Azrael
Leise und flink erklomm er die Mauer des alten Gebäudes, dass er tagelang observiert hatte. Für ihn war es kein Problem; das hatte er schon hunderte Male gemacht. Zu seinem Vorteil ragten einzelne Steine aus der Mauer weiter hervor, als andere, so dass er diese als eine Art Leiter benutzen konnte. Mühelos glitt er von einer Kante zur nächsten und hatte in Windeseile den Balkon im ersten Stock erreicht. Er atmete ruhig und zeigte keinerlei Anzeichen für Nervosität. Immer im Hinterkopf, nicht aus den Schatten zu treten bewegte er sich ganz behutsam um die erste Ecke herum. Durch das einfallende Mondlicht hatte ihn die Frau zuerst gesehen. Doch ihr erstarb der Hilfeschrei in der Kehle, noch bevor er nach außen drang. Die dunkle Gestalt befestigte das Blasrohr wieder an seinem Gürtel und entfernte den Dorn aus dem Hals der Frau. Er musste jetzt vorsichtiger sein, es lebten noch andere Personen hier, die ihn auf keinen Fall entdecken durften, immerhin wollte er kein Massaker anrichten. Jetzt verließ er den Balkon und begab sich nach unten in den Innenhof. Grazil wie ein Panther streifte er über den nachtschwarzen Platz, der das Zentrum des Wohnkomplexes bildete. Jetzt musste er die Wohnung ausfindig machen, die sein Ziel war. Er kniff die Augen zusammen und verglich die Ansicht durch die zum Teil geöffneten Fenster mit den Details, die er sich eingeprägt hatte. Als er mit seinen Bewegungen bereits einen Halbkreis beschrieben hatte, entdeckte er die blau-weißen Gardinen hinter der geschlossenen, aber verglasten Balkontür. Langsam und immer auf der Hut schlich er zu der Feuerleiter hinüber und bestieg sie. Als er die Spitze erreicht hatte, hielt er kurz inne; er musste jetzt sein weiteres Vorgehen überdenken. Er musste über das Dach, aber wie? Entweder würde er rechts herumgehen und sich von Balkon zu Balkon schwingen – die sichere Variante. Oder er würde den direkten Weg nach links beschreiten, der nur einen Fuß breit war und auf dem man drohte in die Tiefe zu stürzen, sobald nur eine Schindel nachgeben würde. Das Problem war eigentlich, dass der Weg nach links bedeutete, sein Ziel in weniger als einer Minute zu erreichen. Der Weg nach rechts aber führte ihn noch einmal um den gesamten Wohnkomplex herum, was ungefähr einer Zeitspanne von ca. 4 bis 6 Minuten entsprach. Er entschloss sich trotzdem den langen Weg zu meistern. Plötzlich hörte er Motorengeräusche. Ein Auto näherte sich dem Haus. Blitzschnell stieg er die letzte Sprosse hinauf und drückte seinen Körper flach auf die Schieferplatten, die sich direkt vor dem Schornstein befanden. Die Geräusche kamen näher, verharrten kurz vor dem Komplex und waren dann mit einem Mal verschwunden. Dann hörte er ein Türenklappen. Er ist schon da, dachte er sich und verfluchte die Sonne, weil sie so spät untergegangen war. Das Tor zum Hof öffnete sich mit einem knarrenden Geräusch und sein Opfer trat ein und schloss die Tür. Er blieb liegen und wartete, bis der Mann in dem feinen Anzug das Haus betreten hatte. Jetzt musste es schnell gehen, aber nicht hektisch. Also links herum, dachte er und stand langsam, ganz langsam wieder auf. Er versuchte sich leicht wie eine Feder zu machen und balancierte dann in die Richtung des oberen Balkonfensters. Dann geschah das, was er befürchtet hatte, eine Schindel löste sich unter seinen Füßen, glitt nach unten hinweg und erzeugte beim Aufprall im Hof ein klirrendes Geräusch. Wie versteinert verharrte er in seiner starren Position. Aber es brüllte nur ein Nachbar etwas von den verdammten Katzen; ansonsten blieb alles still. Er atmete aus. Jetzt war ihm doch ein wenig warm. Als er weitergehen wollte, zögerte er kurz, den linken Fuß auf die nächste Schindel zu setzen, hatte aber schon seinen rechten Fuß nachgezogen, was unweigerlich dazu führte, dass er erst ins Wanken kam und dann ausrutschte.
Behende streckte er seine Arme aus und wartete im Fall ab, bis seine Hände die Dachrinne zu fassen bekamen. Die kantige Rinne schnitt trotz der Handschuhe tief in’s Fleisch. Er glaubte Blut an seinen Fingern zu spüren. Er schüttelte seinen Kopf, um wieder klare Gedanken fassen zu können. Plötzlich blitzte im oberen Teil das Hauses das Licht im Gang auf. Das bedeutete, dass das Opfer gleich in seiner Wohnung war. Eile war geboten. Sich wieder nach oben zu ziehen, wäre ein zu großer Kraftakt gewesen, also entschied er, sich hinüber bis zu dem Balkon zu hangeln und sich dann dort nach oben zu stützen. Bei dem Balkon war er schnell angelangt, doch das hatte ihm auch entsprechend viel Kraft geraubt. Er wusste, den Versuch, nach oben zu kommen, könnte er nur einmal wagen, dann musste er sich entweder völlig fallen lassen oder in den tiefer gelegenen Balkon zu schwingen versuchen. Er sammelte alle seine Reserven, stützte sich mit den Armen hoch, so dass sich nun sein gesamter Oberkörper oberhalb der Dachrinne befand und riss dann mit einem kräftigen Ruck sein rechtes Bein nach oben. Irgendwie schaffte er es, es fast über seinen Kopf zu heben und damit den Rand des Balkons zu erreichen. Zügig griff er erst mit dem linken, dann mit dem rechten Arm nach und zog sich dann über die Brüstung. Erschöpft blieb er einige Sekunden in dieser Stellung liegen. Doch plötzlich hörte er den Schlüssel im Türschloss und fast zeitgleich flimmerte drinnen das Licht. Eilig verbarg er sich in einer abgelegenen Ecke des Balkons, in der Hoffnung, das Opfer würde nicht heraustreten. Sein Wunsch wurde erfüllt. Der Mann im Anzug zog die Jacket-Jacke aus und befreite sich von seiner Krawatte. Dann verschwand das Opfer aus dem Raum. Ohne zu zögern holte der dunkle Schatten den Glasschneider aus der Tasche und schnitt in Sekunden ein kleines, kreisrundes Loch in die Scheibe. Schnell öffnete er die Tür von außen und ging hinein. Aufmerksam horchte er, ob das Opfer schon wieder auf dem Weg zurück war, doch er hörte nichts. Mit genau abgestimmten Bewegungen griff er sich den speziellen Kleber und setzte das fehlende Stück Glas wieder ein. Das Opfer sollte erst Verdacht schöpfen, wenn es bereits in der Falle saß. Als er fertig war verschwand er ganz schnell in einer uneinsehbaren Ecke hinter dem Wandschrank.
