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Auslöser

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Beitritt
02.11.2001
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671

Auslöser

Nachts

Ich kaure immer
Und höre mein Blut
Rauschen, den dunkeln Strom.

Sucht meiner Seele
Müder Fährmann
Deinen Schatten auf mondener Bucht.

Aber Du kamst nicht.
Er wartet lange, holte er
Dich endlich über.

M. Weissmann

Willst nicht glauben, was du hörst. Worte, die sich ins Herz brennen, an der Seele zerren, den Schmerz hervorwühlen, klatschen wie Ohrfeigen in dein Gesicht.
Sie haben sich darauf geeinigt, daß die, die ihres Lebens müde sind, selbstsüchtige, gelangweilte Teenager sind, oder Feiglinge, die den Weg des geringsten Widerstandes gehen.
Nur kleinere Detailfragen beleben noch die Diskussion. In ihrer Arroganz philosophieren sie über den Unterschied zwischen Freitod und Selbstmord, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, während sie über das spotten, was sie nicht verstehen und sich ein Urteil anmaßen über die Schwächsten unter ihnen.

Deine Augen weiten sich in schweigendem Entsetzen, während deine zitternde Hand das Glas an die Lippen führt.

Wer hat in deiner Haut gesteckt und deinen Schmerz gefühlt?

Als Kind wünschtest du dir, schwer krank zu werden.
Damit deine Qualen ein Gewand und eine Berechtigung hätten.
Damit du schließlich einschlafen kannst, um nie mehr aufzuwachen.
Damit deine Seele endlich aufhört wehzutun.
Ein Entkommen aus dem schwarzen Morast deines kurzen Lebens, ein Ende von Angst und Leiden.

Kein Gott hörte deine kindlichen Gebete und holte dich zu sich. Und auch die Tabletten, die du in deiner Verzweiflung schlucktest, wollten dich nicht erlösen.

Das Leben klebt an dir wie Pech, zwingt sich dir auf und hält an dir fest.
Irgendwann hast du dich ihm ergeben.

Wer wollte freiwillig die Leere in dir fühlen und den Schmerz und das Leid? Wer wollte deine Erinnerungen in seinem Kopf, verschüttete und nackt daliegende?
Wissen sie, daß Leben dich so viel Kraft kostet, daß für anderes oft nichts übrigbleibt? Und manchmal noch mehr, als du hast.
Es brüllt einem so lange ins Ohr, bis man es nicht mehr erträgt.

deine Probleme will ich haben

du mußt nur wollen

krieg deinen Arsch hoch

stell dich nicht so an

du bist doch nur faul

reiß dich zusammen

Drei Monate. Angst und Einsamkeit lassen dich schreien, doch Mama ist nicht da. Neben dir liegt sie, auf einem anderen Stern.
Die Spritze steckt noch in ihrem Arm.

Zwei Jahre. Du kennst die Frau nicht. Sie ist so fremd, wie all die anderen Menschen, die dich im letzten Jahr aufgenommen und wieder weggegeben haben. Du hast nie geklagt, nie nach der geweint, die dich nun in ihrem Arm hält. Auch jetzt weinst du nicht nach deiner letzten Mama.
Sie wird dich wieder weggeben. So war es immer.

Vier Jahre. Papa ist fort. Er ist ein böser, schlechter Mensch. Er hat euch bestohlen und andere schlimme Dinge getan, die du nicht begreifst. Mama erzählt dir all das und mehr. Sie haßt ihn. Und du sollst ihn auch hassen.
"Bei wem willst Du bleiben?" fragt die fremde Frau. Du blickst hinunter in die leeren Bankreihen, wo Mama sitzt und dich erwartungsvoll anschaut. Tränen, die du nie weinen wirst, schnüren dir den Hals zu.

Sechs Jahre. Deine kleine Schwester weint. "Mama ist tot!" Nein, sie ist nicht tot. Du siehst, wie sie atmet.
Der Alkoholdunst ist betäubend. Du schiebst ein Kissen unter ihren Kopf und deckst sie zu. Dann nimmst du deine Schwester mit in dein Bett. Heute nacht schlaft ihr eng aneinandergekuschelt.

Neun Jahre. Du liegst ganz still, starrst an die Decke. Dein Puls dröhnt in den Ohren. Du versuchst, an etwas anderes zu denken, als an die Finger, die in dir wühlen. Fast gelingt es in manchen Momenten, sie nicht zu spüren.

dir geht es nicht schlecht, du bildest dir das nur ein

du könntest, wenn du wolltest

wie kann man nur so träge sein

du bist zu nichts zu gebrauchen

was für einen Grund hast du schon zum Jammern

reiß dich zusammen

Welt aus geschwärzten Scherben. Zusammengekauerte Seele, geduckt weiterer Schläge harrend.
Nähe öffnet alle Türen für den Schmerz, verwirrt in höchstem Maße. Damit umzugehen ist nie erlernte Kunst. Festklammern, wegstoßen.
Glück ist tückisch. Je höher es einen trägt, desto schmerzhafter ist der Fall. Es mißtrauisch betrachten und auf den Moment warten, wo der Teufel aus der Schachtel schnellt.
Seelenknochen zertrümmert. Bloße Haut, zernarbt. Sich selbst zerfleischend, zerreißend, zerfetzend. Brüllende Stille, Damoklesschwert der mütterlichen Stimme, stumme Schreie, ungehört verhallt.

