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- 19.06.2001
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Auslöser
AUSLÖSER
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Prolog
Eine Woche vor seinem sechsten Geburtstag verkündete Maurice Jalavere seinen erstaunten Eltern Grimard und Fabienne, dass er ein Geistlicher werden wolle, ein Mensch, der sich dem lieben Gott ergab, um diesem mit seiner ganzen Wahrhaftigkeit dienen zu dürfen. Ein außergewöhnlicher Berufswunsch, denn normalerweise setzten sich kleine Jungen in den Kopf, später einmal der erste Mensch auf dem Mars zu sein, viertausend Frauen aus einem brennenden Einfamilienhaus zu retten und die Schönste natürlich zu ehelichen, oder aber es mindestens zur nationalen Fernsehberühmtheit zu bringen. Weder das ungläubige Kopfschütteln der Eltern, noch das schallende Gelächter seiner wenigen Spielkameraden, brachten Maurice davon ab, in den kommenden drei Jahren die Bibel komplett auswendig zu lernen, bis er wirklich jeden Vers, jeden Psalm und jeden einzelnen Satz aus dem Stehgreif fehlerfrei zitieren konnte. Das Buch der Bücher diente als sein Kopfkissen, es begleitete ihn überall hin, wurde zu seinem besten Freund. Zeitweilig spielte Grimard Jalavere mit dem Gedanken, seinen Sohn von Ärzten mit gesundem Menschenverstand untersuchen zu lassen, denn es war wohl offensichtlich, dass Maurice ("Ich weiß nicht, Fabienne, aber manchmal macht mir unser Junge Angst.") eine 'kleine Macke' hatte, so flüsterte er es jedenfalls ab und an seiner müden Frau zu, die neben ihm im Bett lag und sich seit zehn Jahren mehr oder weniger erfolgreich dem Beischlaf entzog. "Was sollen wir nur tun?", fragte Grimard oft, und kein geringerer als der liebe Gott persönlich nahm schließlich vorläufig Abstand davon, einen wie Maurice Jalavere zu einem seiner Bediensteten zu machen. Nachdem Maurice sich der normalen Sprache entledigte und nur noch die heilige Schrift zu Wort kommen ließ, beschloss Grimard in einer elterlichen, demokratischen Abstimmung, mit nur einer einzigen Gegenstimme, für die er Fabienne später bluten lassen würde, dass es an der Zeit wäre, einen Nervenheilarzt aufzusuchen. Er setzte Maurice auf die Rückbank des alten Renaults, drückte ihm in die linke Hand ein paar Schokoriegel zur Beruhigung, in die rechte Hand die Bibel, um das Weinen und Schreien etwas abklingen zu lassen, und fuhr in die große Stadt, wo er wie immer, wenn er in der großen Stadt war, die kunstvoll verzierten Straßenlaternen bewunderte, die teuflisch gut aussahen, und überhaupt nicht in die altmodische Landschaft passten. Der, dessen Antlitz niemand sehen durfte, entfachte einen furchtbaren Hagelschauer, dem die alten, profillosen Reifen von Grimards Renault nicht gewachsen waren. Der Wagen begann zu schlingern, verzweifelt riss Grimard das Lenkrad herum, aber vergeblich. Der Renault durchbrach eine Absperrung, schoss eine Böschung hinab und überschlug sich mehrere Male. Kaum, dass Grimards Genick brach, und Maurice sich heftig den Kopf stieß, verschwanden die Hagelkörner. Der liebe Gott war zufrieden, Grimard Jalavere tot, und der kleine Maurice ebenfalls, mindestens für zehn Sekunden. Genug Zeit, um das Gehirn für immer zu beschädigen. Er kam in einer Klinik wieder zu sich und erkannte immerhin seine Mutter, die kreischend und heulend am Bett saß, ganz in Schwarz gekleidet, mit grellem Lidschatten geschminkt, und nach billigem Parfum riechend. "Maurice, mein Liebling", schluchzte seine Mutter Fabienne. Rotz lief ihr aus der Nase, und dunkel aussehender Speichel kroch langsam über das Kinn. "Jetzt gibt es nur noch uns!" Maurice lächelte und sah zu den Neonröhren an der weiß gestrichenen Decke, die grell leuchteten und ihn blendeten. Krampfhaft hielt er seine Augen offen. Schließlich ruinierte er das Bettlaken mit seinem Urin und murmelte bedeutungsschwer: "Hsss... Hsss..." Fabienne Jalavere schrie, gelangweiltes