Bürgen
Wir waren die Stiege hinuntergeschlichen. Mutter kam aus dem Schlafzimmer und schaute uns an. Warnend. Zurück in euer Zimmer. Wir gingen nicht. Sie starrte uns an. Ging in die Küche, blieb stehen. Stand, im Türstock, als ob sie nach etwas horchen wollte. Sie stand und stand dort, bis die Stille sie wieder ins Schlafzimmer trieb. Sekunden später kam sie heraus. Stoppte, an der Ecke. Betrat die Küche. Sie stand da. Starrte durch das Fenster. Setzte sich nicht.
Als könnte mit jeder Bewegung etwas geschehen. Sie versuchte umzudrehen. Richtung Vorraum, passierte von nachdenklichem Zögern unterbrochen die Tür. Im Vorraum stand das Telefon. Sie näherte sich dem Telefon, schaute durch das Gerät hindurch. Nahm das Telefonbuch aus der schmiedeeisernen Ablage. In die zittrigen Hände. Wie sie schaute. Hin und her blätterte. Sie schlug eine Seite auf, die Augen ins Nichts gerichtet. Schloss das Buch, hielt es. In der Hand. Sie blickte auf, schaute, an die von Textiltapeten überzogene Wand. Durch die Wand hindurch. Das Buch wieder halb offen, schnippte sie die Seiten herab.
In den folgenden Tagen immer wieder die gleichen Bewegungen. Zum Telefon, auf die gleiche Weise, mit geisterhaften Schritten, dem grauen Boden des Flurs entlang. Ohne jedoch jemand anzurufen. Die Wirtsleute von den Gasthäusern im Schigebiet oben, dachten wir. Jemand von denen. Sie müssten etwas wissen.
Da hat einer abgebremst, murmelte Mutter. Sie schob ihren Kopf noch näher ans Fenster, klebte mit der Stirn am kalten Glas. Ihr Atem zeichnete sich ab. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, an der Zufahrt von der gegenüberliegenden Hauptstraße Lichter. Es musste ein Wagen sein. Dieses Fenstertheater mit dem Fragespiel. Mutters oftmalige Abendbeschäftigung. Ab diesem Tag beobachtete Mutter auch tagsüber die Straße. Der Wagen stand noch immer an der selben Stelle. Wir beobachteten, wie die roten Bremslichter des Autos mehrmals an- und ausgingen. Da ist nur jemand ausgestiegen, sagte sie. Enttäuscht. Die Lichter setzten sich wieder in Bewegung, die Straße entlang, hinaus aus dem Ort. Wir mussten das Brüllen gespürt haben, das sie in ihrer heiseren Stimme gefangen hielt.
Mutters Hände zitterten. Sie hielt sich am Heizkörper fest. Tom und ich taten, als ob wir tapfer wären. Wir brachten die Mundwinkel nicht nach oben. Der Punkt, an dem man zu weinen beginnt. Schon öfter ist Vater erst in der Nacht vom Schi fahren zurück gekommen.
Wir schwiegen. Die Steilwand mit der in den Fels hinein gesprengten Straße im Blick. Hundert Stellen, an denen man abstürzen konnte. Die Bilder über die Küche projiziert. Von den Küchenoberkästen schaute die Rute herunter. Und das orange-gelbe Plastik-Ei von den letzten Ostern, das einmal mit Süßigkeiten gefüllt war.
Es waren schon zwei Wochen vergangen. Ich stellte mir Eisschollen vor, in die er verschwunden sein könnte. Man ist den wilden Märchen ausgesetzt, wenn jemand abgängig ist. Riesige Fichten, deren Schnee beschwerte Äste, verwachsen mit dem unendlichen Weiß, eine Höhle bildeten, in die er hineingestürzt sein konnte. Das Eis der Wasserfälle an den Felshängen, die ihn verschluckt haben mussten, weil er sie zu lange angeschaut hatte. Dass ihn der Schneesturm verweht hat oder er vom Gipfellift falsch abgefahren ist und über die Felsen hinuntergestürzt in einen der im Schnee erstickenden Gräben.
Im Fernsehen lief der Villacher Fasching. Wir durften länger aufbleiben als sonst. Die Schauerlichkeiten in unseren Köpfen überdeckt mit Witzen, die wir teilweise nicht verstanden. Wir wollten lachen. Unsere Körperteile, die hätten das Weinen gebraucht. Schreiendes, dröhnendes Heulen, das unser Leben lang nicht mehr enden würde. Aber wir können nicht unser Leben lang heulen, auch wenn wir dies insgeheim tun.
Zwei Kilo Mehl, sagte Mutter. Und zwei Kilo Zucker noch. Herr Zeiler gab ihr die Waren über die Budel. Mein Bruder bettelte um die am Pult aufgestellten Naschereien. Ich versuchte ihn zur „Vernunft“ zu bringen. Über ein Bankkonto verfügte Mutter selbstverständlich nicht. Der Vater als sogenanntes Familienoberhaupt, noch nicht abgeschafft. Er, der alleinige Verfüger über sein Geld, aus dem Haus, aus dem Staub.
