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Bär
Ich schaue auf meine Uhr. Verdammte Scheiße! Seit über zwei Stunden hocke ich jetzt schon hier. Wo bin ich? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Der Raum, in den sie mich gebracht haben, misst etwa vier mal vier Meter. Massive Steinwände, weiß gefliester Boden, keine Fenster. Eine von der Decke herabhängende Glühbirne verbreitet trostlos ihr Licht. Die massive, eiserne Tür, durch die ich höchst unsanft herein befördert wurde, hat auf meiner Seite keine Schnalle. Die einzige Einrichtung besteht aus einem dreckigen Waschbecken in der Ecke neben mir, das ich schamlos zum Pinkeln benutze. Der Wasserhahn ist tot. Als sie mich hergebracht haben waren meine Augen verbunden. Sie stießen mich über eine Treppe, die nach unten führte, was mich sicher macht, dass ich hier in irgendeinem Keller festsitze.
Ich weiß genau, wem ich das hier zu verdanken habe. Elende Saubande! Radikale Tierschützer von der schlimmsten Sorte. Nennen sich „Grüne Füchse“. Vollkommen durchgeknallte Typen, die mich schon seit Monaten mit ihren dämlichen Briefen zugemüllt haben. Forderten mich auf, die Lebensqualität meiner Viecher zu verbessern. Verlangten von mir, alle Tiernummern zu streichen. Demonstrierten vor den Vorstellungen und vertrieben die Zuschauer mit ihrem Gegröle, bis ich sie von der Polizei wegschaffen ließ. Danach wurden die Briefe aggressiver. Sie begannen zu drohen. Meinten, sie würden ein Exempel statuieren, wenn ich ihre Forderungen weiter ignorieren würde. Aber bitte, was hätte ich tun sollen? Die Biester gehören nun mal genau so zum Zirkus wie Clowns, Messerwerfer und Zuckerwatte. Als Direktor habe ich doch eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, oder etwa nicht?
Und heute morgen, noch bevor die Sonne rauskam, haben mich die Saukerle geschnappt. Packten mich von hinten als ich eben aus meinem Wohnmobil geklettert war. Ich habe keine Ahnung wie viele es waren, aber ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Sie stopften mir einen Knebel in den Mund und verschnürten mich wie ein Postpaket. Dann warfen sie mich auf die Ladefläche ihres Lieferwagens. Dort wartete schon der nächste von diesen Affen auf mich, der mir sofort ein feuchtes Tuch an meinen Riecher drückte, und danach weiß ich nicht mehr viel. Zu mir kam ich erst wieder, als sie mich aus dem Wagen rauszerrten – da waren meine Augen schon verbunden – und hierher brachten. Dann runter in den Keller, blitzschnell Fesseln weg, Augenbinde weg, Tür auf und rein mit mir. Verdammte, verdammte, verdammte Scheiße!
Jetzt sitze ich hier auf dem kalten Boden, zähle die Minuten, lausche auf irgendwelche Geräusche, die von draußen kommen könnten und beobachte wie sich Joschkas mächtiger Rücken bei jedem Atemzug rhythmisch hebt und wieder senkt. Ach ja. Joschka habe ich wohl noch nicht erwähnt. Er liegt zusammengerollt in der Ecke schräg gegenüber und ist offensichtlich tief betäubt. War schon hier als ich kam und hat sich seitdem noch keinen Zoll von der Stelle gerührt. Es war sicher kein Einfaches den alten Joschka derart außer Gefecht zu setzen und hierher zu karren. Immerhin bringt der fette Kerl fast achthundert Kilo auf die Waage. Ein wahres Prachtexemplar von einem Kodiakbären, der absolute Mittelpunkt jeder unserer Vorstellungen. Was auch kein Wunder ist. Immerhin hat er jeden Trick und jedes Kunststück von mir gelernt.
Vor vierzehn Jahren kam er zu mir in den Zirkus. Da war er fast noch ein Bärenbaby, quasi frisch von der Mutter weggefangen. Es war ein verdammt hartes Stück Arbeit, ihn dorthin zu bringen wo er heute ist. Ich will gar nicht zurückdenken an all’ den Drill und die Strapazen, die notwendig waren um einen echten Star aus ihm zu machen. Dazu muss man schon eine harte Hand haben – auf gute Worte oder Einfühlungsvermögen reagieren diese Biester ja überhaupt nicht. Aber schließlich habe ich ihn klein gekriegt und wenn wir beide heute in der Manege stehen, reagiert diese Bestie auf die kleinste Handbewegung von mir.