Personal des Krankenhauses ließ sich Zeit, aber irgendwann gingen die Neonröhren über Maurice flackernd aus. Dunkelheit umgab ihn. Und er fühlte, dass es gut und richtig war, dass Dunkelheit herrschte. Er lächelte, und selbst als man ihn in eine Jacke zwängte, die seinen Armen keine Bewegungsfreiheit gab, lächelte er immer noch. Er lächelte sogar ein halbes Jahr später, als er in eine kleine Zelle gesteckt wurde, die außer einer schmalen Pritsche, einer stinkenden Kloschüssel und einem winzigen Fenster unterhalb der schmutzigen Decke nichts weiter beinhaltete. Seufzend, aber dennoch erleichtert, hatte Fabienne drei Unterschriften auf einem Formular betätigt. Es hatte nicht sollen sein. Sie war nicht fähig gewesen, sich um Maurice zu kümmern. Fabienne packte ihre Koffer, setzte sich in den erstbesten Bus und fuhr Richtung Osten, an die Grenze, wo sie ein neues Leben begann. Irgendwann vergaß sie ihren Sohn Maurice, vor allem aber verdrängte sie die Jahre mit Grimard. Und als das geschah, blühte sie auf, suchte sich mehrere Liebhaber und betrieb erfolgreich eine kleine Pension, in der hauptsächlich deutsche Touristen nächtigten. Es war gut so. Fabienne war zufrieden. Am Tag, als Maurice seine Zelle verließ, starb sie an einem plötzlichen Herzinfarkt. Der junge Deutsche, der sich über und in ihr abrackerte, erschrack und suchte das Weite. Fabienne Labert, wie sie sich nannte, war zu diesem Zeitpunkt dreiundfünfzig Jahre alt. Sie hatte letztendlich doch noch ein gutes Leben gehabt. Für Maurice Jalavere sollte das Leben erst richtig beginnen...
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01
Die Klinik war alt, oft genug krabbelten die als unauslöschbar geltenden Kakerlaken über die Gänge auf der Suche nach Nahrung, krochen durch Ritzen in hinter Gipswänden liegende Hohlräume, wo sie sich fortpflanzten, unermüdlich, ausdauernd, von der Natur dazu bestimmt, ihre Art mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten. Schnelle Schritte hallten durch die schmalen Korridore, zwei Männer waren auf dem Weg zur Zelle 2A34, um einen Entlassungskandidaten in das Büro von Monsieur Jean Pinoef zu bringen, seines Zeichens Direktor der ehrwürdigen Psychiatrie von Lachelle.
Lachelle bestand aus vier baufälligen Häusern, errichtet in einem eigenartigen Stil, weit vor dem achtzehnten Jahrhundert. Und es gab die Nervenheilanstalt, in der sich das Personal, bestehend aus vierundreißig Männern und sechszehn Frauen, herzlos bis rührend um einhundert Patienten kümmerten, die das Pech hatten, aus natürlichen oder übernatürlichen Gründen hier Gast sein zu dürfen. Die sehr kleine Ortschaft wurde von einer Elipse aus Laubbäumen umschlossen, die an der schmalsten Stelle einen, und an der breitesten viereinhalb Kilometer dick war. Es gab eine Straße aus Kopfsteinpflaster, die sich in engen Kurven durch den Wald schlängelte und als unüberwindbar galt, wenn es regnete. Alle zwei Wochen brachte ein schäbiger Lastwagen des Großunternehmers Henry Hulot Lebensmittel und andere Dinge nach Lachelle, natürlich nur, wenn das Wetter mitspielte. Bezahlt wurde in bar, und so sehr das kleine Kaff der Welt auch nachhinkte, so hatte es doch eine kleine Bank mit einem geduldigen Angestellten. Noch nie hatte man in Lachelle einen Geldtransporter gesehen, aber niemand hinterfragte solche Sachen. Es war nicht wichtig. Es funktionierte, und es war gut so.
Die beiden Männer, der eine groß und stark, der andere klein und schmächtig, erreichten Zelle 2A34. Der Starke wußte, wer hinter der dicken Eisentür auf der schmalen Pritsche kauerte, er grunzte den Schmächtigen an und brummte: "Vorsicht!" Routiniert fingerte er ein mit vielen Schlüsseln versehenes Schlüsselbund aus der Hosentasche hervor, erwischte sofort den richtigen Schlüssel und ließ diesen beinahe pervers langsam in das Schloss der Tür gleiten. "Weiß auch nicht, warum ausgerechnet der entlassen werden soll..."
