- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Auswege aus der Dunkelkammer
Sie ist depressiv. Das ist nicht nur so ein Gefühl,eine Einbildung von ihr, nein, es ist eine Krankheit. Eine genetisch bedingte. Das hat ihr der Neurologe gesagt. Und dann noch eine Psychiaterin. Bei der ist sie jetzt regelmäßig, einmal die Woche.
Diese Diagnose bereitet ihr gemischte Gefühle. Auf der einen Seite ist das schon gut. Zu wissen was los ist. Und sie gibt eine gewisse Rechtfertigung. Sie rechtfertigt die letzten Wochen, Monate. Die ganze Zeit des Nicht-Könnens. Sie gibt dem Dunklen eine Daseinsberechtigung. Aber sie macht es nicht besser. Nein. Diese offizielle Diagnose macht die Hoffnungslosigkeit nicht weg. Die ist trotzdem da. Permanent. Mal mehr, mal weniger. Aber immer präsent.
Schon vor der Diagnose ist sie bei ihrer Mutter untergeschlüpft. Als es in der großen Stadt gar nicht mehr ging. Bei ihrer Mutter ist es manchmal sehr anstrengend. Sie ist das ja nicht mehr gewohnt – sie ist ein eigenes Leben gewohnt. Eigene Verantwortung. Aber das hat nicht mehr richtig geklappt. Und bei ihrer Mutter hat sie auch Schutz. Vor der Außenwelt. Zu der hat sie fast jeden Kontakt abgebrochen. Und es ist gut, bei der Mutter zu sein. Die ist auch manchmal einsam. Der Vater ist erst im Jahr davor gestorben. Sie weiß, sie kann der Mutter den Schmerz und die Trauer nicht abnehmen. Das macht sie oft traurig. Genauso, wie die Mutter ihr den Schmerz nicht abnehmen kann, diesen permanenten. Aber sie können sich davon erzählen. Das dämmt ihn manchmal ein bisschen ein. Zu wissen, man ist nicht ganz alleine. Da ist noch wer. Someone, who cares.
Sie nimmt jetzt auch Medikamente. Davor hatte sie anfangs große Angst. Vor den Medikamenten und dem, was sie aus ihr machen. Man kennt das ja aus dem Fernsehen. Berichte und Filme über psychisch gestörte Menschen. Die von den Medikamenten ganz dumpf sind. Die in einer Psychiatrie leben. Dass sie nicht in eine Psychiatrie muss, das beruhigt sie sehr. Soweit hat sie sich also noch im Griff. Aber die Medikamente, die sind wohl notwendig. Zu Anfang hat sie gedacht, dass die ja nur helfen können, wenn sie sie komplett ausschalten. Denn die Angst, die Hoffnungslosigkeit kommt durch die eigenen Gedanken. Man müsste also ihr Denken lahm legen. Das, was sie ausmacht. Ihre Persönlichkeit. Das wollte sie nicht. Dann lieber sterben. Denn was bringt ihr ein Leben, in dem sie nicht sie selbst sein kann? Lieber sterben sowieso. Allem ein Ende machen. Dem Elend. Diesen Gefühlen. Dieser Hoffnungslosigkeit. Der große Ausweg. In einer rot gefärbten Badewanne einschlafen. Nicht mehr aufwachen. Dieser Gedanke war für sie sehr schön. So tröstend.
Aber sie nimmt ja jetzt die Medikamente. Und geht zu der Psychiaterin. Die und der Neurologe haben ihr die Medikamente erklärt. Wie die funktionieren, was sie mit einem machen. Das hat sie sehr beruhigt. Denn gute Erklärungen beruhigen immer. Das ist so was Handfestes, mit dem man was anfangen kann. Sie hat jetzt keine Angst mehr vor den Medikamenten, denn sie weiß jetzt, wie sie wirken. Sie darf weiter denken. So wie immer. Die Medikamente beeinflussen nur die Neurotransmitter. Die arbeiten nämlich nicht so, wie sie das sollen. Wie sie das bei normalen Menschen tun. Die Biochemie stimmt nicht.
