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23.05.2015
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Auszeit

Sonntags verließen wir oft die Stadt. Morgens am Bahnhof trafen wir uns und stiegen in einen der vielen abfahrenden Züge, stiegen einfach ein in einen beliebigen Zug, der hinausfuhr. Wir blickten aus dem Fenster, während der Zug langsam alles Gewohnte hinter sich ließ: die Autos und die Häuser, die Hunde und die Menschen der Straßen, die wir kannten. Dann stiegen wir irgendwo aus, in einem der vielen Vororte der Stadt, der sich jedes Mal fast wie ein Nirgendwo, wie ein Niemandsland anfühlte. Manchmal hatte er oder ich einen Plan, manchmal führten wir etwas im Sinn, wenn wir die Stadt verließen. Irgendein Ziel. Ein besonderes Gebäude, einen Wanderweg, einen See oder eine historische Sehenswürdigkeit. Es gab wirklich viel zu sehen, wenn man einmal die Stadt verließ.

Doch im Grunde war es nicht wichtig, ob wir ein Ziel hatten oder nicht. Das wussten wir beide. Wir trafen uns einfach an einem Sonntagmorgen am Bahnhof und stiegen ein in den nächsten Zug, der abfuhr, irgendwohin, an einen beliebigen Ort. Dann verbrachten wir unsere Sonntage dort jenseits der Grenzen der Stadt, in einem ihrer Vororte. Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen, ohne jemals darüber zu sprechen. Nie sprachen wir darüber. Unter allen aus der Gruppe war er der einzige, der niemals auch nur ein einziges Wort darüber verlor. Kein Wort.

Ich hatte versucht, mit den anderen auszukommen, mich mit ihnen zu verstehen. Ich hatte es wirklich versucht. Viele Stunden meines Lebens hatte ich mit jedem einzelnen von ihnen verbracht. Wir waren in Museen gegangen, hatten Ausstellungen über die Geschichte der Menschheit und auch einige über Kunst besucht. Wir tranken Kaffee an netten Orten, gingen an sonnigen Tagen in Parks spazieren oder sahen in einem Kino einen guten Film an. Doch das reichte nie aus, niemals war es genug. Immer hatte ich das Gefühl, dass unser gesamtes Treffen davon überschattet war – so, als befänden wir uns in einer künstlich arrangierten Konstellation, in der das einzige, was uns verband, dieses war. Und dann redeten wir darüber, und über nichts anderes. Als ob nichts anderes existierte.
Wir sprachen dann, Rücken gebückt, mit weichen, schwachen Stimmen, und unsere Gesichter nahmen dabei diesen ernsthaften Ausdruck an. Und ein jeder, der uns so sitzen sah und uns so reden hörte, wusste, dass dies etwas Besonderes war, worüber wir sprachen. Etwas, wovon nur die wenigsten Menschen eine Vorstellung haben. Jeder konnte es ausmachen, allein wegen unserer gebeugten Haltung, wegen diesem ernsten Ausdruck, der in unseren Gesichtern geschrieben stand und wegen den leisen Stimmen, mit denen wir sprachen. Am Ende unseres Treffens hatten wir uns auf dieselbe Art getrennt, mit einem Seufzer meist noch, und waren heimgekehrt, ein jeder zu sich. Zeit war vergangen. Und nichts hatte sich geändert, nichts war anders. Rein gar nichts.

Aus diesem Grund hatte ich aufgehört, mich mit den anderen Gruppenmitgliedern zu treffen. Nach jedem der wöchentlichen Gruppentreffen befürchtete ich, einer von ihnen würde erneut auf mich zukommen, im Gesicht schon die beklemmende Frage. Ich konnte sie ihren Lippen ablesen, noch ehe man mich ansprach, um mit mir eine solche Verabredung auszumachen. Es geschah selten, doch wenn es geschah, so hatte ich mir bereits eine passende Antwort zurechtgelegt. Stets hatte ich eine glaubhafte Ausrede parat, um diesen qualvollen Treffen zu zweit zu entkommen. Die Zeit verging. Und allmählich ließen die Fragen der anderen nach.
Er war der einzige der Gruppe, den ich weiterhin traf. Sonntags. Mit ihm war alles anders. Ich weiß nicht, ob er die anderen Gruppenmitglieder genauso empfand wie ich. Nicht einmal hierüber sprachen wir.