Der Schmächtige erinnerte sich an einen Tag in seiner Kindheit, wo ihm durch einen Pfarrer Gutes wiederfuhr, und antwortete leise: "Wir dürfen nicht vorurteilen!" Seine Aussage hinderte ihn nicht daran, mit der Hand den am Gürtel baumelnden Gummiknüppel fest zu umschließen. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn, liefen nach unten und brannten in den Augen.
Der Starke zuckte mit den Schultern und spuckte gegen die hellgrauen Wandfliesen. "Erzähl du mir nichts von Vorurteilen! Ich weiß von deinen Aktivitäten, mein Lieber!" Viele der Angestellten vermissten seit geraumer Zeit ihre Haustiere, die sie mit der Erlaubnis des Direktors in den Privaträumen halten durften. Kurz drehte der Starke seine Hand nach links, das Türschloss machte Klack, und unendlich langsam ging die Eisentür auf.
"Willst du mich erpressen?", fragte der Schmächtige, und seine Stimme klang gleichermaßen nach Wut, Angst und Scham.
Lächelnd steckte der Starke das Schlüsselbund zurück in die Hosentasche. "Nein, das will ich nicht, mein Lieber. Aber lass die Finger von Watson!" Watson war die dürre Schlange des Starken, gehalten in einem kläglichen Terrarium, deren Tod vermutlich ihr größtes Glück seit Ewigkeiten sein würde. "Verschwindet Watson, verschwindest auch du, mein Lieber!" Er bekam keine Antwort und nickte zufrieden. Der Starke stieß die Tür auf und ging in die Zelle hinein.
Maurice Jalavere lag auf der schmalen Pritsche und träumte von stolzen Vögeln, die über das Meer flogen. Er träumte von Albatrossen, die majestätisch durch die Lüfte segelten, und nur bei der Landung unvorteilhaft wirkten. Er sah sich selbst auf dem Rücken eines solchen Tieres und begeisterte sich an den Wellen des Wassers, an der frischen, nach Salz schmeckenden Luft. Plötzlich endete der Flug, den Albatros verließen die Kräfte, und beide stürzten sie auf die harte Oberfläche des Meeres zu... Mehrere Geräusche im selben Moment ließen Maurice erschrocken aufwachen: Die hinter rostigem Drahtgitter angebrachten Neonröhren summten und gingen flackernd an, die Tür öffnete sich, und direkt vor dem kleinen Fenster zankten sich zwei Vögel zwitschernd um Nahrung. Maurice Jalavere riss die Augen auf und sah in das hintergründig lächelnde Gesicht des Starken. "Oh nein...", flüsterte er und krallte sich am Bettgestell fest.
"Mach keinen Ärger!" Der Starke schlug Maurice mit der Faust in den Magen, so heftig, dass dieser schreiend aus dem Bett fiel und sich winselnd auf dem schmutzigen Boden hin und her wälzte. Seufzend schüttelte der Starke den Kopf. "Du weißt es einfach nicht besser, oder?"
Verwundert hatte der Schmächtige alles mit angesehen und fragte: "Und was ist mit der Vorsicht?"
"Gleich...", antwortete der Starke und sah kurz zu seinem Arbeitskollegen. "Mann! Weg da!" Der Schmächtige stand neben dem Bett. "Zur Tür zurück!"
"Was..." Unsicher sah sich der Schmächtige um. "Was ist denn?"
Ein Sprung genügte, und der Starke riss den Schmächtigen vom Bett weg. "Bist du lebensmüde?" Er deutete auf das Bett. "Da!"
Kaum merklich begann sich das Bett zu bewegen, bis es klapperte und wie von unsichtbarer Hand geführt auf und ab sprang. Schrauben lösten sich aus den Fassungen und schossen auf die Wände zu, so schnell, dass sie im bröckelnden Putz steckenblieben.
"Was geschieht hier?", schrie der Schmächtige panisch.
"Unten bleiben!", brüllte der Starke zurück und sah zu Maurice, der bewegungslos auf dem Boden lag. Dickflüssiger Speichel blubberte aus dessem Mund hervor. "Dieses Mal ist es anders!"
Das Bett prallte gegen die Wand, kippte um und fiel auseinander. Ein nach Metall klingendes Knarren war zu hören, eine der Neonröhren zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Knall und wunderschöner Funkenregen prasselte gen Boden hinab. Dann war es still.
Der Schmächtige blinzelte mit den Augen. Für ihn war es komisch zu sprechen, ohne seine Stimme zu hören. "Was ist passiert?"