Da! Ich glaube er kommt langsam zu sich. Tatsächlich. Er hebt seinen mächtigen Schädel und schüttelt sich. Langsam, ganz langsam und tapsig richtet er sich auf und ist immer noch ganz benommen von dem Betäubungsmittel, das ihm die „Füchse“ verpasst haben. Ich sitze ganz ruhig in meiner Ecke und beobachte Joschkas Verwirrung über die ungewohnte Umgebung. Noch hat er mich nicht entdeckt, aber jetzt reckt er seine Schnauze hoch in die Luft und schnüffelt und riecht und lässt dabei sein kehliges, tiefes Brummen hören. Mit einer riesigen Tatze scharrt und kratzt er über die Betonwand und macht dabei mit seinen Klauen ein Geräusch, dass es mir eiskalt über den Rücken läuft. Jetzt hat er genug von der Ecke und dreht sich zu mir um, entdeckt mich, wie ich hier kauere und mich frage, wann diese Tierschutzfritzen gedenken mich hier rauszuholen.
Joschka hat bernsteinfarbene Augen, und die sind jetzt direkt auf mich gerichtet und sehen mich starr an. Mein Liebling macht überhaupt nicht den Eindruck als würde er mich wiedererkennen, aber das kann natürlich nicht sein. Natürlich kennt er mich! Er weiß, wer ich bin! Die ganzen Jahre, die wir zwei schon beisammen sind! Die vielen hundert Vorstellungen, die wir so bravourös hingelegt haben und der viele Applaus den wir immer hatten! Daran muss er sich doch erinnern! Es ist kalt hier in unserem Gefängnis, und trotzdem spüre ich, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn sammeln. Instinktiv greife ich neben mich, taste über den Fußboden, ohne den Blick von diesen Bärenaugen abwenden zu können, die mich noch immer fixieren. Aber meine Hand findet nur Leere, wo ein kleiner Teil meines Gehirns gehofft hatte, auf den Elektroschocker zu stoßen.
Dieses Ding hatte mir bei Joschkas Dressur immer schon unschätzbare Dienste erwiesen. Es war ein Kinderspiel gewesen, diesen Riesen von einem Bären mit einem wohlplatzierten 300-Volt-Schlag in die Schranken zu weisen, wenn er mal übel gelaunt war, oder wenn es mit einem neuen Kunststück nicht so klappen wollte, wie ich mir das vorstellte. Und das kam wahrlich öfters vor! Joschka beobachtet noch immer interessiert meine Bemühungen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ihn mein Rumgezittere und mein Gehampel prächtig amüsiert. Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und schaffe es endlich den Blick von meinem zottelpelzigen Zellengenossen abzuwenden. Ich schaue zur Tür und hoffe inständig, dass sie sich öffnet und ich endlich aus diesem Albtraum befreit werde.
Jetzt beschließt Joschka, dass er mich lange genug betrachtet hat, hebt seinen Körper und macht einen, zwei Schritte auf mich zu. „Joschka, braver Junge. Schschsch. Braver Bär.“, flüstere ich heiser, das Gesicht zu einem hilflosen Grinsen verzerrt, und dabei drücke ich meinen Rücken noch weiter in die Ecke hinein. Aber Joschka hat beschlossen, kein braver Bär zu sein. Er kommt noch einen Schritt näher, legt die Ohren an und fletscht die Zähne, diese riesigen Hauer, und stößt ein so ohrenbetäubendes Brüllen aus, dass mir fast der Schädel zerspringt. Und auch ich schreie jetzt hysterisch los und lasse fassungslos meinen Blick zwischen diesem bösartigen Monstrum und dem feuchten Fleck in meinem Schritt hin- und herpendeln. „Holt mich hier raus, ihr Arschgeigen!!“, brülle ich wie von Sinnen. „Das könnt ihr doch nicht tun! Holt mich raus!!!“ Aber die „Füchse“ können alles. Sie haben mir doch ein Exempel versprochen.
Und wie in Zeitlupe sehe ich jetzt, wie sich der massige Körper von Joschka wie eine Stahlfeder zusammenzieht, als er zum Sprung ansetzt. Ich reiße die Arme vors Gesicht als sich achthundert Kilogramm blanker Hass auf mich stürzen, um mich wie eine Schweinehälfte zu zerfetzen, und der Aufprall knallt mich hart gegen die Wand, und ich spüre nur noch, wie mein Rückgrat zerbricht ...
„Boss! Hey Boss! Wachen’se doch endlich auf, Boss!“ Ich reiße die Augen auf und schaue geradewegs in das runde Gesicht von Bo, dem Seehunddompteur, der mich an den Schultern gepackt hat und mich heftig durchschüttelt.
„Bo? Bist du das?“ Intelligenteres kommt mir im Moment nicht in den Sinn.
„Mensch Boss. Kommen’se schnell nach draußen. Es ist wegen Joschka!“ Bo steht bereits wieder in der offenen Tür meines Wohnmobils.
„Joschka? Wieso Joschka? Was ist denn passiert? So red’ doch endlich!“
„Keine Ahnung, Boss.“ Bo zuckt nur mit den Schultern. „Es ist nur ... sein Käfig ist leer, das Schloss ist aufgebrochen. Irgendjemand hat unseren alten Joschka geklaut!“