Schön lächeln, wie gelernt. Frech sein, lachen, scherzen. Aber sicher doch, mir gehts bestens. Alles wie immer.
Routiniert verbirgst du, wie sehr das Leben dich erschöpft. Daß deine Tränen an guten Tagen nicht versiegen. Daß Leere, Trauer, Angst, Schmerz, Verzweiflung, Selbsthaß dich füllen bis zum Rand.
Kein Ziel bieten.

Ich fürchte Eure Pfeile.

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Sav!

Eine sehr gute, das Seelenleben präzise schildernde Geschichte, die mich sehr mitgenommen hat! Am Stil, an Deiner Sprache, hab ich nichts zu bemängeln, ganz im Gegenteil! :thumbsup:

Und was soll ich auf

Ich fürchte Eure Pfeile.
anderes sagen, als dass ich Deiner Protagonistin/Deinem Protagonisten ein -->Gänseblümchen wünsche...?

Alles liebe
Susi

 

Hi raven,

puh, lese so etwas nicht gern. Schon gar nicht, wenn es so geschrieben ist, dass es sich in den Kopf setzt und mich an der psychischen Sitaution teilnehmen läßt. Aus dem Mitfühlen entsteht hilflose Wut über die Ignoranz, den Egoismus der Eltern, Pflegeeltern, Kontaktpersonen.

Toll geschrieben! Nicht was für so nebenbei, habe es mehrmals gelesen. Kritikpunkte sehe ich keine, beeindruckend und rund. Brauche jetzt dringend was aus Humor oder Satire - um den Sonntag zu retten :)

Eine Kleinigkeit noch: der Protagonist/in schreibt als Erwachsener ("..Als Kind wünschtest du dir..."), endet aber -so scheint es - bei einem Alter von neun jahren mit der Schilderung. Fehlt da nicht vielleicht irgendwo -vor einem der letzten Absätze- ein: "Später", "xx Jahre", "Heute", oder so ähnlich?

Gruß vom deprikopp

 

Vielen Dank für Eure Kritiken, Susi, querkopp und Kris.

Ich geb Dir recht, querkopp. Werde mir noch etwas überlegen müssen, um den Schluß zeitlich von dem Rückblick in die Kindheit zu trennen.

@Kris

Der Thread kam mir tatsächlich irgendwann während des Schreibens vage in Sinn, ich wollte die Geschichte aber nicht speziell darauf beziehen.
Habe ihn jetzt nochmal (diagonal) gelesen und denke, daß er nicht ungewöhnlich oder besonders ist. Ich finde ihn noch vergleichsweise human.

Es ist ganz normal, daß Selbstmord und Todessehnsucht auf solche Weise betrachtet und diskutiert werden.
Ich habe schon oft Gespräche über dieses Thema mitangehört, seltener mitdiskutiert und war immer wieder schockiert und tief verletzt über die Arroganz, Vorurteile und Gefühlskälte die manche Mitmenschen an den Tag legen.

Vielen geht es wohl hauptsächlich darum, zu provozieren oder eine besonders originelle Sichtweise/Philosophie zu vertreten, aber das macht die allgemeine mangelnde Sensibilität für die Belange anderer in meinen Augen nicht weniger beklagenswert.

lg Sav

 

Hallo Raven,
vom Thema nicht unbedingt etwas Neues, aber sprachlich/ stilistisch schön umgesetzt. Besonders gefallen mir die Einschübe, die "Pfeile".
LG Petra

 

Hey,
kann dem wohl nicht hinzufügen, außer meinem großen Lob. Hat mich ziemlich bewegt die Geschichte.
Gruss Roman

 

Hallo Raven,


bin durch Zufall über deine Geschichte gestolpert und möchte dir nur sagen, dass sie mich sehr beeindruckt hat.

Lieben Gruß
Lakita

 

Hallo raven,

ich bin auch nicht so begeistert von dem Thema `Freitod´, vor allem, wenn es als Lösung für undefinierten Frust und Hass eines Protagonisten gebraucht wird. Dein Text jedoch macht deutlich, warum der P. diese Art von Zuflucht sucht. Leider wird es oft in der Realität so sein, daß die Umwelt auf den wahren seelischen Zustand eines Leidenden nicht eingeht, wohl auch als Selbstschutz.
Ein schwieriges Thema prima beschrieben - echt OK!

Tschüß... Woltochinon

 

Vielen Dank - wenn auch etwas verspätet - für die Kritiken.
Ich hab mich sehr darüber gefreut, zumal ich eigentlich mit eher negativen Reaktionen gerechnet hatte.

War auch für mich ein schwieriges Thema, aber irgendwie ist es mir ein Bedürfnis, über solche Dinge zu schreiben. Die Qualität der Geschichten ist dann allerdings für mich sehr schwer zu beurteilen.

lg Sav

 

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