An den meisten dieser Tage schien sogar die Sonne. An manchen war es kalt, an manchen warm. Wir schauten vorher nie den Wetterbericht an. Wir wollten nicht wissen, wie das Wetter sein würde. Zu jeder Jahreszeit fuhren wir los mit dem Zug, über die Stadtgrenzen hinaus. Hier und dort, überall waren wir. Im Frühling wuchs das Gras der Felder neu. Wir sprachen über dieses, redeten über jenes. Vögel sangen im Sommer, sie kreisten in den warmen Lüften über unseren Köpfen. In der Ferne plätscherte ein Fluss. Wir sagten dies und das. Im Herbst fielen bunte Blätter von den Bäumen. Wir liefen hierhin, wir liefen dorthin. Frischer Wind rauschte um die alten Äste und um unsere kalten Gesichter im Winter. Hin und wieder schwiegen wir dann und hörten im Schweigen unseren Füßen zu, wie sie Schritte machten. Die Zeit kam und ging, tagein, tagaus. Es war wirklich nicht wichtig, was wir sonst noch alles taten. Wir sagten wenig, wir fragten wenig an jenen Sonntagen.

Nach einem dieser Ausflüge an einem jener Sonntage, wir saßen bereits im Zug zurück in Richtung Stadt, da nahm er etwas aus seiner Tasche hervor und gab es mir. Ich weiß nicht, woher er wusste, dass ich Geburtstag gehabt hatte. Als ich anfing das Geschenk zu öffnen, bat er mich damit zu warten, ehe er den Zug verlassen hatte. Ich hatte nichts dagegen; ich öffne meine Geschenke sogar lieber, wenn ich alleine bin. Es ist mir unangenehm, wenn man mich dabei beobachtet. All die Aufmerksamkeit! Möglicherweise verrät mein Gesicht während dem Öffnen meine Unsicherheit, offenbart gar meinen Zweifel, und dann, beim Anblick eines nicht gefallenden Geschenks, meine Enttäuschung. Das sagte ich ihm. Er erwiderte, er möge es genauso wenig, anderen beim Öffnen seiner Geschenke zuzusehen.
Als seine Haltestelle näher kam, stand er auf. Der Zug hielt an, wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln. Ich betrachtete das Geschenk in meinen Händen, nachdem sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten. Schleppend kam der Zug ins Rollen, schob sich langsam an der Plattform entlang und verließ die Station. Ich öffnete das Geschenk. Es war nur eine kleine Aufmerksamkeit, nichts weiter. Nur für einen Augenblick war es, ein Geschenk der Gegenwart sozusagen. Doch der Moment hielt an, während der Zug weiterfuhr. Ich blickte aus dem Fenster um ihn zu sehen, wie er nach Hause lief. Und just da drehte er sich um, winkte mir zu und lächelte zurück.

Und das war genug und mehr musste nicht gesagt werden an jenen Sonntagen, an denen wir die Stadt hinter uns ließen. Das wussten wir beide.

 

Hej Sarah,

ich schreib mal beim Lesen mit:

während der Zug langsam alles Gewohnte hinter sich ließ
Nicht der Zug lässt alles gewohnte hinter sich, sondern die Leute darin. Oder? Der Zug kennt doch auch außerhalb der Stadt alles bestens.

Dann stiegen wir irgendwo aus, in einem der vielen Vororte der Stadt
Wenn sie sich morgens treffen und dann irgendwo aussteigen und sich in einem Vorort befinden, entsteht für mich das Bild einer gigantischen Stadt. Aber vielleicht hast Du es ja auch so gemeint.

manchmal führten wir etwas im Sinn,
Ich kenne nur "etwas im Schilde führen" oder "etwas im Sinn haben".

Es gab wirklich viel zu sehen, wenn man einmal die Stadt verließ.
Ein Nirgendwo, in dem es viel zu sehen gibt. ;)

wir trafen uns einfach an einem Sonntagmorgen am Bahnhof und stiegen ein in den nächsten Zug, der abfuhr, irgendwohin, an einen beliebigen Ort. Dann verbrachten wir unsere Sonntage dort jenseits der Grenzen der Stadt, in einem ihrer Vororte.
Das hattest Du schon.

Unter allen aus der Gruppe
Zuerst dachte ich, es wäre eine Gruppe, dann ein Paar, jetzt ist es beides. Vielleicht machst Du das früher deutlich. Ich habe bis zum Schluss keine Ahnung, was für eine Gruppe das sein könnte. Um die Erzählerin besser kennen zu lernen, wäre es aber nicht schlecht, da mehr drüber zu erfahren.

