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Bürgen

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04.03.2014
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Bürgen

Wir waren die Stiege hinuntergeschlichen. Mutter kam aus dem Schlafzimmer und schaute uns an. Warnend. Zurück in euer Zimmer. Wir gingen nicht. Sie starrte uns an. Ging in die Küche, blieb stehen. Stand, im Türstock, als ob sie nach etwas horchen wollte. Sie stand und stand dort, bis die Stille sie wieder ins Schlafzimmer trieb. Sekunden später kam sie heraus. Stoppte, an der Ecke. Betrat die Küche. Sie stand da. Starrte durch das Fenster. Setzte sich nicht.

Als könnte mit jeder Bewegung etwas geschehen. Sie versuchte umzudrehen. Richtung Vorraum, passierte von nachdenklichem Zögern unterbrochen die Tür. Im Vorraum stand das Telefon. Sie näherte sich dem Telefon, schaute durch das Gerät hindurch. Nahm das Telefonbuch aus der schmiedeeisernen Ablage. In die zittrigen Hände. Wie sie schaute. Hin und her blätterte. Sie schlug eine Seite auf, die Augen ins Nichts gerichtet. Schloss das Buch, hielt es. In der Hand. Sie blickte auf, schaute, an die von Textiltapeten überzogene Wand. Durch die Wand hindurch. Das Buch wieder halb offen, schnippte sie die Seiten herab.

In den folgenden Tagen immer wieder die gleichen Bewegungen. Zum Telefon, auf die gleiche Weise, mit geisterhaften Schritten, dem grauen Boden des Flurs entlang. Ohne jedoch jemand anzurufen. Die Wirtsleute von den Gasthäusern im Schigebiet oben, dachten wir. Jemand von denen. Sie müssten etwas wissen.

Da hat einer abgebremst, murmelte Mutter. Sie schob ihren Kopf noch näher ans Fenster, klebte mit der Stirn am kalten Glas. Ihr Atem zeichnete sich ab. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, an der Zufahrt von der gegenüberliegenden Hauptstraße Lichter. Es musste ein Wagen sein. Dieses Fenstertheater mit dem Fragespiel. Mutters oftmalige Abendbeschäftigung. Ab diesem Tag beobachtete Mutter auch tagsüber die Straße. Der Wagen stand noch immer an der selben Stelle. Wir beobachteten, wie die roten Bremslichter des Autos mehrmals an- und ausgingen. Da ist nur jemand ausgestiegen, sagte sie. Enttäuscht. Die Lichter setzten sich wieder in Bewegung, die Straße entlang, hinaus aus dem Ort. Wir mussten das Brüllen gespürt haben, das sie in ihrer heiseren Stimme gefangen hielt.

Mutters Hände zitterten. Sie hielt sich am Heizkörper fest. Tom und ich taten, als ob wir tapfer wären. Wir brachten die Mundwinkel nicht nach oben. Der Punkt, an dem man zu weinen beginnt. Schon öfter ist Vater erst in der Nacht vom Schi fahren zurück gekommen.

Wir schwiegen. Die Steilwand mit der in den Fels hinein gesprengten Straße im Blick. Hundert Stellen, an denen man abstürzen konnte. Die Bilder über die Küche projiziert. Von den Küchenoberkästen schaute die Rute herunter. Und das orange-gelbe Plastik-Ei von den letzten Ostern, das einmal mit Süßigkeiten gefüllt war.

Es waren schon zwei Wochen vergangen. Ich stellte mir Eisschollen vor, in die er verschwunden sein könnte. Man ist den wilden Märchen ausgesetzt, wenn jemand abgängig ist. Riesige Fichten, deren Schnee beschwerte Äste, verwachsen mit dem unendlichen Weiß, eine Höhle bildeten, in die er hineingestürzt sein konnte. Das Eis der Wasserfälle an den Felshängen, die ihn verschluckt haben mussten, weil er sie zu lange angeschaut hatte. Dass ihn der Schneesturm verweht hat oder er vom Gipfellift falsch abgefahren ist und über die Felsen hinuntergestürzt in einen der im Schnee erstickenden Gräben.

