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Auszüge aus dem privaten Tagebuch des Staatspräsidenten
12. Oktober 2018
Die Anzeichen häufen sich. Ich glaube nicht mehr an Zufall. Sogar die große Volkszeitung hat schon festgestellt, dass hinter der Sache System stecken muss: Sie hat in der rechten unteren Ecke der Titelseite extra eine Rubrik dafür eingerichtet. Und die dort untergebrachten Informationen werden täglich mehr. Bald wird diese Rubrik schon die Hälfte der Seite in Anspruch nehmen.
Erst trat das Phänomen nur im Süden des Landes auf, aber seit einigen Wochen werden aus dem ganzen Land Geburten von Kindern, die vier Arme haben, gemeldet. Die zusätzlichen beiden Glieder seien voll ausgebildet und normal gebrauchsfähig, so wie die ‚normalen‘ Arme, berichten die Ärzte aus den verschiedenen Krankenhäusern. Auch sonst seien die Babys kerngesund. Anfangs brachte die Volkszeitung jede dieser Mißgeburten mit groß aufgemachtem Foto auf die Titelseite. Eine Welle von Mitleid schwappte durch das Land. Die ersten betroffenen Eltern erhielten Beileidsbezeugungen von wildfremden Menschen. Das war vor drei Monaten. Ich erinnere mich, dass meine Frau und ich im Urlaub waren und sie mir das erste Bild eines vierarmigen Kindes zeigte. Aber jetzt werden neue Geburten von Kindern mit vier Armen nur noch nebenbei erwähnt. Die Finanzkrise im Land hat für die Medien einen höheren Stellenwert.
Es ist dumm, dass dieses Phänomen gerade jetzt, in den ersten Monaten meiner Amtszeit auftritt. Bei allen anderen Problemen, die sich bis jetzt gezeigt hatten, konnte ich mehr oder weniger auf Erfahrungen zurückgreifen, die mein Vorgänger in diesem Amt gemacht hatte. Und - hier darf ich es ja zugeben – für die meisten Konflikte hatte er beneidenswert vernünftige Lösungen gefunden. Schade, dass er in der falschen Partei war! Aber das 4A-Problem, wie es bereits in der Alltagsdiskussion genannt wird, stellt ganz neue Anforderungen an die Regierung eines Landes.
Ich sehe es als meine Pflicht die Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit zu beobachten, denn hier könnte es sich um eine Tendenz mit epochalen Folgen für unsere Gesellschaftsordnung handeln.
10. November 2018
An der 4A-Front ist immer noch keine Ruhe eingetreten - im Gegenteil: die Zahl der Geburten steigt ständig. Vom statistischen Amt wurde mir bereits mitgeteilt, dass mehr als zwei Prozent aller Geburten Missgeburten seien - und von allen Fehlbildungen seien die 4A-Babys mit weit über 80% der größte Posten. Berücksichtigt man, dass die Daten der Statistikfritzen meist um Wochen verzögert erscheinen, muss das Thema heute noch dringender sein. Ich habe den Wissenschaftsminister beauftragt, an den Universitäten Studien zum Thema zu starten und die benötigten Gelder dafür locker zu machen.
20. Dezember 2018
Heute berichtete der Professor, der die Studien zum 4A-Problem koordinierte, dem Plenum über die Ergebnisse. Er kam in Begleitung einer ganzen Delegation von Lobbyisten der Pharmabranche. Dieser Professor salbaderte glatte zwei Stunden, die wir für dringendere Diskussionen hätten brauchen können. Die Arschgeige hätte den ganzen Sermon in zwei Sätzen zusammenfassen können. Erster Satz: ‚Wir wissen nichts‘. Zweiter Satz: ‚Geben Sie uns weitere fünf Millionen, dann setzen wir die Studien fort.‘ Am liebsten hätte er es gesehen, wenn er neben dem Geld noch klare Instruktionen bekommen hätte, WAS er denn mit seinen Studien nachweisen sollte. Aber so weit wollte ich noch nicht gehen. Erst wenn ich sehe, dass seine Ergebnisse auch in Zukunft nicht im Sinne unserer Partei sind, werde ich diesen Schritt machen müssen.