Sie will das Leben aber nicht nur als Biochemie sehen. Das eigene Denken ist noch etwas anderes. Die Persönlichkeit. Aber die Erklärung war trotzdem gut.
Sie weiß nicht, ob die Medikamente schon wirken. Sie hat sie letzte Woche gewechselt. Es gibt ja verschiedene davon. Das erste war ein Schlafförderndes. Sie hat trotzdem schlecht geschlafen. Sehr schlecht. Vor den Nächten hatte sie dann richtig Angst. Also hat sie gewechselt. Sie meint, dass jetzt die spannenden Medikamente drankommen und das findet sie lustig. Die Stimmungsaufheller. Haha. Mit den Freunden kann man Witze darüber machen. „Jetzt kommen die lustigen Drogen.“ Dann lacht man, und alles ist nicht mehr so unnormal, denn man hat ja drüber geredet. Aber nur mit den guten Freunden. Mit den anderen kann man nicht drüber lachen. Auch nicht mit Nur-Bekannten. Denen muss man das manchmal erzählen, wenn sie einen fragen. Die schlimmste Frage. „Wie geht es Dir?“ Alle fragen das, wenn sie einen sehen. Man hat zwei Möglichkeiten: Entweder man lügt, oder man sagt die Wahrheit. Beides ist blöd. Lügt man, dann kommt gleich die nächste schlimme Frage: „Und was machst Du so?“ Da kommt sie dann ins Stocken. Sie hat keine Antwort darauf. Sonst wäre sie gleich wieder bei der Wahrheit. Bei der Depression. Bei den Medikamenten. Sagt sie gleich die Wahrheit, ist sie sofort da. Und dann wird es schwierig. Schwieriger, als die Fragen zu beantworten, sind die Blicke. Die sind immer gleich. Verständnislos. Geschockt. Unsicher. Es ist ein blödes Gefühl, wenn diese Blicke einem selber gelten. Das will sie lieber von vornherein vermeiden. Sie hat schon lange die meisten Kontakte abgebrochen. Das war nicht schwierig. Denn wenn man nicht immer gute Laune hat, dann wollen die meisten Leute eh nichts mehr von einem wissen. Ansonsten geht sie einfach nicht mehr raus. Wenn sie nicht muss. Sie versteckt sich. Zu Hause, bei ihrer Mutter.
Vielleicht wirken die neuen Medikamente schon. Sie weiß das nicht so genau. Die brauchen ja lange, bis sie richtig wirken. Aber es geht ihr ein bisschen besser. Sie geht zwar immer noch nicht richtig raus. Aber sie war sogar vier Tage in der großen Stadt. Fast nur in der Wohnung. Aber sie war da. Hat es geschafft. Mit Hin- und Rückflug. Das war sehr anstrengend. Aber es ging. Sie hat es geschafft. Sie war auch fröhlich dazwischen. Konnte lachen. So richtig. Und hat keine Angst mehr vor den Nächten.
Die Hoffnungslosigkeit ist immer noch da. Aber sie hat sich ein bisschen versteckt. Hat die Gedanken an die Zukunft ein bisschen mitgenommen. Und die Angst davor. Sie kann jetzt ein bisschen besser einfach nur den Tag leben. Sie versucht, weiter zu machen. Sie weiß nicht, ob das nun von den Medikamenten kommt. Aber sie hofft es. Dass das der richtige Weg ist. Das zu hoffen, das geht.
Manchmal hat sie doch Angst. Jetzt wo es ihr ein bisschen besser geht. Angst davor, dass das alles nur kurz ist. Mit dem Bessergehen. Dass es nicht bergauf geht, sondern plötzlich wieder so tief ins Loch. Aber die Angst ist nur kurz. Sie wird es der Psychiaterin sagen. Das mit der Angst. Und mit dem Bessergehen.
Der Wunsch nach der rot gefärbten Badewanne ist auch noch da. Aber er hat nicht mehr so große Macht über sie. Sie kann ihn die meiste Zeit übersehen.