Das mit der Neonröhre war neu, noch nie waren Neonröhren zu Bruch gegangen, wenn der Insaße von Zelle 2A34 zum Direktor gebracht wurde. Der Starke zuckte mit den Schultern, drückte die Nasenlöcher zu und presste Luft aus seinen Ohren. Beim Schlucken knackte es, aber es half, nach und nach konnte er wieder Geräusche wahrnehmen. Er wies den Schmächtigen an, es ebenfalls so zu handhaben. "Das passiert immer, wenn Jalaveres Zelle geöffnet wird."
Schwer atmend drehte Maurice seinen Kopf zur Seite und sah zu den beiden Männern, die neben der Tür saßen. "Was wollen Sie?"
Beschwichtigend hob der Starke die linke Hand. "Ruhig, Maurice", sagte er freundlich. "Der Direktor möchte dich sprechen."
"Ah..." Maurice schloss die Augen und lauschte dem Summen der Neonröhren. "Es sind nur noch zwei..."
Der Schmächtige stand auf und klopfte sich Staub aus den Hosen. Verärgert zischte er: "Was soll der Unsinn!" Er ging zu Maurice und zog ihn hoch. "Los! Gehen wir!" Sein sicheres Auftreten half ihm, beruhigte sein schlichtes Gemüt. Soeben hatte er etwas gesehen, was er nicht verstand. Der Schmächtige schleifte Maurice aus der Zelle. "Alles nur ein Trick!"
"Kein Trick!", widersprach der Starke. Er sah sich noch einmal in der Zelle um. Die in den Wänden steckenden Schrauben würde er später entfernen, um das Bett wieder herzurichten. Als er die Tür schließen wollte, bemerkte er einen kleinen Vogel, der auf dem Fenstersims saß. In seinem Schnabel hielt er einen Wurm. Das Gefieder des Vogels war bunt, seine Augen leuchteten. Der Starke lächelte und flüsterte: "Bleib, wo du bist, mein Lieber! Flieg nicht hier herein!" Dann schloss er die Tür von Zelle 2A34 ab und beeilte sich, den Schmächtigen einzuholen, der keuchend Maurice Jalavere zum Büro des Direktors schleppte.
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02
Die alte Stehuhr war der Blickfang des Zimmers, und dass sie genau viereinhalb Minuten nachging, machte Direktor Jean Pinoef fast so stolz wie seine zahlreichen Auszeichnungen, die er in den letzten drei Jahrzehnten für wissenschaftliche Forschungsarbeiten bekommen hatte. Manche davon waren der Öffentlichkeit verschwiegen worden, und das war auch gut so. Ohne Zweifel wäre ein Aufschrei durch Frankreich gegangen, wenn bekannt geworden wäre, dass manch ein Wissenschaftler Experimente an lebenden Menschen vornahm, die weitaus schlimmer waren als die eines gewissen Mengele. Pinoef hatte Menschen sterben sehen, für die der Tod nach wochen- und monatelangen Qualen Erlösung bedeutete. Er hatte daran teilgenommen. Er schämte sich nicht dafür, im Gegenteil, er hatte seinen Beitrag zur Erforschung des Menschen geleistet. "Wahrlich!", pflegte Pinoef stets zu sagen, wenn er vor dem alten Kamin in seiner südlich der Klinik gelegenen Wohnung stand und ein Glas Rotwein in der Hand hielt, "Wahrlich, ich habe mir nichts vorzuwerfen!"
Fast jeden Tag kamen neue Produkte auf den Markt, die vollkommene Gesundung versprachen. Tierversuche waren nicht mehr produktiv genug, Freiwillige rar. So hatten zuständige Personen des Ministeriums nach und nach damit begonnen, Menschen für ihre Zwecke zu benützen, die hinter dicken Mauern saßen, und für die sich keiner interessierte, es sei denn, ein monumentaler Spendenmarathon wurde von einem staatlichen Sender ins Leben gerufen, dessen Einnahmen nur zu Bruchteilen dem eigentlichen Zweck zuflossen. So gradlinig die Welt in Gut und Böse aufgeteilt war, so verschwommen waren die Nischen, in denen sich Gutes und Böses zusammentat, um Gutes oder Böses zu leisten, je nachdem, wer gerade am Zuge war. Beide Seiten hatten eines gemeinsam: Der Weg der Erforschung des Menschen verlief in eine äußerst unnatürliche Richtung. Gesundheit war nur noch ein Nebenprodukt. Es gab wichtigere Dinge...