Es war ein Tag zum Heulen! Und das alles jetzt, kurz vor Weihnachten, wo die Bevölkerung eine Beruhigungspille gebraucht hätte.
07. Januar 2019
Weihnachts- und Neujahrsfeiertage. Da hat jemand die Zeit genutzt, um sich Gedanken über die Zukunft zu machen: Der Verteidigungsminister bat um einen kurzfristigen Termin, der heute stattfand. Er kam in Begleitung dreier Generaldirektoren von einheimischen Waffenschmieden, sowie des Vorsitzenden der Industrievereinigung. Ich muss sagen, die Jungs waren gut vorbereitet. Ihre Hauptaussagen waren: In knapp 20 Jahren kommen die ersten 4A-Jahrgänge in die Armee. Sie werden physisch wesentlich besser ausgestattet sein, als heutige junge Menschen, denn mit vier Armen können sie zeitgleich zwei, statt nur eine Waffe bedienen. Das wird die Schlagkraft unserer Streitkräfte verdoppeln, und gleichzeitig die Kosten senken. Aber man müsse sich rechtzeitig vorbereiten.
Die Waffenproduzenten ergänzten, dass solche Grundsatzentwicklungen Unsummen verschlingen würden und lange Vorlaufzeiten hätten. Die Forderung nach Fördergeldern lag klar auf dem Tisch.
Ich habe dieses Ansinnen kurzerhand zurückgewiesen, dafür aber zugesagt, dass die Herren stets vorab - und zwar vertraulich - über die neuesten Veränderungen im 4A-Prozess informiert würden. Das brächte ihnen mehr als monetäre Vorteile gegenüber der Konkurrenz. Dem Verteidigungsminister habe ich an Ort und Stelle die entsprechenden Anweisungen gegeben, verbunden mit dem Auftrag, mir bis in einer Woche mitzuteilen, wo er in seinem Etat 20% einsparen könne.
16. Januar 2019
Die Polizei berichtet in den Medien über mehrere Vorfälle im Land: Schlepperbanden sollten einige der weiblichen 4A-Babys entführt haben mit dem Ziel, die Kinder frühest möglich in Bordellen und Harems einzusetzen. „Die befriedigen Männer schneller als normale Mädchen,“ soll ein gefasster Bandenboss freimütig gestanden haben.
Diese Entwicklung ist zwar menschlich verwerflich, hat aber für unsere Politik den unschätzbaren Vorteil, dass sich die Volkswut auf einzelne dubiose, ausländische Subjekte konzentriert. Das lenkt von den wirklichen Problemen im Inland ab (4A-Problematik und Finanzkrise). Kollateralschäden müssen in Kauf genommen werden, wenn dadurch andere, größere Benachteiligungen für das Volk abgewendet werden können.
20. Januar 2019
Mich beunruhigt, dass aus dem Ausland keine 4A-Fälle gemeldet werden. Müssten wir die Forschung zum 4A-Phänomen allein aus nationalen Budgets bestreiten, könnten wir das nicht schultern. Habe den Informationsminister beauftragt, in den Medien für Desinformation zu sorgen. Die Bürger müssen so die Gewissheit erlangen, dass das 4A-Problem eine Angelegenheit von weltweitem Ausmaß ist. Der Informationsminister genießt mein volles Vertrauen und ich ließ im völlig freie Hand bei der Umsetzung meines Auftrages. Er ist der Fähigste meiner Getreuen. Ich will ihn rechtzeitig in Stellung bringen, wenn ich nach zwei Regierungsperioden mein Amt von Gesetzes wegen abgeben muss.