Im Fernsehen lief der Villacher Fasching. Wir durften länger aufbleiben als sonst. Die Schauerlichkeiten in unseren Köpfen überdeckt mit Witzen, die wir teilweise nicht verstanden. Wir wollten lachen. Unsere Körperteile, die hätten das Weinen gebraucht. Schreiendes, dröhnendes Heulen, das unser Leben lang nicht mehr enden würde. Aber wir können nicht unser Leben lang heulen, auch wenn wir dies insgeheim tun.

Zwei Kilo Mehl, sagte Mutter. Und zwei Kilo Zucker noch. Herr Zeiler gab ihr die Waren über die Budel. Mein Bruder bettelte um die am Pult aufgestellten Naschereien. Ich versuchte ihn zur „Vernunft“ zu bringen. Über ein Bankkonto verfügte Mutter selbstverständlich nicht. Der Vater als sogenanntes Familienoberhaupt, noch nicht abgeschafft. Er, der alleinige Verfüger über sein Geld, aus dem Haus, aus dem Staub.

Immer ist nicht Fasching, hieß es, wenn wir den Erwachsenen zu übermütig wurden. Mutter hatte von unserem Nachbarn, Herrn Winterer, eine Clown-Maske geliehen. Die langen Haare an der riesigen Fratze waren verfilzt und wirkten unsauber. Die Maske stank nach kaltem Rauch. Meinem fünfjährigen Bruder war sie viel zu groß und er sah seltsam damit aus. Der Kopf mit der Mähne so groß bei den Krampussen, darunter ein Hänschen Klein. Im Fernsehen hatte ich manchmal gesehen, wie Eingeborene – aus der Dritten Welt, wie gesagt wurde – in riesigen, unheimlichen Masken einen Tanz aufführten, von dem man nicht wusste, was er bedeutete. Das fiel mir dazu ein.

Was tut das Kind, wenn die Mutter darnieder liegt? Es kann ein stolzer Retter werden, in Siebenmeilenstiefeln. Der Prinz aus meinem Dornröschen-Bilderbuch wollte ich sein. So begeistert von meiner Idee, jammerte ich, bis Mutter aus alten, roten Vorhängen und Gardinen eine Jacke mit großen weißen Volants für mich nähte. Stolz in der edlen Fasson in rot mit der blauen Hose und den Stiefeln dazu, trat ich vor den Spiegel. Die Krone, wie groß ich mir vorkam! Eine goldfarbene Krone und die Farben blau und rot. Das Leben hatte ein Farbe.

Beim Faschingsumzug fühlte ich mich den Hexen, den Piraten, den Räubern Hotzenplotz und den Jungen, die oft die sogenannten Anführer waren, überlegen. Und den anderen Mädchen, die als Prinzessin gingen, überhaupt.

Wir servierten den Gästen das Frühstück in unser früheres Wohnzimmer. Mein Bruder nahm die Butter und ich die Marmeladenschüssel mit beiden Händen. Wir stellten sie auf den massiven Eichentisch und die Gäste waren berührt von unserer kindlichen Art. Mutter kam mit dem Kaffee und den Semmeln. Die Leute aus der Stadt freuten sich hier zu sein, in der schönen Gegend, bei dieser netten Familie, bei den lieben Kindern. Die Fremden, wie wir sie nannten, gingen tagsüber Schi fahren und wir hörten sie erst am Abend wieder, wenn sie mit dem Auto in den Hof hereinfuhren und sich mit ihren Skischuhen und Schiern die verflieste Aufgangstiege heraufschleppten.

Onkel Gerhard hatte uns mit dem VW in die Bezirkshauptstadt geführt. Das Gefährt stank nach Treibstoff und wir hielten den Atem an. Der riesige Diskonter bot eine Puzzle aus Farben. In Reih´ und Glied stehendes Chaos. Für uns die Verbindung zur Welt. Palettenweise gestapelte Konsumgüter, ein Versprechen für die kommenden Wochen. Wenn auch keine Zukunft.
Wir blitzen zwischen den Regalen umher. Da, Zucker! Mami!, rief ich, hüpfte, die Hände in Höhe gestreckt. Schau, Mehl! Da! Mein Bruder fand die Rosinen und lief mit der Packung in der Hand zu unserem Einkaufswagen. Und dann die Süßigkeiten.

