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Er stand vor einer braun gestrichenen Tür in einem mit Neonlampen beleuchteten Flur, genau zwischen zwei Büchern.
Dies war ein ganz besonderer Tag, heute gab es nämlich Zeugnisse. Dieses wichtige Dokument, das angeblich die glorreiche Zukunft eines Menschen vordefinieren konnte oder ihn für immer zum sabbernden Abschaum der Welt werden ließ.
Der Schnitt des Zeugnisses war ihm scheißegal. Und es war ihm auch ganz egal, welche Noten er wohl noch in den anstehenden mündlichen Prüfungen des Abiturs bekäme. Es war alles egal, weil er selbst egal war.
Wie heißt es noch so schön? Lebe deinen Traum! Aber was sollte man leben, wenn man keine Träume hatte? Lohnte es sich dann überhaupt zu leben? Falls nicht, wäre wohl jeder zweite in unserem Lande schlichtweg tot. (Klar, manche waren es bereits, obwohl sie noch atmeten.)
Verfluchte Engstirnigkeit!
Irgendwie hatte für ihn nichts mehr einen Sinn – weder die Schule noch alles andere. Die Noten waren die letzten, die er je bekäme und all die Jahre hätte er nie erwartet, dass sie ihm so völlig unbedeutend wären. Aber das waren sie nun einmal.
Das Leben war wie ein Buchzyklus. Jeder Tag ein Kapitel und wenn ein alter Lebensabschnitt aufhörte, war das erste Buch zu Ende und neues Papier wurde in die Schreibmaschine gespannt, um das nächste Buch zu beginnen. Und nichts konnte so beklemmend, so stahlhart, so brutal sein wie dieser Umschwung.
Das wahre Leben – Kapitel 1.
Das Ende seines ersten Buches stand kurz bevor. Und die mündliche Prüfung? Ha! Auch diese Noten waren ihm natürlich scheißegal und er fragte sich kurzzeitig, was wohl die Lehrer tun würden, wenn er einfach in das Sekretariat stürmte und all die wichtigen Dokumente mit einem eigens dafür gekauften Benzinfeuerzeug mit der Inschrift „school sucks“ in Schutt und Asche legte und damit allen den Scheiß nahm, den sie für so wichtig erachteten. Wenn er sie von ihrer Borniertheit und der Bürokratie befreite.
Was würde wohl Herr Kothe sagen, der damals versucht hatte, ihn in der neunten Klasse sitzen bleiben zu lassen? Natürlich hatte dieser Schwachkopf es nicht geschafft, aber die Sommerferien waren mit Lernen versaut gewesen.
Oder Frau Blanke mit der fetten Warze im Gesicht, die ihren Hass auf Männer, sich selbst und ihre Hässlichkeit gerne an den heranwachsenden Jungen ausließ. Und man konnte nichts tun.
Was täten all die überaus gutmütigen Französischlehrerinnen mit dem geschickt überspielten Hang zum Nudismus? (oder war es gar fehlgeleitete Pädophilie?) Er wusste keine rechte Antwort darauf.
Er stand vor einer braun gestrichenen Tür in einem mit Neonlampen beleuchteten Flur, genau zwischen zwei Büchern.
Aber warum sollte er so etwas tun? Nun, wenn man ehrlich ist, wandelt sich diese Frage früher oder später für jeden in ein Flüstern im Hinterkopf, das einen lächelnd zurückfragt: „Warum eigentlich nicht?“
Und dann wird es wie in der Pubertät, wenn einem die Mutter sagt, dass man doch bitte nicht vergessen solle, den Müll herunterzubringen. Man willigt ein, lässt den verdammten Müll aber hübsch wo er war und wartet, was geschieht. Es beginnt mit belanglosem.
Früher oder später wird aber auch das zur Gewohnheit und der latente Ungehorsam wird zum ständigen Begleiter. Rebellion wird zur Sucht und man erhöht die Dosis Tag für Tag. Seit vielen Jahren ging es nun schon so und er fand es an der Zeit für den goldenen Schuss...
Bis hierhin war er in Gedanken gegangen und nie weiter. Er kannte die Grenze zwischen Phantasie und Realität doch genau. Und dann sah er irgendwann an der Kasse einer Tankstelle ein Feuerzeug mit einer gewissen Inschrift. Er kaufte es und dachte sich: Der größte Traum der Menschheit bestand von jeher darin, die Grenzen niederzureißen und die Phantasie zur Realität zu machen.
Er stand vor einer braun gestrichenen Tür in einem mit Neonlampen beleuchteten Flur, genau zwischen zwei Büchern. In seiner Tasche das Feuerzeug mit der Inschrift „school sucks“ und in seinem Kopf die geballte Entschlusskraft und der Hass auf die Langeweile und die Übersättigung mit falschen Werten und Heuchelei.
Jedes Buch hat ein Ende und selbst wenn man noch den letzten Absatz der letzten Seite beginnt, fragt man sich unterbewusst noch, was die nächste Seite wohl bringen wird. Man ist gewohnt, dass auf ein Kapitel ein weiteres folgt, dessen Inhalt man schon erahnen kann. Aber nicht hier und heute. Heute gab es kein weiteres Kapitel, das Buch war zu Ende.
Das Buch war aus.