Das Pendel der alten Stehuhr schwang langsam von einer Seite zur anderen. Jean Pinoef saß hinter seinem Schreibtisch und starrte nach oben. Er beobachtete eine Fliege, die an der Decke krabbelte. Die Fliege lief seit Minuten einen Zickzackkurs, der, wenn man ihn mathematisch berechnen würde, wohl den Wert Pi ergab. Es war faszinierend, den Weg der Fliege zu verfolgen. Das Lebewesen Fliege war über jeden erhabenen Zweifel hinaus eines der lästigsten Geschöpfe der Welt. Der Planet Erde wäre meterdick von diesen Insekten überhäuft, gäbe es nicht natürliche Feinde und die industriellen Waffen der Menschheit. In seiner Schrankwand hatte Pinoef zwei Glaskästen untergebracht, in denen er Spinnen hielt. Die Glaskästen ließ er offen, so dass die Spinnen jederzeit herauskriechen konnten. Mit einem Staubwedel wischte er Spinnweben unter der Decke und in den Ecken weg, und mit einem kleinen Glas sammelte er die Spinnen wieder auf, um diese zurück in die Kästen zu setzen. Spinnen vertilgten Ungeziefer, und wüßte die Menschheit, dass ohne die Spinnen zweifelsfrei ihr Untergang längst geschehen wäre, sie würde wohl freundlicher mit den zierlichen Achtbeinern umgehen. Es klopfte an der Tür. Pinoef räusperte sich und richtete sich gerade auf. "Ja?" Fast zu spät bemerkte er das Röhrchen und die feine, dünne Linie aus weißem Heilsbringer auf der glatten Schreibunterlage vor sich. Schnell öffnete er eine Schublade und wischte die verdächtigen Spuren mit dem Ärmel dort hinein. Die Tür öffnete sich. "Ah! Monsieur Flanere!" Der Direktor nickte freundlich und hob kurz die Hand zum Gruß. "Haben Sie ihn dabei?"
Etwas zögerlich kam der Starke herein. "Ja, Direktor." Er machte eine Handbewegung, und drei Sekunden später betrat der Schmächtige zusammen mit Maurice Jalavere das Büro.
Pinoef hob die linke Augenbraue. "Sie wirken leicht erschöpft, Garibaldi", sagte er verschmitzt.
Der Schmächtige wischte sich Schweiß von der Stirn, und als er es geschafft hatte, Jalavere in den Stuhl vor Pinoefs Schreibtisch zu setzen, keuchte er angestrengt: "Darauf war ich bei Gott nicht vorbereitet. Nicht auf solche Tricks, Monsieur Pinoef!" Garibaldi wirkte sichtlich erleichtert. "Unser Freund hier..." Er gab Jalavere eine Kopfnuss, die dieser ohne Reaktion hinnahm. "Kein Wort kam über seine Lippen, aber er war schwer wie ein Mittelklassewagen." Der Schmächtige ging einen Schritt zurück und trat auf etwas Weiches. Es fühlte sich wie Hundescheiße an, nur dass dabei ein leises Knacken zu hören war. "Was zum..." Verwundert sah er nach unten und hob seinen Fuß. "Um Himmelswillen!"
"Geh weg da!", schrie Flanere.
Der Direktor erhob sich und kam langsam um den großen Tisch herum. "Was ist passiert?" Er mußte sich festhalten, um nicht umzufallen. Das Alter war weit fortgeschritten, und auch der übermäßige Gebrauch von Kokain war bei Pinoef nicht spurlos vorbeigegangen. "Was ist denn los?"
"Wir haben Glück gehabt!", sagte der Schmächtige. "Das Biest hätte uns ja allesamt umgebracht!" Zufrieden betrachtete er die zermanschten Überbleibsel einer mächtigen Spinne.
"Idiot!" Verärgert zog Flanere seinen Kollegen zurück. "Du hast gerade eines der Haustiere des Direktors getötet!", flüsterte er.
"Ich? Was? Was habe ich?" Unglücklich sah Garibaldi zu Direktor Jean Pinoef, der auf die Knie gesunken war und zärtlich, ja geradezu liebevoll mit den Fingerspitzen über die tote Spinne strich, die er sich vor vier Jahren zugelegt hatte. "Aber das konnte ich doch nicht wissen!" Zu sagen, dass es doch nur eine tote Spinne sei, vermied er, obwohl es ihm auf der Zunge lag und jedes Wort aus seinem Mund wollte.
"Es ist nicht Ihre Schuld, Garibaldi", flüsterte der Direktor kaum hörbar. "Flanere und Sie können gehen."
"Meinen Sie wirklich?", fragte Flanere nach und sah zu Jalavere, der teilnahmslos auf dem Stuhl saß und völlig abwesend wirkte, als ob er im wachen Zustand zu Besuch in außerhalb des bekannten Universums gelegenen Traumlandschaften war, in denen viereckige Humanoide mit ovalen Käsescheiben flugfähige Apparaturen herstellten.