Die Wochen vergingen. Die Vorräte schrumpften. Die Gäste blieben aus. Tote Zeit, wie oft gesagt wurde. Kein Telefon, die Welt verdeckt mit Schnee. Wir mit unseren Körpern. Versteckt in der Geräuschlosigkeit. Halb hier und halb schon hinter den Mauern. Die monströsen Fragen – in unserem Haus. Man steigt noch immer die Stiege auf und ab. Wechselt, von der Küche in den Flur. Der Gang, eine Mechanik des Ungewissen. Ansätze kindlicher Spielsucht durchquerten die Stille. Als wäre die Welt ein geselliger Ort. Vom Recht auf Nahrung war schon 1948 die Rede gewesen. Wir wussten nichts davon.

Mit niemandem zu sprechen – das brauchte uns Mutter nicht anzuordnen. Wir waren die, über die geredet wurde. Die Unfassbaren, leben noch immer. Wenn wir erschienen auf der Straße. Wenn uns jemand unterkam. Wir, die Verlassenen. Man grüßte uns, verhalten.

Es klingelte. Mutter ging zum Telefon. Wir folgten ihr, wie wir ihr jeden Schritt folgten, den sie im Haus tat. Sie nahm den Hörer. Murmelte etwas ins Telefon. Wir konnten nicht verstehen. Eine Einheit, der Hörer und sie, als ob sie sich darin verkriechen wollte. Sie machte Andeutungen, den Kopf in die Ecke gedrückt. Als könnte sie in der Wand verschwinden. Der Abschied leise. Ja, sagte sie betrübt, legte auf und weinte.

Am Nachmittag erschien Großvater auf der Außenstiege. Er schaute nicht wie sonst zu uns herein, als er am Podest an der Haustür stand. Mutter öffnete, führte ihn in die Küche. Wir gaben ihm die Hand. Er überreichte uns einen Sack voll Süßigkeiten, die wir freudig in Besitz nahmen. Wir fingen gleich an, die Tasche auszuräumen und erbauten auf dem Tisch einen Stützpunkt aus Naschwerk. Großvater nahm seinen moosgrünen Hut ab, zog die jagdgrüne Lodenjacke aus und ließ sich schwer auf die mit rot gemustertem Plastik tapezierte Eckbank nieder. Mutter rückte den Tisch zurecht. Servierte ihm Tee mit dem von ihm selbst gebrannten Schnaps. Den hatte er uns beim letzten Mal gebracht. Ein Teller Kuchen landete auf dem Tisch. Iss doch ein Stück, sagte Mutter. Die Anni, ist auch schon wieder groß geworden, sprach Großvater in meine Richtung. Ich zeigte ihm, wie gut ich schon schreiben konnte. Tom hatte Figuren und lustige Köpfe aufs Papier gezeichnet. Großvater musste lächeln.

Bald fand er sich wieder in ernster Miene. Es war die Rede von Vater. Wo er sein könnte. Straßenbaustelle, sagte Mutter. Seit Herbst schon ... in der Steiermark drüben ... Schi fahren ist er gegangen, sagte sie. Schi fahren, und schwieg, beschämt. Die Sekunden, schwarze Löcher der Zeit, drohten uns einzusaugen. Seit dem Zweiundzwanzigsten, sagte sie. Stummheit um die Münder. Ein Wedel, ein unguter, schimpfte Großvater. Mutter schwieg, starrte ins Leere. Ein Herumzieher. Immer schon. Der Gerhard hat ihn gesehen. Beim Bier ausführen. In einem Gasthaus. In Garsten drüben. Eine andere, sagte er. Bei einer anderen hockt er.

