im Knast? In Einzelhaft, unter der Linse einer Kamera? Sie hätte sich unter der Decke anfassen können.
Hat sie aber nicht - denn jedes Mal, wenn sie es versuchte, kam die Erinnerung hoch an die verfluchte Nadel.
Genuss, überlegt sie. Was genießen denn die normalen Leute? Gutes Essen fällt ihr ein. Wein, Konzertabende, Verkehr.
Dinge, die ihr am Arsch vorbeigehen.
Sie hat es genossen, Holgers dreckige Unterhosen zu reinigen - und seine Waffe. Kanaken die Lampe auszuknipsen, das war ein Genuss! Kein alltägliches Geschäft, aber warum hätte ausgerechnet sie ein normales Leben führen sollen – nach einem solchen Start?
B. sieht leere Flaschen über den Boden verteilt. Sie mäandert durch den Getränke-Parcours und rüttelt Mami wach - um gleich eine zu fangen. Mit der flachen Mami-Hand - die einen flachen Schmerz verbreitet; ganz anders als seine knochige Faust, die Faust dieses ständig nackten Mannes in Mamis Küche.
Sie erinnert sich an sein riesiges Organ und daran, wie es hin und her schwang, wenn er sie schlug.
Das Taxi kommt wie bestellt. B. steigt ein, reicht dem Fahrer hundert Euro, nennt ihr Ziel und fällt in den Sitz.
Sie verstößt gegen die Bewährungsauflagen und verlässt die Stadt. Am vereinbarten Ort, einem Autobahnrasthof, lässt sie den Fahrer halten. Trifft sich auf der Toilette mit S. und nimmt wortlos die Waffe, eine Walther P99 samt Munition, entgegen. Dann fährt sie weiter.
Der Fahrer versucht sich erst gar nicht in Smalltalk.
Sie weiß, woran das liegt, ein Mädchen im Knast hat es ihr erklärt. Da lauere Bosheit hinter ihrer Stirn, meinte das Mädchen, und manifestiere sich über ihren verkniffenen Mund. Die Schlampe hatte wohl Recht.
Zwanzig Uhr erreichen sie H.
B. schnappt nach Luft: Die Stadt ist ein Moloch und greift nach ihr; Lichter und Krawall setzen ihr zu.
Der Richter wohnt in einem ruhigen Vorort. Sie weist den Fahrer an, zu warten und geht zum Haus.
Auf die Minute genau tritt der Richter vor die Tür. Macht sich auf seine Joggingrunde und sieht dabei lächerlich aus. B. tritt hinter einem Baum hervor und schneidet ihm den Weg.
Bis hierher war alles ganz leicht. Jetzt aber kommt es wieder, das Zittern in ihren Fingern, der ausbrechende Schweiß.
Sie versucht, zu sprechen - doch es klingt wie Welpengejaul.
Was soll sie ihm sagen?
Was sie damals verschwieg?
Ihr Anwalt hatte ihr empfohlen, die Klappe zu halten. Bei der Beweislage, erklärte er, sei das ihre einzige Chance, davonzukommen. Mit einem blauen Auge, wie er die fünfzehn Jahre nannte.
Die Journalisten wären durchgedreht, hätte sie den Richter unterbrochen und losgeplappert. Er hätte den Teufel getan, es zu unterbinden, hat er doch drei Jahre darauf bestanden, dass sie sich erklärt.
Jetzt steht sie vor ihm. Nicht der richtige Moment, aber ihre Gedanken heben ab und fliegen wie verfluchte Spatzen um Jahre zurück.
Die Verhandlung zerrt an ihren Nerven wie ein unerzogener Balg. Man führt sie herein; sie dreht sich um, lehnt sich gegen die Bank, senkt den Kopf und entflieht so dem Gewitter der Kameras. Der Richter betritt den Saal und eröffnet die Farce. Sie setzt sich. Es ist schwer, einen festen Punkt im Raum zu finden, wenn einen jeder anstarrt. Sie murmeln und mutmaßen über jede ihrer Bewegungen, über jedes Zwinkern und Zucken. B. inhaliert die schlechte Luft im Saal, bekommt einen trockenen Mund. Sie schaut weg, runter auf ihre Unterlagen, als sich die erste Zeugin erhebt.