"Sie haben mich schon verstanden!" Pinoef wurde etwas lauter. "Gehen Sie!" Er richtete sich seufzend auf und lächelte die beiden Pfleger an. "Ist schon in Ordnung. Ich werde es aufwischen und anschließend mit Monsieur Jalavere die Einzelheiten seiner bevorstehenden Entlassung erörtern."
"Es tut mir aufrichtig Leid, Herr Direktor", stammelte Garibaldi.
"Komm jetzt!" Flanere griff nach Garibaldis Jackenärmel und zog ihn zur Tür. "Wir gehen!" Er nickte dem Direktor freundlich zu und verließ mit dem Schmächtigen Pinoefs Büro.
Als die Wärter verschwunden waren, ließ Pinoef seinen Tränen freien Lauf. Abgöttisch liebte er seine Spinnen, und nun hatte ein törrichter Pfleger, der keine sechs Monate in der Klinik war, mit einem einzigen unbedachten Schritt rückwärts eines der schönsten und gleichzeitig furchteinflößendsten Geschöpfe des blauen Planeten zerstört. "So ein Idiot!", schluchzte Pinoef. Aus seiner Hosentasche nestelte er ein großes Taschentuch hervor und wischte damit die Überbleibsel von Agatha aus dem Teppichstoff. "Hat ihm keiner gesagt, dass man aufpassen sollte, wenn keine Augen am Hinterkopf vorhanden sind?" Jalavere in seinem Stuhl begann zu stöhnen. "Ah, Maurice..." Der Direktor warf das Taschentuch in den Papierkorb. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er die letzte verbliebene Spinne, die unter der alten Schrankwand verschwand. Er ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich in den Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. Nach einigen Sekunden, in denen Pinoef nichts sagte und Jalavere nicht stöhnte, zog der Direktor eine Schublade auf und holte eine dicke Akte hervor, die er auf den Tisch warf. "Dann kommen wir nun zu dir, mein lieber Maurice." Der Angesprochene verdrehte die Augen und stöhnte erneut. Eine dunkle, zähflüssige Substanz lief aus seinen Nasenlöchern. Jalavere verkrampfte kurz, bäumte sich auf und fiel vom Stuhl. Mitleidig lächelte der Direktor und flüsterte zufrieden: "All die vielen Jahre hast du mich erfreut, mein Lieber. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, dich der Welt zurückzugeben."
***
Ein paar Stunden später, weit nach Mitternacht, erwachte irgendwo in Paris ein gewisser Olivier Rascal aus einem traumlosen Schlaf. Müde rieb er sich die Augen, und obwohl die Fenster zu waren und die Heizungen liefen, hatte er eine durch Kälte verursachte Gänsehaut. Er stand auf und schleppte sich mühsam in das kleine Bad, wo er seine kalten Hände unter warmes Wasser hielt. Der müde Blick seines Ichs im Spiegel verriet Rascal, dass es der völlig falsche Zeitpunkt war, nur mit einer Unterhose bekleidet im Bad zu stehen. Er drehte den Wasserhahn zu, machte das Licht aus und ging zurück in das Schlafzimmer. Gerade als er sich ins Bett legen wollte, spürte er einen schmerzhaften Stich, gefolgt von einem heftigen Jucken am linken Schienbein. Im nächsten Moment verkrampfte Rascal, fiel auf den Boden und schlug mit dem Kopf hart auf. Eine kleine Blutlache bildete sich auf den leicht verstaubten Holzdielen. Olivier Rascal war nur kurz ohne Bewußtsein. Verwundert betrachtete er das Blut und berührte die pochende Stelle an der linken Schläfe. Er hörte ein Geräusch hinter sich, ein leises Krabbeln. Rascal stand schwerfällig auf und drehte sich langsam um, gerade noch rechtzeitig genug, um einen kleinen, schwarzen Punkt unter die alte Kommode verschwinden zu sehen. Rascal hätte schwören können, dass der Punkt wie eine Spinne aussah, aber er war nicht hundertprozentig sicher. Eine Weile stand er so da, den Blick zur Kommode gerichtet. Schließlich atmete er tief durch und ging wieder ins Bad, wo er sich gewissenhaft die Zähne putzte und ausgiebig duschte. Mit einem Pflaster verdeckte er die Stelle an der Schläfe, die mittlerweile eine rötliche Färbung angenommen hatte. Auch das Pochen war nach der wohltuenden Dusche verschwunden. In der Küche aß er eine Kleinigkeit, trank eine Flasche Orangensaft leer und drehte alle vier Schaltknöpfe des Gasherds auf. Ohne Hast zog sich Rascal Kleidung an, und eine halbe Stunde später verließ er seine Wohnung. Er hielt in der nahe gelegenen Hauptstraße ein Taxi an und fuhr zum Bahnhof. Dort angekommen, wartete er geduldig in der langen Warteschlange und kaufte sich ein Bahnticket für den Betrag von einhundertvierundfünfzig Franc. Dann begab er sich zu einem öffentlichen Münzfernsprecher und rief bei sich zu Hause an. Beim dritten Klingelton brach die Verbindung ab. Als Olivier Rascal zehn Minuten später im Zug saß, und dieser langsam losrollte, hörte Rascal die Sirenen der Feuerwehr. Er wußte nicht warum, aber ihm war klar, dass er sein bisheriges Leben mit einem Paukenschlag beendet hatte. Lächelnd betrachtete er das Ticket in seinen Händen. Nie wieder würde er hinter einem Schalter stehen und Menschen, die er nicht kannte und die ihm auch egal waren, mit einem freundlichen Lächeln bedienen. Das war einmal. Olivier Rascal war gestorben, und gleichzeitig wie Phönix aus der Asche auferstanden.