Wir fuhren die steile Schotterstraße hinauf zu Großmutters Hof. Bis morgen, sagte Mutter. Sie fuhr mit Großvater und Onkel Gerhard weg. Es musste noch sehr früh gewesen sein. Großmutter molk gerade die Kühe. Wir tranken die kuhwarme Milch. Die Katzen bekamen auch etwas von der schaumig-weißen Nahrung. Sie scharten sich um die Schüssel. Ich nahm eines der kleinen Raubtiere auf den Arm und kuschelte meine Wange an sein Fell. Es bäumte sich auf und schoss über meine Schulter hinweg auf die Stufen zum Heuboden. Tom versuchte den Schafen Heu in die Futterkrippe zu werfen. Ich wollte die Tiere streicheln, sie ließen sich nicht abbringen vom Fressen und stießen nach kurzer Zeit ihre Dickköpfe gegen meine Hände.

Großmutter wusch gerade das Geschirr am steinernen Abwaschbecken. Sie steckte den Kopf ans Fenster. Da stand ein Auto auf dem Parkplatz. Mutter stieg aus Vaters Wagen und balancierte auf dem matschigen Hof daher. Sie trat ein, begrüßte uns nicht. Die Antwort auf Großmutters fragendes Gesicht: So ein Mensch. Vom Gasthaus. Das Töchterl dort. Die wird ihm zugeredet haben. Das Mensch.

Wir fuhren die steile Bergstraße hinunter. Die bekannte Landschaft fern wie der Mond. Sie zog an uns vorbei. Wir schwiegen. Zu Hause angekommen, sahen wir Arbeitsstiefel im Vorraum aufgestellt. Es war nichts zu hören. Wir sprachen nicht. Bewegten uns wie Geister. Die Tür vom Vorhaus zum dunklen Flur offen. Wir betraten die Küche. Sich auf die Bank setzen? Am Fenster stehen? Ich flüchtete in mein Zimmer. Tom folgte mir. Wir schauten einander an, fremd und fern. Kein Du und kein Ich.

Jemand bewegte sich im Erdgeschoß. Türen gingen. Dann eine Stimme. Es klang vorwurfsvoll. Wir blieben im Zimmer. Abwechselnd Mutters und Vaters Stimme. Zwischen den abgehackten, manchmal bellenden Gesprächsfetzen lange Pausen.

Es war dunkel geworden. Wir schlichen ins Erdgeschoss. Er stand in der Küche. Wir flüchteten zu Mutter, hängten uns an sie.

Im Tal schmolz der Schnee. Hinter dem Haus blitzte es grün hervor. Tom und ich bauten Osternester. Wir suchten Zweige und umzäunten die moosgrünen Bettchen. Er wollte Schi fahren gehen. Mutter meinte, wir sollten doch mitfahren. Der Sport sei nichts für sie, sagte sie immer. Verunsichert sahen wir die Mutter an. Schauten ihn an. Er sagte nichts. Wir hatten keine Lust auf den Schnee. Na fahrt schön mit! Dann habe ich wenigstens eine Ruhe beim Torten backen. Mutter blickte uns an, unverwandt. Wir zögerten. Schlüpften schließlich ins Sportgewand. Sie sagte: Wenn ich so gut Schi fahren könnte wie ihr, dann würde ich immer mitfahren.

 
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Hallo Melajoie, und willkommen!

Gern gelesen habe ich diese Geschichte. Aus Kindersicht, halb verstanden, ein Ehedrama; vermutlich in den Sechzigern, Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Aneinandergereihte Kindheitserinnerungen mit Geruch und Geschmack -- fast ein bißchen viel; ob sie alle nötig sind für die innere Dramatik? --; der Titel "Bürgen" erklärt sich erst im allerletzten Absatz. Sprachlich verknappt, abgehackt, mit dialektalen Einschlägen.

Ich greife ein paar Dinge für Anmerkungen heraus (noch kein komplettes Korrektorat, aber viel ist ohnehin nicht zu machen).

Wir waren die Stiege hinuntergeschlichen. Mutter kam aus dem Schlafzimmer und schaute uns an. Warnend. Zurück in euer Zimmer. Wir gingen nicht. Sie starrte uns an. Ging in die Küche, blieb stehen. Stand im Türstock, als ob sie nach etwas horchen wollte. Sie stand und stand dort, bis die Stille sie wieder ins Schlafzimmer trieb. Sekunden später kam sie heraus. Stoppte an der Ecke. Betrat die Küche. Sie stand da. Starrte durch das Fenster. Setzte sich nicht.
Es ist entschieden etwas nicht in Ordnung; das zeigt das Verhalten der Mutter, und es spiegelt sich im Satzbau. Da würde ich auch Dinge wie "durch das Fenster starren (als wenn es nicht da wäre)" stehen lassen.