Immer ist nicht Fasching, hieß es, wenn wir den Erwachsenen zu übermütig wurden. Mutter hatte von unserem Nachbarn, Herrn Winterer, eine Clown-Maske geliehen. Die langen Haare an der riesigen Fratze waren verfilzt und wirkten unsauber. Die Maske stank nach kaltem Rauch. Meinem fünfjährigen Bruder war sie viel zu groß und er sah seltsam damit aus. Der Kopf mit der Mähne so groß bei den Krampussen, darunter ein Hänschen Klein. Im Fernsehen hatte ich manchmal gesehen, wie Eingeborene – aus der Dritten Welt, wie gesagt wurde – in riesigen, unheimlichen Masken einen Tanz aufführten, von dem man nicht wusste, was er bedeutete. Das fiel mir dazu ein.
Was tut das Kind, wenn die Mutter darnieder liegt? Es kann ein stolzer Retter werden, in Siebenmeilenstiefeln. Der Prinz aus meinem Dornröschen-Bilderbuch wollte ich sein. So begeistert von meiner Idee, jammerte ich, bis Mutter aus alten, roten Vorhängen und Gardinen eine Jacke mit großen weißen Volants für mich nähte. Stolz in der edlen Fasson in rot mit der blauen Hose und den Stiefeln dazu, trat ich vor den Spiegel. Die Krone, wie groß ich mir vorkam! Eine goldfarbene Krone und die Farben blau und rot. Das Leben hatte ein Farbe.
Beim Faschingsumzug fühlte ich mich den Hexen, den Piraten, den Räubern Hotzenplotz und den Jungen, die oft die sogenannten Anführer waren, überlegen. Und den anderen Mädchen, die als Prinzessin gingen, überhaupt.
Wir servierten den Gästen das Frühstück in unser früheres Wohnzimmer. Mein Bruder nahm die Butter und ich die Marmeladenschüssel mit beiden Händen. Wir stellten sie auf den massiven Eichentisch und die Gäste waren berührt von unserer kindlichen Art. Mutter kam mit dem Kaffee und den Semmeln. Die Leute aus der Stadt freuten sich hier zu sein, in der schönen Gegend, bei dieser netten Familie, bei den lieben Kindern. Die Fremden, wie wir sie nannten, gingen tagsüber Schi fahren und wir hörten sie erst am Abend wieder, wenn sie mit dem Auto in den Hof hereinfuhren und sich mit ihren Skischuhen und Schiern die verflieste Aufgangstiege heraufschleppten.
Onkel Gerhard hatte uns mit dem VW in die Bezirkshauptstadt geführt. Das Gefährt stank nach Treibstoff und wir hielten den Atem an. Der riesige Diskonter bot eine Puzzle aus Farben. In Reih´ und Glied stehendes Chaos. Für uns die Verbindung zur Welt. Palettenweise gestapelte Konsumgüter, ein Versprechen für die kommenden Wochen. Wenn auch keine Zukunft.
Wir blitzen zwischen den Regalen umher. Da, Zucker! Mami!, rief ich, hüpfte, die Hände in Höhe gestreckt. Schau, Mehl! Da! Mein Bruder fand die Rosinen und lief mit der Packung in der Hand zu unserem Einkaufswagen. Und dann die Süßigkeiten.
Die Wochen vergingen. Die Vorräte schrumpften. Die Gäste blieben aus. Tote Zeit, wie oft gesagt wurde. Kein Telefon, die Welt verdeckt mit Schnee. Wir mit unseren Körpern. Versteckt in der Geräuschlosigkeit. Halb hier und halb schon hinter den Mauern. Die monströsen Fragen – in unserem Haus. Man steigt noch immer die Stiege auf und ab. Wechselt, von der Küche in den Flur. Der Gang, eine Mechanik des Ungewissen. Ansätze kindlicher Spielsucht durchquerten die Stille. Als wäre die Welt ein geselliger Ort. Vom Recht auf Nahrung war schon 1948 die Rede gewesen. Wir wussten nichts davon.
Mit niemandem zu sprechen – das brauchte uns Mutter nicht anzuordnen. Wir waren die, über die geredet wurde. Die Unfassbaren, leben noch immer. Wenn wir erschienen auf der Straße. Wenn uns jemand unterkam. Wir, die Verlassenen. Man grüßte uns, verhalten.
Es klingelte. Mutter ging zum Telefon. Wir folgten ihr, wie wir ihr jeden Schritt folgten, den sie im Haus tat. Sie nahm den Hörer. Murmelte etwas ins Telefon. Wir konnten nicht verstehen. Eine Einheit, der Hörer und sie, als ob sie sich darin verkriechen wollte. Sie machte Andeutungen, den Kopf in die Ecke gedrückt. Als könnte sie in der Wand verschwinden. Der Abschied leise. Ja, sagte sie betrübt, legte auf und weinte.