Doch das reichte nie aus, niemals war es genug. Immer hatte ich das Gefühl, dass unser gesamtes Treffen davon überschattet war
Mir fällt es hier schwer, Dir zu folgen. Bezieht sich das auf "ihn" oder die Gruppe?

Und ein jeder, der uns so sitzen sah und uns so reden hörte, wusste, dass dies etwas Besonderes war, worüber wir sprachen.
Es würde helfen, wenn Du sie sprechen lassen würdest. Hier zum Beispiel. Du könntest sie und ihn auch gemeinsam schweigen lassen, während die anderen reden. Es würde sich näher anfühlen und nachvollziehbarer.

allein wegen unserer gebeugten Haltung, wegen diesem ernsten Ausdruck, der in unseren Gesichtern geschrieben stand und wegen den leisen Stimmen, mit denen wir sprachen.
Auch das hattest Du im Wesentlichen schon. Ich konnte nicht erraten, was sie da getan haben. Warum gebückt, haben sie etwas gepflanzt, Lehm geknetet, auf zu niedrigen Staffeleien gemalt?

Im Frühling wuchs das Gras der Felder neu. Wir sprachen über dieses, redeten über jenes. Vögel sangen im Sommer, sie kreisten in den warmen Lüften über unseren Köpfen. In der Ferne plätscherte ein Fluss. Wir sagten dies und das. Im Herbst fielen bunte Blätter von den Bäumen. Wir liefen hierhin, wir liefen dorthin. Frischer Wind rauschte um die alten Äste und um unsere kalten Gesichter im Winter. Hin und wieder schwiegen wir dann und hörten im Schweigen unseren Füßen zu, wie sie Schritte machten. Die Zeit kam und ging, tagein, tagaus. Es war wirklich nicht wichtig, was wir sonst noch alles taten. Wir sagten wenig, wir fragten wenig an jenen Sonntagen.
Das wirkt so abgerissen. Du versuchst hier vielleicht, einen Entwicklung zu zeigen, aber es entsteht dabei keine Nähe zu den Figuren und keine Tiefe. Sie sagten wenig und redeten dies und das, das wirkt so nach alles-und-nichts, trallala-tralala. Ich sehe nicht einmal einen großen Unterschied zu der ungeliebten "Gruppe", in Deinen Beschreibungen.

Als ich anfing das Geschenk zu öffnen, bat er mich damit zu warten, ehe er den Zug verlassen hatte.
bis er den Zug verlassen hätte

mein Gesicht während dem Öffnen
während des Öffnens

Er erwiderte, er möge es genauso wenig, anderen beim Öffnen seiner Geschenke zuzusehen.
:D (klingt beinahe, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten)

Als seine Haltestelle näher kam, stand er auf.
:susp: Sie treffen sich "am Bahnhof", das klingt nach Gewohnheit. Auf dem Rückweg hat jeder seine Haltestelle?

Mir fehlt neben einigen grundlegenden Infos vor allem wörtliche Rede. So bleiben die beiden sehr farblos und hinterlassen kaum einen Einruck.
Mir fehlt übrigens auch der Inhalt des Geschenks. Wenn Du das lang vorbereitetest und dann steht da plötzlich "Es war nur eine kleine Aufmerksamkeit", dann habe ich den Eindruck, die Erzählerin will mir sagen: "Ich spreche nicht gerne - über alles mögliche" und das ist vielleicht keine gute Voraussetzung, um eine Geschichte zu erzählen.

Und das war genug und mehr musste nicht gesagt werden an jenen Sonntagen, an denen wir die Stadt hinter uns ließen. Das wussten wir beide.
Das wäre als Schluss okay, wenn es vorher etwas mehr Inhalt gegeben hätte, wenn ich als Leser jetzt wenigstens sagen könnte: Irgendwie verstehe ich jetzt, dass etwas genug war und irgendwie fühle ich jetzt etwas von diesem Wissen, dass nicht mehr gesagt werden musste.
Mir geht es aber eher so, dass ich denke, der letzte Absatz hätte genügt, mehr Eindruck ist kaum entstanden. Und das ist doch schade.

Ich wünsche Dir erstmal viel Spaß beim Weiter-Schreiben,

Gruß
Ane

 

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