Irgendwann fragt der Richter, was sie dazu zu sagen hat - doch B. schweigt.
Auch jetzt bekommt sie kein Wort heraus. Fragt sich, warum er sie mit aufgerissenen Augen anstarrt, da registriert sie die Walther in ihrer Hand. Sie missverstehen das! will sie rufen, doch da beherzt sich der Mann und springt davon.
Wäre sie nicht B., würde sie jetzt wohl heulen. So aber kehrt sie zum Taxi zurück und zückt das Portemonnaie.
Der Fahrer bringt sie zum Bahnhof. Sie steigt in den Nachtzug und verschläft die sechsstündige Fahrt.
Am Morgen wird ihr Fahrschein kontrolliert, sie schnüffelt unter ihre Achseln, verzieht das Gesicht und geht aufs Klo.
Die Frau im Spiegel ist hässlich.
Auf dem Bahnsteig erkennt sie ihr Foto von weitem. Ein Boulevardblatt war ebenso schnell wie schlampig - weil es ein zwanzig Jahre altes Foto bringt. Morgen, denkt sie, haben sie das aktuelle.
Aber morgen spielt das keine Rolle mehr.
B. zieht das Blatt aus dem Ständer, liest und feuert die Zeitung auf den Boden - denn der Richter hat Schwachsinn erzählt.
Ihren Plan, ein Taxi in den Bezirk zu nehmen, kann sie vergessen. Zögernd läuft sie los. Die erwachende Straße konfrontiert sie mit den Kartons der Gemüsehändler. Dem Gestank der Dönerspieße. Mit dem verfluchten Kauderwelsch, dieser Kakophonie erkälteter Laute, diesem vor die Füße geworfenem Chr…chr…chr der Araber und dem Gewinsel der Söhne Israels.
Türken und Vietnamesen haben die Stadt an sich gerissen.
Nach einer Stunde erreicht sie entkräftet ihr Ziel.
Nicht drüber nachdenken – machen! - hat sie sich vorgenommen.
Also betritt sie den gerade geöffneten Laden.
Und steht der Türkin gegenüber.
Die Türkin ist ein altes Weib geworden. Um die Siebzig muss sie sein und natürlich trägt sie eine dieser buntgemusterten Schürzen – wie damals, vor Gericht.
Die Türkin nennt dem Richter ihren Namen und den Namen ihres Mannes. Es ist einer dieser Kanakennamen, irgendein Halil oder Özil. Die Türkin beschreibt, wie sie ihren Halil oder Özil zwischen Porree und Oliven gefunden hat. Dass sie zunächst nur dieses Geräusch vernommen habe, dieses „Blubb-Blubb“ wie von einer Kaffeemaschine. Dass sie ihn dann habe liegen sehen und das „Blubb-Blubb“ als sein Nach-Luft-schnappen und Blutspucken begriffen habe. Dass er in ihren Armen gestorben sei.
Blumige Worte für einen Kanaken. B. muss plötzlich lachen - Blubb-Blubb blubbern Lachbläschen aus ihrem Mund.
Wie hat dieser Staat doch versagt. Holger wurde in jeder Aussage beschrieben. Die Behörden sind den Spuren nicht nachgegangen, weil es bequemer war, die Kanaken selbst zu beschuldigen. Die Wohnung der Türkin wurde verwanzt, ihre Finanzen auf den Kopf gestellt. Man warf Halil Waffengeschäfte vor und Drogenhandel.
Die Türkin hebt den Kopf und erkennt B. Die beiden Frauen schauen sich in die Augen, suchen und verwerfen Worte.
