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Aussöhnung mit Weihnachten
Es fing damit an, dass meine Uhr nicht stimmte. Sonst komme ich nämlich immer zu spät oder in allerletzter Minute, wenn ich eine Veranstaltung nicht wirklich besuchen möchte. Ich sag ja nicht, dass ich nichts dafür kann; nur je mehr ich mich um Pünktlichkeit bemühe, umso mehr kommt dann immer dazwischen.
Aber diesmal ging meine Uhr falsch, und so war es noch fast eine Stunde bis zum Beginn des Gottesdienstes. Noch war die Kirche leer, aber es war ja Weihnachten, und bald würden hochbetagte Damen kommen, um sich ihre Stammplätze zu sichern. Ich setzte mich in eine der Bänke in der Mitte und sah mich gedankenverloren in dem nur durch Kerzen erhellten Schiff um. Was wollte ich hier? Ich fand Kirche langweilig, eigentlich schon seit dem Kindergottesdienst , und ich hatte mich seit ein paar Jahren in den Kreis derer eingereiht, die nur einmal im Jahr in die Kirche gingen. Und das auch nur meiner kleinen Nichte zuliebe. Schließlich war ich nicht nur ihr Paten-, sondern auch ihr Lieblingsonkel. So schenkte ich ihr jährlich diese Stunde der Langeweile.
Aber war es das wert? Wie viel lieber hätte ich ihr etwas anderes gegeben, ihr etwas mitgeteilt von dem, was ich doch nur außerhalb dieser steinernen Bauten erlebt und erfahren hatte? Die Pastorin würde sicher über die „Liebe Gottes“ sprechen, doch würde es sich hohl anhören aus ihrem Mund. Wusste sie denn überhaupt, wovon sie sprach? Hatte sie dieses Einssein mit der ganzen Welt wirklich schon einmal gespürt? Wenn, dann musste es schon lange her sein und für sie nichts weiter als eine schal gewordene Erinnerung.
Ich hätte Anja lieber eine andere Wirklichkeit gezeigt, ihr beigebracht, wie sie im Sitzen oder bei einem Spaziergang den Punkt der Stille in sich finden konnte, der die Türen öffnete für dieses Gefühl. Doch Anjas Eltern waren dagegen; ein bisschen Religionsunterricht in der Schule, dann und wann ein Kirchgang waren ihrer Meinung nach genug für sie. Sie selbst kannten ja nicht mehr; sie spürten nicht einmal das Sehnen bei einer gutgemachten Predigt, dass es jetzt weiter, tiefer gehen sollte, ein Stück der Wahrheit aufzudecken. So konnte ich es ihnen nicht verdenken.
Langsam füllte sich die Kirche, Menschen strömten durch alle Pforten, und da war auch mein Bruder mit seiner Familie. Anja setzte sich artig neben mich, und bald begannen erste Orgeltöne. Ein schwerer Duft breitete sich aus, ähnlich wie in einer katholischen Kirche. Ein Krippenspiel wurde inszeniert, wie fast jedes Jahr, Joseph, Maria mit der Puppe im Arm, die sie in die Krippe aus Karton legte, dann die Engel, die Hirten, die drei Weisen. Die Kinder wurden aufgefordert, zur Krippe zu kommen und ein kleines Geschenk abzuholen, alles wie immer. Doch dann kam der große Unterschied.
„Weihnachten ist nicht nur ein Fest für die Kinder“, sagte die Pastorin. „ Auch die Erwachsenen mögen nun aufstehen und zur Krippe kommen.“
Anja, von ihrem Ausflug zum Altar schon zurück, sah mich freudig an, und ihr Gesicht glühte. Sie nahm mich bei der Hand, und wir gingen los. Schritt für Schritt im Gedränge mit den anderen. In dieser Kirche kann man ganz um den Altar herumgehen, und so zogen wir unsere Kreise, gemessen, bedächtig, andachtsvoll. Ich hatte den Eindruck, wir wären von hellem Licht umgeben, das mit jeder Umdrehung, jedem Schritt strahlender wurde, und der Boden unter unseren Füßen schien langsam anzusteigen. Wie auf einer Spirale gingen wir weiter auf unserer Pilgerschaft, jeder bei sich und doch alle vereint.
Allmählich wurden unsere Kreise enger, und irgendwann standen wir vor der Krippe. Da war Maria, wie man sie sich immer vorstellt, das Sinnbild von Jugend und Reinheit, und der bärtige Joseph mit gutgemachter Maske. Da war immer noch die Puppe in dem Karton, doch plötzlich war da noch etwas anderes, darüber, dahinter, schwer zu lokalisieren. Hinter diesem Krippenspiel, diesen Konfirmanden war eine andere Begebenheit, die durch sie hindurchschimmerte und sie durchdrang. Wieder eine Frau, ein Mann und diesmal ein Säugling, nur schemenhaft erkennbar und doch ganz real. Ich fühlte den Drang, niederzuknien, Demut und Andacht zu zeigen.
„Es ist doch nur eine Puppe!“, schoss es mir durch den Kopf. „Und selbst das Kind dahinter ... Ich bete doch kein Kind an!“
Gut, ich hatte Jesus immer bewundert, seinen Mut, seine Weisheit, seine Nähe zu Gott. Aber ich war kein Christ, und schon als Kind hatte ich nicht verstanden, wie diese Menschen in der Bibel ein Kind anbeten konnten. Es war mir unsinnig vorgekommen und sogar ein wenig gotteslästerlich! Doch als ich jetzt zu der Szene hinüberblickte, bemerkte ich noch etwas anderes, etwas drittes, das beide Ebenen durchdrang. Es waren keine Personen; ein goldenes, strahlendes Licht, und damit verbunden ein Wissen, das jenseits von aller Form war. Ich kniete nieder vor der Krippe; Puppe, Kind, alles war unwichtig, alles Symbole, Stellvertreter für die Wirklichkeit. Und aus weiter Ferne kam eine Melodie herüber, altbekannt und doch ganz neu: „Freue, freue dich du Christenheit!“
Ich kniete immer noch, doch in meiner Bank in der Mitte der Kirche; Anja hatte es mir wohl gleichgetan und löste sich langsam aus ihrer Stellung.
„Hallo Michael!“, sagte sie herzlich, als ich mich erhob, und nahm mich stürmisch in die Arme.
Ich schaute auf, verwirrt , sah, wie die Kirche sich langsam füllte und hörte die Glocken, die den Anfang des Gottesdienstes einläuteten.