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Ausverkauf
Die ersten kamen um fünf Uhr morgens. Schon von Weitem konnte Klaus sie hören. Das Stakkato hoher Absätze auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, das so mancher Ungeübten verstauchte Knöchel oder Schlimmeres bescheren konnte. Doch nicht denen, die heute vor dem Haus mit den hohen Glasfassaden und den minimalistisch eingerichteten Schaufenstern Stellung bezogen.
Niemand außer den wahren Profis stand früh um drei beim ersten Klingeln des Weckers auf, um sich dann dem Ritual zu widmen: Duschen, kalt - warm – kalt, das ist gut für den Teint. Und nicht vergessen, die Mischung aus rohen Eiern und Bier in die blond gefärbte Mähne einzumassieren, nicht vergessen, hat Jean-Pierre gesagt, dieser Halbgott mit Schere und Lockenwicklern. Haare nicht trockenrubbeln, nur leicht ausdrücken. Kontrolle der künstlichen Fingernägel – alles sitzt. Und der am Vorabend aufgetragene Lack an den Fußnägeln – perfekt. Auch wenn die Füße schnell in den Schuhen mit Zehn - Zentimeter - Absätzen verschwinden. Die Handtasche elegant über die knochige Schulter geworfen, das Make-Up ein letztes Mal im Garderobenspiegel geprüft und dann hinaus in die Morgenkühle.
Sie sind unterwegs zu ihrer bevorzugten Einkaufsmeile, der Futterstelle für das nie versiegende Verlangen nach vollen Schränken. Klaus ist heute für den Wachdienst an dieser Stätte eingeteilt, bereits ab sechs Uhr werden die Blicke auf den Schlüsselbund an seinem Gürtel gierig. Angespannt sieht Klaus zu dem Plakat, das an der Innenseite der Eingangstür mit goldfarbenen Klebestreifen befestigt ist. „Exklusiver Sonderverkauf – Erleben Sie die neue Herbstkollektion aus dem Hause Guillaume“ ist darauf zu lesen. Darunter noch das heutige Datum mit dem Hinweis: „Verkaufsbeginn um 08:00 Uhr!“
Um sieben Uhr dreißig drängen sich bereits über 200 herausgeputzte Raubtiere vor der schmalen Eingangstür. Vor einer halben Stunde hat eine langbeinige Rothaarige versucht, Klaus zu überreden, sie doch schon früher herein zu lassen als ihre Mitstreiterinnen. Die Erkenntnis, dass die Geschäftsleitung vorsichtshalber einen schwulen Wachmann für den heutigen Tag eingesetzt hatte, brachte sie schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Um zehn vor acht kam Christina. Flache Schuhe, elegantes Outfit, wache Augen und fleißige Hände. Klaus begrüßte seine Lieblings-Verkäuferin wie gewohnt mit Küsschen auf die rechte und linke Wange. Den mitgebrachten Cappuccino konnte er heute nicht so genießen wie sonst – die modehungrige Meute drängte sich nun dicht vor dem Tor zum vermeintlichen Glück. Handtaschen stießen gegen Rippen, lange Fingernägel kratzten an sich vorbeidrängelnden Körpern. Und wo noch kurz zuvor lebhafte Diskussionen über die Frisuren und Mode-Fauxpas der Stars und Sternchen geführt worden waren, herrschte nun eisiges Schweigen, die Augen hinter den tiefschwarz getuschten Wimpern gespannt auf den Schlüsselbund in Klaus Hand gerichtet.
Punkt acht drehte der Wächter den kleinen, unscheinbaren Türöffner zweimal im Sicherheitsschloss und mit einem leisen „Klack“ öffnete sich die Pforte, aus der der verheißungsvolle Duft gefärbten Polyesters strömte. Mit einem beherzten Sprung rettete sich Klaus zur Seite, als das Rudel der Stiletto-Verehrerinnen sich unaufhaltsam ihren Weg ins verheißungsvolle Land bahnte. „Willkommen in der Hölle“, murmelte Klaus Christina hinter ihrem Kassentisch zu, bevor er, ganz pflichtbewusst, den Blick zurück auf die tobende High-Fashion-Gemeinde richtete.
Es dauerte nur drei Minuten, bis das erste Blut floss. Eine klapperdürre Brünette schlitzte sich ihr rechtes Streichholzärmchen am scharfkantigen Handtaschenverschluss einer ihrer Kontrahentinnen auf. Klaus bahnte sich seinen Weg durch die Kaufwütigen, um ihr zu Hilfe zu eilen.