Sie näherte sich dem Telefon, schaute durch das Gerät hindurch.
(Hier allerdings sehe ich jemanden vor mir, der das Gerät ans Auge drückt.)

Ab jetzt wird klar, daß zwischen den Absätzen Zeitsprünge stattfinden; trotzdem liest sich der folgende Abschnitt etwas mühsam, weil der zeitliche Ablauf unklar bleibt:

Da hat einer abgebremst, murmelte Mutter. Sie schob ihren Kopf noch näher ans Fenster, klebte mit der Stirn am kalten Glas. Ihr Atem zeichnete sich ab. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, an der Zufahrt von der gegenüberliegenden Hauptstraße Lichter. Es musste ein Wagen sein. Dieses Fenstertheater mit dem Fragespiel. Mutters oftmalige Abendbeschäftigung. Ab diesem Tag beobachtete Mutter auch tagsüber die Straße. Der Wagen stand noch immer an der selben Stelle. Wir beobachteten, wie die roten Bremslichter des Autos mehrmals an- und ausgingen. Da ist nur jemand ausgestiegen, sagte sie. Enttäuscht. Die Lichter setzten sich wieder in Bewegung, die Straße entlang, hinaus aus dem Ort. Wir mussten das Brüllen gespürt haben, das sie in ihrer heiseren Stimme gefangen hielt.

Vorschlag:
Dieses Fenstertheater mit dem Fragespiel. Mutters oftmalige Abendbeschäftigung. Da hat einer abgebremst, murmelte sie. Sie schob ihren Kopf noch näher an die Fensterscheibe, klebte mit der Stirn am kalten Glas. Ihr Atem zeichnete sich ab. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, an der Zufahrt von der gegenüberliegenden Hauptstraße Lichter. Es musste ein Wagen sein. Ab diesem Tag beobachtete Mutter auch tagsüber die Straße. -- streichen? Hier geht es um eine Abendszene; vielleicht ans Ende des Absatzes stellen Der Wagen stand noch immer an derselben Stelle. ...

Mutters Hände zitterten. Sie hielt sich am Heizkörper fest. Tom und ich taten, als ob wir tapfer wären. Wir brachten die Mundwinkel nicht nach oben. Der Punkt, an dem man zu weinen beginnt. Schon öfter ist Vater erst in der Nacht vom Schifahren zurück gekommen.
Aha. Jetzt wissen wir, was los ist; und daß es nicht unbekannt ist. (Nach diesem Absatz kommt wieder ein Zeitsprung?)

Wir schwiegen. Die Steilwand mit der in den Fels hinein gesprengten Straße im Blick. Hundert Stellen, an denen man abstürzen konnte. Die Bilder über die Küche projiziert. Von den Küchenoberkästen schaute die Rute herunter. Und das orange-gelbe Plastik-Ei von den letzten Ostern, das einmal mit Süßigkeiten gefüllt war.
Der Zeitabschnitt wird größer; nicht mehr nur das erzählte Jetzt, sondern vergangene Feste, und Zukunftsangst. Das trägt zur Atmosphäre bei, was ich mag; aber es verzögert die Erzählung auch.

... Riesige Fichten, deren schneebeschwerte Äste, verwachsen mit dem unendlichen Weiß, eine Höhle bildeten, in die er hineingestürzt sein konnte. ...
Zwei Wochen später, in denen sich die Kinder das Schlimmste vorstellen; das Leben geht weiter, die Fastnacht wird als Ablenkung benutzt. Dann wieder ein Zeitsprung?

