Was ist neu

Bösewichtpartikel

Mitglied
Beitritt
20.06.2014
Beiträge
1

Bösewichtpartikel

19. 32 Uhr, seit nunmehr zehn endlosen Minuten starre ich auf das leere Eingabefeld der Suchmaschine.
Die Sonne steht tief und orange am Himmel, sendet ihre letzten Grüße in den lieblos chaotischen Raum.
Der Ventilator läuft auf Stufe drei, alle 15 Sekunden weht ein kühler Luftzug für genau 5 Sekunden
in meine Richtung. Eigentlich könnte ich die Rotation ausschalten und den übermäßigen Energieverbrauch
eindämmen und den Planeten retten. Künftige Generationen werden es mir danken. Es ist unnötig, dass der
Ventilator in verschiedene Richtungen läuft, weil sich nur auf einer Seite des Raumes ein Empfänger befindet.
Und das bin ich. Ja, richtig, ich bin alleine. Alleine in diesem furchtbaren Raum der Ideenlosigkeit.
19.34 Uhr, Ich gebe: "Hilfe, was soll ich aus meinem Leben machen" in die Suchmaschine ein.
Ich lösche das "n".
Tick, Tick, Tick. Wieso müssen Uhren denn eigentlich so laut sein? Und überhaupt, wenn man sich dringend konzentrieren
muss, ist so ein Krach wirklich unzumutbar!
Ich könnte aufstehen und die Batterien herausnehmen. Die digitale Uhr des Computers vor mir erinnert mich
schließlich auch geräuschlos daran, wie viele Minuten ich in der Geistlosigkeit verharre.
19.37 Uhr, meine Atmung wird flach und ein Engegefühl in meinem Brustkorb macht sich breit. Oh Gott,
ich bekomme einen Herzinfarkt. Wenn ich jetzt tot umfalle, wird das letzte, das ich der Welt zu sagen hatte
"Hilfe, was soll ich aus meinem Leben mache" sein.
Ich lösche die ganze Suchanfrage und überlege krampfhaft, ob ich nicht etwas Bedeutenderes zu hinterlassen habe.
19.48 Uhr. Kein Herzinfarkt. Trotzdem habe ich Vorkehrungsmaßnahmen getroffen;
für den Falle meines plötzlichen Ablebens deutet eine A4 große Leuchtreklame dezent auf meinen letzten Wunsch hin.
Australien.
Meine Asche soll am Strand verteilt werden. In Ganzweitweg. Ins Meer fliegen und sich mit den Wellen brechen und von
Fischen, die von Leuten gegessen werden, gegessen werden und wieder zurück in den Organismus vieler Menschen.
Ich will als Atome zu Gedankenpartikeln werden und einen Teil zu einem großen Kunstwerk beitragen.
Ich will verdaut werden und als Fäkalien zurück ins Meer gespült werden und Teil eines ewigen Kreislaufes sein.
Wie wird dann mein Körper am Tag des Jüngsten Gerichts aussehen, wenn wieder jede Seele in ihrem Körper vor Gott steht?
Wird mein Körper dann ein Teil eines Fisches, eines Kunstwerks in Aquarell, oder gar ein Teil von Fäkalien sein?
Und welche Partikel anderer Körper stecken dann in meinem Körper?
Setzt sich mein Ich durch einen unglücklichen Zufall besonders viele Atome eines Bösewichts zusammengekommen und bin ich deswegen
so ein schlechter Mensch? Oder bin ich einfach von selber so blöd?

Jedenfalls schlägt mein Bösewichtherz immer noch. Insgeheim bin ich dankbar dafür, auch wenn mich das wieder um die Lösung meines
Problems bringt. Ich weiß einfach nicht, was ich will. Gäbe es kein Ich mehr, dann gäbe es auch nichts mehr zu wollen oder nicht
zu wollen.

Bumbum, bumbum, bumbum. Zu dem Ticken der Uhr gesellt sich das Klopfen meines Herzens. Stille ist gar nicht still, weil man dann
die ganzen anderen dummen Geräusche hört. Es macht mich beinahe wahnsinnig, was für einen Lärm dieses Organ produzieren kann.
Ich spüre wie sämtliche Bösewichtpartikel durch diesen riesigen immer laufenden Motor durch meinen Körper gepumpt werden.
Ich sollte einen Organspenderausweis ausfüllen, dass ich sichergehen kann, dass auch jemand anderes besonders viele Bösewichtpartikel
in sich tragen muss, wenn ich durch mein frühzeitiges Ableben daran gehindert bin.
Das wäre doch schließlich nur fair, oder? Wieso sollte nur ich mit einer seltsamen Anomalie des Universums gestraft
sein und leider das Pech haben, böse zu sein?

20.24, die Sonne ist mittlerweile untergegangen, der Himmel leuchtet noch zuckerwattefarben nach, doch es wird langsam dunkel.
Je näher das Ende des Tages rückt, desto größer wird meine Unruhe. Ich habe wieder einen Tag verloren.
Wieder nichts aus meinem Leben gemacht, dabei wollte ich auf einem weißen Pferd reiten, Klavier spielen, zum Meer laufen,
ein Leben verändern. Den Rucksack voller unnützer Sachen bepackt per Anhalter durch die Welt reisen.
Zwanziguhrneunundzwanzig. Es hat keinen Sinn mehr. Das furchtbare Kratzen in meinem Hals ist zurück. Bumbum, bum. ...
Ich spüre wie mein Herz einen Schlag aussetzt, meine Lunge krampft sich zusammen. Es rasselt in meiner Brust und der Husten
beginnt wieder. Es schmeckt süßlich warm und zugleich schleimig salzig. Das Atmen fällt mir schwer.
Nachdem mich dieser Anfall aus seinen Klauen befreit hat, bleibt mir die bittere Erkenntnis.
Ich brauche nicht auf das Ergebnis zu warten, um zu wissen, dass er wieder da ist. Und diesmal nicht nur zu Besuch.

Ich gebe "Hotelreservierungen Jenseits" in die Suchmaschine ein und klappe den Laptop zu, als mir einfällt, dass ich noch gar
kein Flugticket gebucht habe!

 

Langweile wird nicht weniger, wenn man sie mit anderen Menschen teilt. Der andere kriegt nur mehr davon ab.

Das ist ein Text, wie man ihn in Schreib-Foren häufiger liest, er läuft auf: Ich weiß nichts mit mir zu anfangen, ich hab keine Ideen, schreib ich doch mal darüber - hinaus. Der hier ist ein besserer Vertreter dieser Art, weil in die Langeweile dann Gedanken einsickern, die auf "Müßiggang ist aller Laster/Unheil Anfang hinauslaufen" aber ... trotzdem.

Mach doch deine Langeweile nicht zu meiner ...

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom