Autobahn
Das Motorengeräusch verstummte. Er lehnte sich im Sitz zurück und fluchte innerlich. Einen Stau konnte er nun absolut nicht brauchen. Er würde zu spät kommen, ausgerechnet heute, wo ein wichtiger Abschluss bevorstand. Wütend schlug er mit der Faust aufs Lenkrad. Wahrscheinlich wieder so ein Schleicher irgendwo, der Panik bekommt, wenn eine erste Regenwolke auftaucht und dann auf 60 schaltet, weil die Strasse ja rutschig werden könnte! Er warf einen Blick zum Himmel hoch. Grau. Durchgehendes Grau und es blies ein starker Wind, der die Büsche am Rand der Autobahn peitschte. Wenn wenigstens die Sonne etwas scheinen würde, dann wäre die Warterei etwas leichter zu ertragen.
Der Schlüsselbund am Zündschloss pendelte immer noch leicht hin und her. Der Mann schaltete das Radio ein und lehnte sich wieder zurück. Er knetete seine Unterlippe und neigte sich dann leicht zur Seite, um vielleicht einen Blick zu erhaschen, was denn weiter vorn passiere. Direkt vor ihm stand ein dunkelgrüner Lastwagen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Im roten Ford hinter ihm schminkte sich die darin sitzende Frau im Rückspiegel. Er musste lächeln. So konnte man auch seine Zeit verbringen. Er neigte sich noch einmal nach links, konnte aber nichts erkennen. Also öffnete er das Fenster um sich weiter hinaus beugen zu können. Leider brachte auch das nichts, denn der Stau zog sich noch über eine grössere Distanz vor ihm hin. Er drehte das Fenster wieder hoch, denn draussen war es empfindlich kalt geworden. Der graue Himmel und die Kälte verbreiteten eine sehr unangenehme Atmosphäre. Er seufzte. Dann stiess er mit dem Knie den Schlüsselbund an und betrachtete die schwingenden Bewegungen.
Die Wolken am Himmel verdunkelten sich langsam. Es würde entweder Regen oder sogar Schnee geben. Das gefiel ihm gar nicht. Dann würde alles noch viel langsamer vor sich gehen und er würde hundertprozentig erst mittags im Büro ankommen. Dann war alles vorbei. Er kramte nach seinem Mobiltelefon und wollte die Nummer seines Büros wählen. Doch dort wo das Freizeichen ertönen sollte hörte er nur... nichts. Kein Rauschen, nichts. Er warf einen Blick aufs Display, doch es schien alles in Ordnung zu sein. Er versuchte es ein zweites Mal, jedoch mit dem gleichen Ergebnis.
Er murmelte etwas wie "Dann halt nicht" und warf das Telefon auf den Beifahrersitz auf seinen Mantel. Das Radio verstummte. Er legte die Stirn überrascht in Falten und beugte sich vor. Die Anzeige leuchtete und zeigte an, welche Frequenz eingestellt war. Er drehte an den Knöpfen. Es passierte nichts. Dann schaltete er den CD-Player an und auf dem Display erschien die Laufzeit des ersten Stücks. Nur hören konnte er nichts. Er schüttelte den Kopf. Was verdammt war heute bloss los? Hatte sich alles gegen ihn verschworen? Er blickte nach draussen und trommelte mit den Fingern auf die Lenksäule. Draussen war es windstill geworden. Das ging aber plötzlich. Bis eben hatte es doch draussen noch fast getobt und jetzt war alles stocksteif und machte keine noch so kleine Bewegung. Er kniff die Augen etwas zusammen und starrte die Büsche und Sträucher an um etwas zu erkennen. Als er am rechten Rand nichts erkennen konnte, warf er einen Blick zu den Bäumen auf der linken Seite. Nichts.
Heute war ein wirklich seltsamer Tag, das Wetter spielte total verrückt, die Leute spielten verrückt - oder konnten zumindest wieder mal nicht Auto fahren - und die technischen Geräte schienen auch nicht mehr das zu sein, was sie mal waren. Also musste er wohl die Zeit etwas anders Nutzen. Warum nicht noch einmal die Frau hinter ihm beobachten, er hatte in der Eile gar nicht darauf geachtet, ob sie hübsch war oder nicht. Er schaute in den Rückspiegel und riss dann die Augen auf. Hinter ihm stand kein Ford mehr! Hinter ihm stand überhaupt kein Auto mehr! Er drehte sich ruckartig in seinem Sitz um und starrte auf die Autobahn hinter ihm. LEER! Kein einziges Fahrzeug auf keiner der beiden Spuren! Er atmete tief durch. Das konnte doch nicht sein, die waren doch nicht plötzlich alle hinter ihm weggefahren. Dann fiel ihm etwas ein. Als er vorhin nach links zu den Bäumen geschaut hatte, stand kein Auto neben ihm, obwohl es Staus doch eigentlich so an sich hatten, dass immer BEIDE Spuren dicht waren. Er traute sich kaum noch einmal nach links zu schauen, doch widerwillig tat er es. Tatsächlich stand links von ihm niemand.
Verwirrt blickte er wieder nach vorn und stiess einen erschreckten Schrei aus. Der Lastwagen vor ihm war verschwunden. Falsch, nicht nur der Lastwagen, sondern ALLE Wagen, die vorhin vor ihm gestanden hatten. Meine Güte, so schnell konnte sich doch kein Stau auflösen, und schon gar nicht, wenn man mitten drin stand und das doch eigentlich mitbekommen müsste. Jemand hinter ihm hätte bestimmt gehupt. Auf jeden Fall käme er nun endlich weg. Er griff nach dem Zündschlüssel und wollte den Wagen anlassen. Er griff ins Leere. Fassungslos starrte er zum Zündschloss. Sein Schlüsselbund war weg. Er setzte sich zurecht und suchte am Wagenboden. Dann überlegte er sich, ob er vielleicht den Schlüssel abgezogen hatte. Obwohl eigentlich war er sich sicher, dass er das nicht getan haben konnte. Warum sollte er auch? Er wollte noch einmal versuchen, im Büro anzurufen. Es wunderte ihn eigentlich schon fast nicht mehr, dass auch das Telefon nicht mehr an der Stelle war, wo er es vorhin hingelegt hatte. Ein Scherz? Nein, wer sollte so etwas tun? Und vor allem, WIE? Sein Blick glitt hoch und er wollte nach draussen sehen, doch als er aus dem Fenster schaute, sah er anstelle der bepflanzten Böschung nur... nichts. Er rieb sich die Augen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. In seinem Inneren purzelte alles durcheinander. Er konnte seinen Augen nicht trauen, er traute seinem Verstand schon nicht mehr. Das konnte doch alles nicht sein, das durfte alles nicht sein!
Er setzte sich wieder gerade hin und fürchtete sich regelrecht, seine Augen nach vorne auf die Fahrbahn zu richten. Sie hörte etwa zehn Meter vor ihm auf. Nicht so, wie eine Strasse aufhörte, die nicht zu Ende gebaut worden war, sondern sie verschwand einfach, wie in einer extrem dichten Nebelwand. Kalte Schauer liefen seinen Rücken hinab. Schweiss trat ihm auf die Stirn, obwohl es kühl war. Er hatte Angst. Er hatte panische Angst. Nichts, was hier geschah, konnte er sich erklären, noch wahrscheinlich sonst jemand. Stück für Stück verschwand die Strasse, Stück für Stück verschwand die Landschaft um sein dunkelblaues Auto herum. Alles lag in einem diffusen hellgrau. Mit zittriger Hand öffnete er die Wagentür einen Spalt und versuchte zu erkennen, was unter ihm lag, ob er noch irgendwo stand oder ob er schwebte oder was auch immer. Er musste versuchen, einen Fuss dort hinaus zu setzen, er musste der Sache doch irgendwie auf den Grund gehen. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen an seinen Beinen hinunter. Halb von Sinnen sah er, dass seine Beine in Stümpfen ausliefen. Er schrie. Er schrie so laut er nur konnte und doch konnte er sich nicht hören. Mit beiden Händen tastete er seinen Kopf ab und er verstand es nicht, denn seine Ohren waren an ihrem Platz. Schluchzend tastete er nach vorne. Sein Mund war nicht mehr da. Seine Tränen rannen über geschlossene Haut und tropften von seinem Gesicht auf den Sitz. Seine Beine waren verschwunden, wie auch der Boden des Wagens. Er warf sich hin und her, geschüttelt von Angst und Panik und er versuchte zu schreien und zu wimmern. Das letzte, was er sah, bevor sich seine Augen in nichts verwandelten, war, wie das Dach seines Autos sich auflöste.
Die Frau im roten Ford runzelte die Stirn. Sie hätte schwören können, dass zwischen ihr und dem dunkelgrünen Lastwagen noch ein anderer Wagen gestanden hatte. Irgendwas Dunkelblaues. Sie zuckte die Schultern. Offensichtlich war der im Nichts verschwunden und gab ihr die Möglichkeit, wieder ein Stück in diesem elenden Stau gutzumachen. Sie liess ihren Motor an und rollte nach vorne und füllte die entstandene Lücke wieder aus. Die Schlange hinter ihr zog nach. Sie stellte den Motor wieder ab und lächelte. Sie summte die Melodie aus dem Radio mit und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Irgendwann würde sie auch noch ankommen. Sie schaute zu, wie das kleine Plüschtier an ihrem Rückspiegel hin und her baumelte. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die frisch nachgezogenen Lippen ab. Ihr fiel dabei auf, dass das Tierchen nicht mehr baumelte, sondern jetzt ganz still hing. Seltsam, das ging doch nie so schnell. Sie lehnte sich zurück. Dann verstummte das Radio.