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03
Die Mundwinkel des Starken zuckten, als er das Zeichen gab, das Tor zu öffnen. Oben im Turm sah man schemenhaft das Gesicht eines Wärters, der mit der Hand Signale gab. "Tja," sagte der Starke und sah zu Maurice Jalavere. "Das wars dann wohl..."
Jalavere nickte. "Auf Wiedersehen, Monsieur Flanere."
"Hm, ja." Langsam ging das Tor mit einem lauten, quitschenden Geräusch auf. Durch den stetig breiter werdenden Spalt fiel grelles Licht in den Innenhof, in dem sich Flanere und Jalavere befanden. Schützend hielt sich der Starke die Hand vor die Augen, während Maurice beinahe gierig das einfallende Licht mit seinem Blick aufsaugte. "Blendet es dich nicht?"
"Nein, es ist wunderschön... Und es wärmt..."
Flanere war klar, dass der Direktor irgendwas mit Jalavere getan hatte, denn der Mann, der neben ihm stand, war nicht derselbe Mann, der gut zwanzig Jahre apathisch in einer kleinen Zelle hockend für Verängstigung und Ungemach bei den Pflegern sorgte, wenn es an der Zeit war, Zelle 2A34 zu öffnen. Vielleicht hatte der Direktor Jalavere Drogen verabreicht. Vielleicht aber, und dieser Gedanke ließ Flanere lächeln, galt Maurice wirklich als geheilt, und die unheimlichen Vorfälle mit dem Bett waren endgültig vorbei. "Du hast Glück, Maurice", sagte er. "Ein Fahrer von Hulot wird dich mitnehmen, raus aus Lachelle, durch den Wald bis zur nächsten Stadt. Dort gibt es eine Busstation und einen kleinen Bahnhof." Er bekam keine Aufmerksamkeit geschenkt. "Maurice!"
Jalavere senkte den Kopf etwas und schloss die Augen. "Busstation... Bahnhof..."
"Hast mich ja doch verstanden!", brummte Flanere. Das Tor war jetzt weit genug aufgegangen. "Na komm, ich begleite dich noch ein kleines Stück, in Ordnung?" Er drängte Jalavere sanft zum Gehen.
Maurice hatte einen kleinen Rucksack dabei, den er vor sich an die Brust gedrückt hielt. Darin befanden sich etwas Kleidung, belegte Brote und eine Briefbörse aus Leder, die Ausweis und Geld beinhaltete. "Monsieur Flanere?"
"Hm?"
"Würden Sie mir noch einen Gefallen tun?"
Flanere zuckte mit den Schultern. "Was denn?"
"Es geht um Monsieur Garibaldi."
"So?"
Leise flüsterte Jalavere: "Ich weiß, wo er die Tiere versteckt hat."
Irgendwo tief in seinem Inneren wurde etwas durcheinandergewirbelt, Flanere blieb stehen und beugte sich nach vorn. Aber anstatt zu würgen keuchte er nur angestrengt: "Tiere?"
Das große Tor lag hinter ihnen. Maurice nickte und sagte: "Sie wissen, dass er die Tiere verschwinden läßt. Ich weiß, wo er sie hingebracht hat."
"Und..." Flanere sah sich um und kam dann näher zu Jalavere. "Und wohin?"
"Sie müssen dafür Sorge tragen, dass er keine Tiere mehr verschwinden läßt, Monsieure Flanere!"
