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Ausstellungsbesuch
Die Malereien des neuen Sternes am Künstlerhimmel, des A. Brooke, kamen in die Stadt und jeder Intellektuelle, der etwas auf sich hielt, eilte sogleich zum Stadtmuseum, um diese zu betrachten und über sie zu urteilen.
Vor einem der Werke stand ein großgewachsener, brillentragender Student der es, das Kinn kritisch erhoben, aufmerksam betrachtete. Dabei legte er hin und wieder den Kopf schief, um auch wirklich keinen Winkel auszulassen.
Alsbald wurde auch ein weiterer Besucher, ein fülliger alter Herr, auf das Gemälde aufmerksam und gesellte sich dazu. Er blickte den Studenten an und räusperte sich bedeutungsvoll:
„Also dies ist, denke ich, ein äußerst interessantes Werk. Einerseits sehr simpel, andererseits besitzt es ein solches… eine solche Dynamik!“
Der Student, ohne sich von der Malerei wegzudrehen, nickte zustimmend.
„Dies wird an der Farbwahl liegen. Rot, wie das Feuer, das Blut, die Wut! Und dazu noch der Farbverlauf, man kann die Bewegung förmlich spüren.“
„In der Tat. Brooke ist wirklich ein wahrer Meister der abstrakten Kunst. Es gibt sehr, sehr wenige, die das Abstrakte, das Formlose zum Sprechen bringen können, aber er kann es. Irgendwelche Portraits zu schmieren, das kann jeder. Der hier erzählt mit seinen Werken Geschichten! Und da soll noch einer sagen, für abstrakte Malerei bräuchte man kein Talent!“
„Wie recht Sie haben!“, rief der Student, fast schon verträumt klingend. „Ich erblickte dieses Gemälde und sah die Welt darin. Das Chaos, die Zerstörung, die wir anrichten, Krieg und Gewalt, eine Gesellschaft, die sich selbst im Inneren zerfrisst! Dieses Bild ist ein Spiegel unsres Selbst, weswegen auch jeder eine Botschaft in ihm erkennen kann. Man könnte sagen, wir sehen uns selbst in darin!“
Der dicke Mann schwieg eine Weile, jeden einzelnen Pinselstrich mit den Augen verschlingend. Dann meldete er sich leise wieder zu Wort:
„Mich würde jedoch interessieren, weswegen der Künstler das Werk nicht etwa auf eine Leinwand, sondern einfach auf die Museumswand gemalt hat. Ich habe dies erst gar nicht realisiert, aber jetzt frage ich mich doch, was er damit bezwecken wollte. Wird dieses Gemälde nicht entfernt, sobald die Ausstellung vorüber ist? Und einen Namen hat es, sehe ich gerade, auch nicht…“
Der Student machte ein nachdenkliches Gesicht und kratzte sich dabei am Kinn.
„Ich vermute, dass dies Teil der Botschaft ist. Alles ist vergänglich und nichts vor dem Untergang sicher, auch dieses Werk nicht. Nach der Ausstellung wird man es wohl tatsächlich entfernen. Der Künstler geht dabei auf eine ganz neue Ebene über. Er stellt die Zerstörung nicht nur in seinem Bild dar, sondern mit ihm, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dadurch, dass er es aus dem Rahmen der Leinwand befreite, holte er es in unsere Realität und verlieh ihm somit eine neue Dimension. Dies wird wohl auch der Grund sein, weswegen das Werk keinen Namen hat: ein Name spielt in einer Welt, in der alles sowieso dem Untergang geweiht ist, keine Rolle, denn er würde irgendwann in Vergessenheit geraten!“
„Eine geniale Interpretation! Da ergreift mich der Wunsch, mehr über den Künstler und dieses Werk zu erfahren. Entschuldigen Sie…“
Der Dicke rief einen Museumsmitarbeiter, der gerade in der Nähe war, zu sich und deutete auf das Gemälde.
„Können Sie uns mehr darüber erzählen? Der junge Mann hier und ich sind ganz begeistert davon, von diesem Brooke.“
Angesprochener betrachtete die Wand, zog sich etwas nervös den Kragen seines Hemdes zurecht und sprach:
„Verzeihen Sie, aber hierbei handelt es sich nicht um eines der Werke des Künstlers. Das war eine Gruppe von dreisten, unverschämten Halbstarken, die nachts in das Gebäude eingebrochen sind und die Wand beschmiert haben. Unsere Reinigungskraft konnte nicht erscheinen und eine andere haben wir bedauerlicherweise nicht rechtzeitig auffinden können. Lassen Sie sich nicht davon irritieren, meine Herren. Die Gemälde Brookes befinden sich im Raum nebenan.“