Zwei Kilo Mehl, sagte Mutter. Und zwei Kilo Zucker noch. Herr Zeiler gab ihr die Waren über die Budel. Mein Bruder bettelte um die am Pult aufgestellten Naschereien. Ich versuchte ihn zur „Vernunft“ wieso in Anführungsstrichen? zu bringen. Über ein Bankkonto verfügte Mutter selbstverständlich nicht. Der Vater als sogenanntes Familienoberhaupt, noch nicht abgeschafft. Er, der alleinige Verfüger über sein Geld, aus dem Haus, aus dem Staub.
Der Sachverhalt mit dem Geld wird plötzlich aus einer erwachsenen Perspektive geschildert; ich frage mich, ob das Mädchen das schon überblickt. Ich könnte mir eine Szene vorstellen, in der das Geld nicht reicht; der Mutter ist es peinlich, sie sagt, ihr Mann könne nicht zur Bank; der Krämer schreibt an, das Mädchen registriert die Blicke, der kleine Bruder hört plötzlich auf mit dem Theater. So was. Den Hintergrund mit dem Familienoberhaupt kann sich ein Leser erschließen, denke ich.

Die Kostüm-Szene, der kleine Bruder in der ollen geliehenen Maske, ist atmosphärisch schön, verzögert aber wieder die Geschichte.

Was tut das Kind, wenn die Mutter darniederliegt? Es kann ein stolzer Retter werden, in Siebenmeilenstiefeln. Der Prinz aus meinem Dornröschen-Bilderbuch wollte ich sein. So begeistert von meiner Idee, jammerte ich, bis Mutter aus alten, roten Vorhängen und Gardinen eine Jacke mit großen weißen Volants für mich nähte. Stolz in der edlen Fasson in rot mit der blauen Hose und den Stiefeln dazu, trat ich vor den Spiegel. Die Krone, wie groß ich mir vorkam! Eine goldfarbene Krone, und die Farben blau und rot. Das Leben hatte eine Farbe.
Auch hier: unkindliche Reflektionen zu Beginn. Die hätte ich als Leserin nicht gebraucht, um den stolzen Retter zu sehen. -- Nach Fasching wieder ein Zeitsprung?

Wir servierten den Gästen das Frühstück in unser früheres Wohnzimmer.
Hier wieder unklar, wieviel Zeit vergangen ist. Ich dachte erst, es seien Jahre, die Familie ist zusammengerückt und hält sich als Pension über Wasser.

Die Fremden, wie wir sie nannten, gingen tagsüber Schi fahren, und wir hörten sie erst am Abend wieder, wenn sie mit dem Auto in den Hof hereinfuhren und sich mit ihren Schischuhen und Schiern die verflieste Aufgangstiege heraufschleppten.
Zeitsprung?

Onkel Gerhard hatte uns mit dem VW in die Bezirkshauptstadt geführt. Das Gefährt stank nach Treibstoff, und wir hielten den Atem an. Der riesige Diskonter bot eine Puzzle aus Farben. In Reih und Glied stehendes Chaos. Für uns die Verbindung zur Welt. Palettenweise gestapelte Konsumgüter, ein Versprechen für die kommenden Wochen. Wenn auch keine Zukunft.
Wieder: eine erwachsene Erzählstimme bewertet -- keine Zukunft. Wir erfahren etwas über die Familienstruktur (Onkel mit Auto), über die Verbindung zur Welt (das sagt Dorfkindern was ,)). Und man nimmt an: der Onkel hilft finanziell aus.

[/QUOTE]Die Wochen vergingen. ... Wir wussten nichts davon. ... Man grüßte uns, verhalten.[/QUOTE]
Hier wieder eine erwachsene Stimme; an dieser Stelle, in diesem Überflug finde ich sie sehr passend. Die Erwähnung des "Rechts auf Nahrung" zeigt, wie schlimm es steht; aber auch davon scheinen die Kinder recht unberührt. Für mich als Leserin: endlich ein klarer Zeitablauf. Wir bewegen uns im Rahmen von Wochen; es ist immer noch derselbe Winter.

Jetzt passiert was:

Es klingelte. klingt nach Haustür Mutter ging zum Telefon. Wir folgten ihr, wie wir ihr jeden Schritt folgten, den sie im Haus tat. Sie nahm den Hörer. Murmelte etwas ins Telefon. Wir konnten nicht verstehen. Eine Einheit, der Hörer und sie, als ob sie sich darin verkriechen wollte. Sie machte Andeutungen so würde das ein Kind nicht beschreiben; klingt so, als wüßte die Erzählerin etwas, den Kopf in die Ecke gedrückt. ...