28. Januar 2019
Die Kampagne des Informationsministers zur Desinformation zeigt bereits Wirkung. Die wichtigsten Tageszeitungen und Fernsehsender der umliegenden Länder berichten über 4A-Geburten in ihrem Bereich. Erste Anfragen für eine konzertierte Aktion der Wissenschaftler auf internationaler Ebene sind eingetroffen. Natürlich werden wir hier (als Erstbetroffene) eine Führungsposition einnehmen.
15. Februar 2019
Als Politiker muss ich proaktiv sein. Habe für heute die Spitzen der schwächelnden Textilindustrie in die Hauptstadt geladen. 4A bringt auch für diese Branche ganz neue Chancen. Wir müssen internationale 4A-Normen anschieben und dabei unser nationales Knowhow in die Waagschale werfen. Wer den ersten Vorschlag für Normen macht, ist immer im Vorteil. Ein einfacher und schneller Weg, um aus dem Image-Tief heraus zu kommen.
Mit dieser Aktion können wir einige Stimmen, die die Opposition an sich gerissen hat, wieder zurück holen.
Die ersten 150 Tage meiner Legislaturperiode sind vorbei. Ich muss mich jetzt auf Neuwahlen konzentrieren, das heißt im Klartext: unpopuläre Entscheidungen nur noch im äußersten Notfall treffen!
10. März 2019
Die Weltwährung hat den kritischen Interventionspunkt unterschritten. Hektische Aktivität in den weltweiten Finanzministerien und an den Börsen. Krisengipfel für nächste Woche in der Hauptstadt von Westland. Das 4A-Thema wird von der Finanzkrise in den Hintergrund gedrängt.
Welchen Profit können wir daraus schlagen?
25. April 2019
Heureka! Die Wissenschaftler glauben eine Ursache für das 4A-Phänomen entdeckt zu haben: Man fand in einigen Müttern der 4A-Babys Spuren von unbekannten Teilchen, die angeblich von Sonneneruptionen stammen.
Wir wissen, das 4A bis jetzt nur in unserem Land aufgetreten ist (alles andere ist das Ergebnis von Fehlinformationen, die wir selbst gestreut haben; es entspricht also nicht den Tatsachen).
Folgende Frage bleibt unbeantwortet: Wenn 4A eine Folge von Sonneneruptionen ist, warum trifft es dann nur unsere Nation und keine anderen Länder?
Ich habe dem Wissenschaftsminister nahegelegt, den Grund bei einem ‚gezielten Angriff aus dem All‘ suchen, bzw. finden zu lassen. Damit könnten wir in die Rolle des ‚Opfers übernatürlicher Feinde‘ schlüpfen, was uns Sympathien von anderen Staaten einbringt. Die Fäden für unsere Hegemonieansprüche können wir dann in Ruhe im Hintergrund weiter spinnen.
10. Mai 2019
Endlich - manchmal brauchen die Wissenschaftler verdammt lange, um etwas herauszufinden, sogar dann, wenn wir ihnen schon vorgegeben haben, was das Resultat sein soll!
Die Volkszeitung veröffentlichte in der aktuellen Ausgabe ein von einem Satelliten aufgenommenes Bild des riesigen ‚Trichters‘. Dieser Trichter könne die gefährlichen Teilchen (die jetzt schon 4A-Teilchen genannt werden) bündeln und auf ein bestimmtes Land richten. Nur 4A-Teilchen, die mit Trichtereffekt auf die Erde geschossen werden, sind schädlich; alle anderen nicht. Die Weltöffentlichkeit kann sich jetzt ausgiebig mit der Frage beschäftigen, welche Macht hinter diesem Trichter steht und warum gerade unser Land mit 4A-Teilchen verseucht werden soll.
Mir bleibt jetzt mehr Zeit, mich intensiv auf meine Wiederwahl vorzubereiten. In diesem Land haben wir nur eine Legislaturperiode von zwei Jahren.
25. Juni 2020
Mist! Mist! Mist!
Das Volk hat meinen Genius nicht begriffen. Um sechs Prozent unterlag ich bei den Wahlen meinem Kontrahenten.
Ich werde mich jetzt aus diesem schmutzigen Geschäft endgültig zurück ziehen.