-Kall/04

 

Hallo Stephen,

als erstes mal ein herzliches Willkommen :)

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Du bringst die Unsicherheit am Ende eines Lebensabschnittes, wenn auf einmal wieder alle Wege offen sind, sehr schön rüber. Ein Blick in Dein Profil lässt mich vermuten, dass das deshalb der Fall ist, weil Du genau in dieser Situation steckst? Die Idee mit dem zuende gehenden Buch ist ein gutes Bild, und Dein Anfang, dass dein Prot zwischen zwei Büchern steht, bekommt dadurch einen schönen Sinn. Mir hat auch das offene Ende Deiner Geschichte gut gefallen. Ich hoffe allerdings, dass Dein Prot sich dafür entscheidet, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen. So schwierig Neuanfänge im Leben auch sind, sie sind glaube ich nur möglich wenn man den Kontakt zu seiner Vergangenheit nicht verliert und gerade nicht alle Brücken hinter sich abbricht. Und wie sagt Hermann Hesse so schön: "Und jedem Anfang liegt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben." ;)

Einen Kritikpunkt hab ich allerdings doch: Mir besteht Deine Geschichte ein bißchen zu sehr aus den Gedanken des Prots und zu wenig aus tatsächlicher Handlung. Dies könntest Du, natürlich nur wenn Du willst, sehr leicht ändern. Wie zeigt sich z.B. die Wut, aber auch die Unschlüssigkeit Deines Prots konkret in der Situation? Geht er unruhig auf und ab? Telefoniert er mit seinem Eltern, trifft er zufällig einen Klassenkameraden? Dies hätte den Vorteil, dass Du dem Leser seine Einstellung in Form eines Dialogs deutlich machen könntest. Ist aber nur ein Vorschlag.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Danke für den Kommentar und die Begrüßung *g*

Danke für den Kommentar und die Begrüßung *g*

Ja, man könnte sagen, dass dieser Text zu einem kleinen Teil auf der Realität basiert (so sind z.B. die genannten Lehrer real existierende Personen). Aber ich habe trotzdem versucht, zwischen Fiktion und Realität eine klare Linie zu ziehen, damit es hier keinen Aufruhr gibt wie bei einem Text um den Amoklauf in Erfurt.

Dieser Text handelt - neben dem Ende eines Lebensabschnittes - von den kleinen Teufelchen, die jedem von uns mal im Nacken sitzen. Und aus diesem Grund habe ich mich auch hauptsächlich auf die gedankliche Ebene beschränkt - eben weil es jeder sein könnte. Aber ich verspreche, dass es bei der nächsten Geschichte zu weit mehr Handlung kommen wird...

Danke nochmal für den Kommentar und immer her mit weiteren ^^.

Gruß


- Stephen Kall

 

Hallo Stephen,

wie schon mal gesagt: Ich find die Geschichte super. Toll. Und. So. *g*
Nil (Kris)

 

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