Der Besuch des Großvaters klingt wieder nach einer detaillierten Kindheitserinnerung; hier
... Großvater nahm seinen moosgrünen Hut ab, zog die jagdgrüne Lodenjacke aus und ließ sich schwer auf die mit rot gemustertem Plastik tapezierte Eckbank nieder.
sind's vielleicht etwas viele Adjektive.

... Straßenbaustelle, sagte Mutter. (Die verstehe ich nicht -- denkt sie sich eine Geschichte aus, wo er legitim sein könnte?) Seit Herbst schon ... in der Steiermark drüben ... Schi fahren ist er gegangen, sagte sie. Schi fahren, und schwieg, beschämt. Die Sekunden, schwarze Löcher der Zeit (wären gar nicht nötig, passen auch nicht in die Kindersicht), drohten uns einzusaugen. Seit dem Zweiundzwanzigsten, sagte sie. Stummheit um die Münder. Ein Wedel, ein unguter, schimpfte Großvater. Mutter schwieg, starrte ins Leere. Ein Herumzieher. Immer schon. Der Gerhard hat ihn gesehen. Beim Bier ausführen. In einem Gasthaus. In Garsten drüben. Eine andere, sagte er. Bei einer anderen hockt er.
Sehr stark, finde ich. Eine Aussprache in Andeutungen, nicht weiter kommentiert; der Großvater weiß nicht nur Bescheid, er ist auch Verbündeter. -- Was aber hat es mit dem Anruf vorher auf sich? Da hat ja offenbar nicht der Großvater seinen Besuch angekündigt was ich zuerst dachte, und doch scheint er der Mutter etwas Neues zu erzählen? Oder hat sie sich nur verstellt und weiß schon alles?

Die Bauernhofschilderung finde ich wieder sehr kindlich: Klar, worauf sich die Kinder konzentrieren, während die Erwachsenen Erwachsenenprobleme lösen.

Großmutter wusch gerade das Geschirr am steinernen Abwaschbecken. Sie steckte den Kopf ans Fenster. Da stand ein Auto auf dem Parkplatz. Mutter stieg aus Vaters Wagen und balancierte auf dem matschigen Hof daher. Sie trat ein, begrüßte uns nicht. Die Antwort auf Großmutters fragendes Gesicht: So ein Mensch. Vom Gasthaus. Das Töchterl dort. Die wird ihm zugeredet haben. Das Mensch.
Auch das wieder sehr stark: Beobachtungen, ein paar Sätze, unkommentiert. Ich glaube -- auch wenn das für die Geschichte nicht wichtig ist -- daß das die Großeltern väterlicherseits sind. -- Dann folgt wieder ein Zeitsprung über eine unbekannte Dauer; ich nehme als Leserin an, das ist noch am selben Tag:

Wir fuhren die steile Bergstraße hinunter. Die bekannte Landschaft fern wie der Mond. Sie zog an uns vorbei. Wir schwiegen. Zu Hause angekommen, sahen wir Arbeitsstiefel im Vorraum aufgestellt. (Was hat es damit auf sich? Ist doch mehr Zeit vergangen?) Es war nichts zu hören. ... Wir flüchteten zu Mutter, hängten uns an sie.
Wieder sehr plausibel, ohne dick aufzutragen und ohne Bewertung der Konflikt aus Kindersicht; die halten sich raus (in dieser Familie gibt es keine vorwitzigen Fragen), aber vermerken die Atmosphäre und die Vorgänge im Haus bedrückend genau. -- Dann wieder ein Zeitsprung, jetzt offenbar über längere Zeit, und jetzt kommen sie, die Bürgen.

... Na fahrt schön mit! Dann habe ich wenigstens eine Ruhe beim Tortenbacken. Mutter blickte uns an, unverwandt. Wir zögerten. Schlüpften schließlich ins Sportgewand. Sie sagte: Wenn ich so gut Schi fahren könnte wie ihr, dann würde ich immer mitfahren.
Brrr, das war gut; wie die Mutter etwas ganz anderes sagt als sie meint, und wie die Kinder vielleicht nicht genau verstehen, was passiert, aber durchaus die Relevanz. Ein Pulverfaß. Und bei der ganzen Sache hatte der Vater nicht ein Mal das Wort; das läßt alles nicht viel hoffen.