B. hat sich ein paar Sätze zurechtgelegt – doch jetzt fliegen sie davon wie die Ballons eines ungeschickten Kindes.
Sie zieht die Waffe - um es gleich hier, vor den Augen der Witwe zu tun. Aber wieder missversteht man sie: Die Türkin schreit und fällt nach hinten in den Kohlrabi. Seitlich von B. bewegt sich der Vorhang und plötzlich springt ein kleiner Kanakenjunge hervor und tritt gegen ihr Knie. B. erschrickt, knallt ihm die Walther gegen die Stirn und verschwindet.
Jetzt steht sie am Landwehrkanal.
Es ist Nacht geworden und sie ist allein. Sie ist schmutzig und stinkt.
B. lädt und entsichert die Walther, steckt sich den Lauf der Waffe in den Mund. Schmeckt die Chromstahlverbindung, minutenlang, dann muss sie plötzlich würgen und setzt ab.
Sie wird es wieder nicht schaffen, wird ihr klar.
Ein Geräusch lässt sie herumfahren.
B. zählt drei, betrachtet wie in Zeitlupe die tätowierten Runen auf dem Hals des ersten und die rasierte Glatze des zweiten.
Jungs, denkt sie, als sie die Faust des dritten trifft. Darauf ein Tritt in ihren Magen. B. geht zu Boden - doch sie hören nicht auf, zertreten ihr die Hand und die Rippen, brüllen Türkensau und Sieg Heil.
Sie sieht den metallenen Besatz eines Stiefels auf sich zukommen. Dann bricht etwas in ihrem Schädel, knirscht es ganz unmöglich und plötzlich steht die Welt schief.
B. hechelt wie ein getroffenes Tier. Durch das verbliebene Auge sieht sie schwarzrotes Blut ein Rinnsal bilden. Es folgt der Schwerkraft und kriecht den Asphalt entlang.
B. leidet nie gekannten Schmerz.
Wie sie da liegt, kehrt Holger zurück.
Holger, der Spargeltarzan, mit seinen abstehenden Ohren. Und Kai-Uwe tritt in ihre schiefgetretene Welt; Kai-Uwe, der Trockenbauer, der sich an sie herangemacht hat, als Holger im Knast saß. Die beiden sahen sich ähnlich - sehr ähnlich sogar. Waren beinahe schon Zwillinge und wahrscheinlich hat sie sie verwechselt, denkt B. und runzelt die Stirn; ist sie womöglich mit beiden ins Bett gestiegen und jetzt fragt sie sich, ob das so schlimm gewesen wär. Fragt sich, wie das so war, mit Holger oder eben mit Kai-Uwe. War es gut? Oder war es wie immer, wenn sie versuchte, etwas Schönes zu erleben, einen langen Spaziergang unternahm, nach Hühnergöttern suchte oder ins Kino ging. Wenn sie versuchte, das Schöne festzuhalten und es dann doch wieder zu Boden tropfte wie Softeis durch eine aufgeweichte Waffel.
Das Stechen in ihrer Seite lässt nach, dafür brennt ihr Magen.
Ob sie auf solche wie Kai-Uwe stand, fragt sich B.
Nun, Männer vom Bau fand sie gut, aber eher solche mit Muskeln und Witz. Solche, die Prosecco hervorzauberten und nicht zu knapp einschenkten; solche, die ihre Brüste zu kneten wussten, ein bisschen derb, und die sich wieder einkriegten, wenn sie ihnen das Ficken verweigerte.
Weil sie dieses verfluchte Ficken nicht ertrug - weil es sie immer an die verfluchte Nadel erinnerte, Mutters Strafe für ihre Vergehen, eine rostige Sicherheitsnadel da unten dran.
Eine Stunde liegt sie so, dann wird ihr ganz kalt.
B. schaut durch einen Schleier aus Tränen und Blut.
Was für ein sinnloses Leben, denkt sie beim Anblick der erwachenden Stadt.
Wird höchstens besser, ohne mich.