Am Nachmittag erschien Großvater auf der Außenstiege. Er schaute nicht wie sonst zu uns herein, als er am Podest an der Haustür stand. Mutter öffnete, führte ihn in die Küche. Wir gaben ihm die Hand. Er überreichte uns einen Sack voll Süßigkeiten, die wir freudig in Besitz nahmen. Wir fingen gleich an, die Tasche auszuräumen und erbauten auf dem Tisch einen Stützpunkt aus Naschwerk. Großvater nahm seinen moosgrünen Hut ab, zog die jagdgrüne Lodenjacke aus und ließ sich schwer auf die mit rot gemustertem Plastik tapezierte Eckbank nieder. Mutter rückte den Tisch zurecht. Servierte ihm Tee mit dem von ihm selbst gebrannten Schnaps. Den hatte er uns beim letzten Mal gebracht. Ein Teller Kuchen landete auf dem Tisch. Iss doch ein Stück, sagte Mutter. Die Anni, ist auch schon wieder groß geworden, sprach Großvater in meine Richtung. Ich zeigte ihm, wie gut ich schon schreiben konnte. Tom hatte Figuren und lustige Köpfe aufs Papier gezeichnet. Großvater musste lächeln.
Bald fand er sich wieder in ernster Miene. Es war die Rede von Vater. Wo er sein könnte. Straßenbaustelle, sagte Mutter. Seit Herbst schon ... in der Steiermark drüben ... Schi fahren ist er gegangen, sagte sie. Schi fahren, und schwieg, beschämt. Die Sekunden, schwarze Löcher der Zeit, drohten uns einzusaugen. Seit dem Zweiundzwanzigsten, sagte sie. Stummheit um die Münder. Ein Wedel, ein unguter, schimpfte Großvater. Mutter schwieg, starrte ins Leere. Ein Herumzieher. Immer schon. Der Gerhard hat ihn gesehen. Beim Bier ausführen. In einem Gasthaus. In Garsten drüben. Eine andere, sagte er. Bei einer anderen hockt er.
Wir fuhren die steile Schotterstraße hinauf zu Großmutters Hof. Bis morgen, sagte Mutter. Sie fuhr mit Großvater und Onkel Gerhard weg. Es musste noch sehr früh gewesen sein. Großmutter molk gerade die Kühe. Wir tranken die kuhwarme Milch. Die Katzen bekamen auch etwas von der schaumig-weißen Nahrung. Sie scharten sich um die Schüssel. Ich nahm eines der kleinen Raubtiere auf den Arm und kuschelte meine Wange an sein Fell. Es bäumte sich auf und schoss über meine Schulter hinweg auf die Stufen zum Heuboden. Tom versuchte den Schafen Heu in die Futterkrippe zu werfen. Ich wollte die Tiere streicheln, sie ließen sich nicht abbringen vom Fressen und stießen nach kurzer Zeit ihre Dickköpfe gegen meine Hände.
Großmutter wusch gerade das Geschirr am steinernen Abwaschbecken. Sie steckte den Kopf ans Fenster. Da stand ein Auto auf dem Parkplatz. Mutter stieg aus Vaters Wagen und balancierte auf dem matschigen Hof daher. Sie trat ein, begrüßte uns nicht. Die Antwort auf Großmutters fragendes Gesicht: So ein Mensch. Vom Gasthaus. Das Töchterl dort. Die wird ihm zugeredet haben. Das Mensch.
Wir fuhren die steile Bergstraße hinunter. Die bekannte Landschaft fern wie der Mond. Sie zog an uns vorbei. Wir schwiegen. Zu Hause angekommen, sahen wir Arbeitsstiefel im Vorraum aufgestellt. Es war nichts zu hören. Wir sprachen nicht. Bewegten uns wie Geister. Die Tür vom Vorhaus zum dunklen Flur offen. Wir betraten die Küche. Sich auf die Bank setzen? Am Fenster stehen? Ich flüchtete in mein Zimmer. Tom folgte mir. Wir schauten einander an, fremd und fern. Kein Du und kein Ich.
Jemand bewegte sich im Erdgeschoß. Türen gingen. Dann eine Stimme. Es klang vorwurfsvoll. Wir blieben im Zimmer. Abwechselnd Mutters und Vaters Stimme. Zwischen den abgehackten, manchmal bellenden Gesprächsfetzen lange Pausen.
Es war dunkel geworden. Wir schlichen ins Erdgeschoss. Er stand in der Küche. Wir flüchteten zu Mutter, hängten uns an sie.
Im Tal schmolz der Schnee. Hinter dem Haus blitzte es grün hervor. Tom und ich bauten Osternester. Wir suchten Zweige und umzäunten die moosgrünen Bettchen. Er wollte Schi fahren gehen. Mutter meinte, wir sollten doch mitfahren. Der Sport sei nichts für sie, sagte sie immer. Verunsichert sahen wir die Mutter an. Schauten ihn an. Er sagte nichts. Wir hatten keine Lust auf den Schnee. Na fahrt schön mit! Dann habe ich wenigstens eine Ruhe beim Torten backen. Mutter blickte uns an, unverwandt. Wir zögerten. Schlüpften schließlich ins Sportgewand. Sie sagte: Wenn ich so gut Schi fahren könnte wie ihr, dann würde ich immer mitfahren.