Der Jacket-Träger kam zurück, schaltete den Fernseher ein und setzte sich auf seine Couch. Er hatte sich Tee gemacht, der verführerisch duftete. Das Opfer verfolgte die Börsennachrichten und fluchte ab und zu. Ein wenig Zeit verging, ohne das etwas aufregendes geschah. Als er den Kopf senkte, um den letzten Schluck Tee zu nehmen spürte er die Klinge an seinem Hals. Geschockt ließ er die Tasse auf den teuren Teppichboden fallen und schrie kurz und kräftig auf. „Still!“ befahl die dunkle Gestalt, die das Opfer schemenhaft aus dem Augenwinkel erkennen konnte. „Steh auf!“ sagte die düstere Stimme. Der Mann erhob sich, ohne eine falsche Regung zu machen. Er zitterte merklich und der Schweiß rann ihm schon jetzt das Gesicht herunter. Er sagte keinen Ton. Da begann die Gestalt von neuem zu reden. Die beschwörerische, mystische Stimme verlieh den Worten den nötigen Nachdruck, als er sie aussprach: „Wisse, dass du gesündigt hast! Wisse, dass mich Gott, der Herr, gesandt hat, dich zu richten! Wisse, dass es mein Gesicht ist, was du zuletzt sehen und mein Name, den du zuletzt hören wirst, wenn ich deine Seele auf ewiglich in die quälenden Feuer der Unterwelt verbannen werde, damit sie immer wieder in dir widerhallen mögen.“ Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: „Wisse, ...“. Mit aller Kraft rammte er das Messer in den Brustbereich seines Opfers; er wusste, dass er richtig getroffen hatte, denn das plötzliche stoßweise Atmen des Mannes vor ihm verriet ihm, dass er noch am Leben war. Nun lief er in einer fließenden Bewegung um sein Opfer herum (ohne die Klinge auch nur einen Zentimeter zu bewegen), so dass dieses sein Gesicht sehen konnte. Der Mann wurde mit einem Mal kreidebleich und hätte er nicht nach Luft gerungen, so hätte er angefangen zu schreien. Die Fratze, die sich ihm darbot, schien ihm, als würde der Teufel persönlich vor ihm stehen. Der Mörder sprach weiter: „...ich bin...“. Wieder stieß er zu, diesmal etwas tiefer, in die Magengegend. Das Opfer krümmte sich und verlor langsam das Bewusstsein. Die Fratze richtete den Mann im Anzug wieder auf, schob sein Gesicht direkt vor das des Opfers und hauchte: „Azrael!“ Der letzte Schnitt traf die Kehle, so dass das Blut in hohem Bogen spritzte. Wie in Zeitlupe sackte der leblose Körper vor den Augen Azraels in sich zusammen und bildete auf der teuren Auslegeware nichts weiter als ein Häufchen Elend. Der Racheengel bekreuzigte sich und begab sich wieder hinaus. Der Weg nach draußen verlief viel unbeschwerlicher, als der nach drinnen. Aber er fühlte sich jetzt auch richtig erleichtert. Er zog seine Kapuze wieder über den Kopf und beeilte sich; es würde bald hell werden.
Er war mit dem Auto geflohen, niemand hatte ihn bemerkt, weder wie er gekommen, noch wie er gegangen war. Die Nachricht im Radio, dass in der Nähe von Florenz ein Doppelmord geschehen war, der wohl schwer aufzuklären sei, zauberte ein breites Grinsen auf sein Gesicht, dass sich in ein zufriedenes Lächeln wandelte, als berichtet wurde, dass in der Wohnung des ermordeten, hochangesehenen Bankiers Fotos mit minderjährigen Kindern in obszönen Gesten gefunden wurden, die er wahrscheinlich selbst geschossen hatte.
Am Nachmittag kam er zu Hause an. Schnell ging er nach drinnen. Dort zog er sich die Latex-Maske vom Gesicht und entfernte die Kontaktlinsen. Schnell schlüpfte er in seine Robe, bekreuzigte sich und ging hinaus. Die Frau war schon da, wie jeden Sonntag. Sie hatte sich bereits auf ihren gewohnten Platz gesetzt. Es war diese Frau mit den sechs Kindern, die ihren Mann nach und nach vergiftete, weil er ihr das Leben zur Hölle machte. Er setzte sich in seine Kabine und öffnete das kleine Fenster. Er wusste, was sie jetzt sagen würde und er musste unwillkürlich grinsen. „Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt!“