Mit seinen schweren Arbeitsschuhen schritt er über achtlos weggeworfene Kleiderbügel und musste aufpassen, nicht über abgestellte Handtaschen, die beim Kampf um die besten Stücke hinderlich waren, zu stolpern. Als er schon fast nach dem bleichen, blutenden Gerippe greifen konnte, geschah es:
Unter dem Gewicht von mehr als siebzig zerrenden und zeternden Fashion-Victims geriet einer der schweren, mannshohen Kleiderständer neben Klaus ins Wanken, schwankte bedrohlich zur Rechten und zur Linken. Panisch stob die Meute auseinander, strebte weg von der begehrten Beute, die Sicht und die Bewegungsfähigkeit durch Stoffberge in den raubtierartig gebogenen Krallenhänden stark behindert. Auch die waidwunde Brünette brachte sich im Stöckelschritt aus der Gefahrenzone.
Klaus wollte sich der Flucht anschließen, doch gerade als sich das Regal entschied, auf seine Seite zu kippen und noch zwei weitere Ständer wie Dominosteine mitzureißen, verfingen sich seine klobigen Schuhe in dem Gewirr von Handtaschenhenkeln und Kleiderhaken, so dass er der Länge nach zu Boden stürzte. Unzählige Mäntel, Kleider, Jacken und Blusen taten es ihm gleich und begruben den Wachmann, erdrückten ihn förmlich mit ihrer Eleganz, den wuchtigen Kunstpelzkragen und den schweren Gürtelschnallen.
Panik erfasste ihn. Wild strampelte er mit den Füßen, so dass seine Schnürsenkel sich immer mehr in den verhängnisvollen Haken und Ösen verfingen. Seide und Chiffon dämpften seine Schreie, Polyester und Acryl nahmen ihm die Luft zum Atmen. Seine Hände wühlten in den Stoffbergen über ihm, verzweifelt versuchte er, sich aus der dunklen Hölle aus in Taiwan produziertem Mischgewebe zu befreien.
Spitz wie Dornen stachen Nieten in seine tastenden Finger und ein heftiger Schmerz in seinem rechten Oberschenkel ließ ihn vermuten, dass ihn dort eine metallene Stange eines Ständers erwischt hatte. Seine Lunge füllte sich bei jedem hektischen Atemzug mit Fusseln aus dem Kunstpelzkragen des Mantels direkt über ihm. Die ganze Wucht der Pariser Modewelt hatte sich über Klaus aufgetürmt und dachte nicht daran, sich von einem Laien wie ihm aus dem Weg räumen zu lassen.
In die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen hinein trat das Geräusch, das ihm Schauer um Schauer den auf Gürtelschnallen gepressten Rücken hinunter jagte. Klack – klack – klack – klack. Die Raubtiere kehrten zurück zur Quelle ihres erbärmlichen Lebens, stürzten sich auf den unkonventionellen Wühltisch und ignorierten die entsetzt kreischende Christina, deren sonst so konzentrierten Finger nun hektisch über die Tastatur des Telefons glitten.
Als der erste Absatz die Haute-Couture-Decke über Klaus durchdrang und sich in seine Leber bohrte, färbte sich sein graues Hemd so rot wie die Sohlen der Schuhe, die ihn penetrierten. Seine Schreie gingen unter in dem Gekeife der Rivalinnen über ihn, die Kleidungsstücke mit sich rissen und immer weiter stöckelten, weiter über das maschinengewebte Grab, das sie Klaus bereiteten.
Gnädigerweise wurde Klaus ohnmächtig, als sich ein silberfarbener Absatz in sein linkes Auge bohrte, welches gleich darauf, eine blutige Spur durch die Stoffbahnen ziehend, seinen angestammten Platz mit einem lauten Schmatzen verließ und an einem Mantelknopf hängenblieb. Erst als sich der Absatz einer etwas üppigeren Blondine sich in Klaus Rippen verhakte, nachdem er das ohnehin nur noch schwach schlagende Herz durchbohrt hatte, wurde ein Teil der Meute auf Klaus aufmerksam, für dessen Stunde Null sie durch die Suche nach Größe Null verantwortlich waren.
Als schließlich die durch Christina herbeigerufene Hilfe das Rudel gebändigt hatte und den Unglücklichen freiwühlte, waren siebzehn Einstiche in dem entstellten Körper nachzuzählen, aus dem längst jedes Leben gewichen war. Der Notarzt stellte den Tod fest, und als der Reißverschluss des aus geruchsundurchlässigem, wasserfestem Stoff hergestellten Leichensackes mit dem typischen „ZZZZP“ geschlossen wurde, feilschte ein brünettes Klappergestell mit blutverkrustetem Arm gerade um eine Preisminderung für einen Mantel mit Kunstpelzkragen, von dessen Knopfleiste ein durchbohrtes Auge die Szene argwöhnisch zu überwachen schien.