Für mich liest sich das Ganze wie eine klare, einfache und darum eindrucksvolle Familiengeschichte; interessant wird sie durch die Brechung und Verknappung im Blick der Kinder. Auch die Kindheitserinnerungen gefallen mir gut, sorgen für Atmosphäre; trotzdem würde ich Kürzungen in Betracht ziehen -- das wäre eine ganze weitere Geschichte.

Gern gelesen!
Lakritze

 

Hej melajoie,

herzlich willkommen hier.

Ich sehe es ähnlich wie lakritze, eine beinahe sachlich geschriebene Familiengeschichte ohne viel Federlesens erzählt. Sie berührt mich insofern, weil Du damit die Sichtweise der Kinder ganz gut einfängst.

Wenn Du Dir den ersten Absatz einmal laut vorliest, würdest Du vllt feststellen, dass da so etwas wie einen Erzählfluss kaum gibt, im Gegenteil, Du stoppst den ständig. Das liegt auch an unnötigen Wortwiederholungen und falscher Zeichensetzung.

Stand, im Türstock, als ob sie nach etwas horchen wollte.
Komma weg
Stoppte, an der Ecke.
hier auch

und hier, was ich noch als bremsend empfinde

Wir waren die Stiege hinuntergeschlichen. Mutter kam aus dem Schlafzimmer und schaute uns an. Warnend. Zurück in euer Zimmer. Wir gingen nicht. Sie starrte uns an. Ging in die Küche, blieb stehen. Stand, im Türstock, als ob sie nach etwas horchen wollte. Sie stand und stand dort, bis die Stille sie wieder ins Schlafzimmer trieb. Sekunden später kam sie heraus. Stoppte, an der Ecke. Betrat die Küche. Sie stand da. Starrte durch das Fenster. Setzte sich nicht.

Ich hab sie gerne gelesen, Deine Geschichte.

Viel Spaß noch hier.

LG
Ane

 

Servus melajoie,

dir ist hier eine wirklich eindrückliche und sehr berührende Geschichte gelungen, auch wenn ich sie zweimal lesen musste, um so halbwegs durchzublicken.
Nicht ganz zufrieden allerdings bin ich mit dem Stil. Also stellenweise wirken mir diese stakkatoartigen, elliptschen Satzbruchstücke, dazu die etwas willkürliche Verwendung der Satzzeichen, einfach zu gesucht, zu bemüht.

Sekunden später kam sie heraus. Stoppte, [warum das Komma?] an der Ecke. Betrat die Küche. Sie stand da. Starrte durch das Fenster. Setzte sich nicht.

Als könnte mit jeder Bewegung etwas geschehen. Sie versuchte [Komma] umzudrehen. Richtung Vorraum, passierte von nachdenklichem Zögern unterbrochen die Tür.

Schloss das Buch, hielt es. In der Hand. Sie blickte auf, schaute, [warum das Komma?] an die von Textiltapeten überzogene Wand.

usw.

Obendrein entspricht das für mein Gefühl auch nicht unbedingt der Erzählsprache eines Kindes.
Und das finde ich schade, weil es dir ja über weite Strecken gelingt, genau dieses kindliche Empfinden sehr authentisch zu vermitteln. Da sind wirklich viele schöne und sehr atmosphärische Stellen drin, die genau diesen naiven kindlichen Kummer und das gleichzeitige Nichtverstehen der Erwachsenenwelt beschreiben.
Dazwischen finden sich allerdings immer wieder Sätze, wo du die Perspektive des Mädchens verlässt und wo deine Autorinnensprache durchklingt, da z.B.:

Der Gang, eine Mechanik des Ungewissen. Ansätze kindlicher Spielsucht durchquerten die Stille.

Wäre die Sprache etwas homogener, hätte es mir noch besser gefallen. Auf jeden Fall lädt die Geschichte ein, sie mehrmals zu lesen.

Eine Kleinigkeit ist mir noch aufgefallen:

vom Schi fahren
vom Schifahren

offshore

 

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