"Versprochen, Maurice!"
Zufrieden flüsterte Maurice dem Starken Worte in die Ohren, die den Hühnen bei jeder Silbe zusammenzucken ließen. Als Jalavere zuende gesprochen hatte, legte sich ein wässriger Schatten über Flaneres Augen. "Keinem Tier wird mehr etwas geschehen, Maurice!", sagte er monoton. Der Wirbel in seinem Inneren verschwand, und der Starke sah verwundert zum Tor. "Oh, so weit schon?" Er erinnerte sich nicht an die letzten Minuten...
"Da, Monsieur Flanere, ein Wagen!" Maurice nickte zu einem schwarzen Lieferwagen.
"Ah..." Der Starke nickte. "Das ist Zacharias, ein Angestellter von Hulot. Er wird dich mitnehmen. Wie gesagt, du hast Glück, dass Hulot heute liefert. Und Regen fällt auch nicht. Da fällt mir ein..." Er runzelte die Stirn. "Wo willst du eigentlich hin?" Einen wie Maurice Jalavere aus der Klinik zu entlassen, war schön und gut. Aber was nützte es, wenn der Mann so wie die anderen tagelang im Wald herumlungerte, sich von Gras und Käfern ernährte, nur um wieder in den Zellen zu landen? Flanere fiel ein, dass er sich diese Fragen jedes Mal stellte, wenn er einen Patienten in die Freiheit entließ. "Wirst du unterkommen?"
Maurice nickte und antwortete: "Ein Freund erwartet mich."
"Ein Freund?" 'Verdammt, was ist nur mit mir los?', dachte der Starke zerknirscht. "Wie auch immer..."
"Auf Wiedersehen, Monsieur Flanere", sagte Maurice freundlich und reichte dem Pfleger die Hand.
Es dauerte etwas, aber schließlich schüttelte Flanere Jalaveres Hand zum Abschied.
Zacharias fuhr seit vierzehn Jahren für Monsieur Henry Hulot Lebensmittel und andere Dinge nach Lachelle. Manchmal kam es vor, dass er einen entlassenen Patienten mit zurücknahm. Sieben oder acht hatten auf dem Beifahrersitz neben ihm gesessen, und drei davon waren während der Fahrt durch den Wald aus dem Wagen gesprungen und schreiend im dichten Gebüsch verschwunden. Beim ersten hatte Zacharias sich noch die Mühe gemacht, aus dem Wagen zu steigen und nach dem Mann zu suchen. Doch es war zwecklos, ein sinnloses Unterfangen. Zudem machten ihm die unheimlichen Geräusche des Waldes Angst. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er schnell an den Bäumen vorbeigehetzt war, und erst wieder ruhig atmete, als er in seinem schwarzen Lieferwagen saß und davonfuhr. Die anderen beiden hatte er ziehen lassen, nur noch die Wagentür wieder geschlossen. Seinem Arbeitgeber, Monsieur Hulot, berichtete er davon natürlich, doch dieser behielt es wohl für sich, denn aus der Klinik kamen keine Beschwerden, und schließlich fuhr er immer noch den Lieferwagen. Von Flanere hatte er gehört, dass die, die sich im Wald verausgabt hatten, wieder in ihren Zellen waren. Leise hatte ihm Flanere zugeflüstert, dass einer über und über mit Tierblut beschmiert vor dem Tor gesessen und wirres Zeug gefaselt hatte. "Diese Irren!", hatte Zacharias gesagt und den Kopf geschüttelt.
Nun saß neben ihm auf den Beifahrersitz Maurice Jalavere, und der alte Zacharias hatte ein gutes Gefühl, was den jungen Mann betraf. 'Nein', dachte er und lächelte, während er den Lieferwagen lenkte. Die ersten Bäume waren zu sehen, gleich würden sie in den Wald fahren. Zacharias sah kurz zu Jalavere. 'Nein, mein Freund. Du siehst nicht so aus, als würdest du aus dem Wagen springen wollen.'
Der Keller roch muffig und die Glühbirnen flackerten. Flanere war nur selten hier unten gewesen, meist dann, wenn es galt, schwere Sachen aus den Lagern zu holen. Nicht umsonst nannten ihn die Kollegen den Starken. Langsam schlich Flanere an den alten, mit Kreide beschrifteten Holztüren vorbei. 'Ich will das nicht tun!' Schritt für Schritt ging er weiter, obwohl er sich dagegen wehrte. Jalavere hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert, und es war nicht nur der Ort gewesen, an dem Garibaldi die Tiere der anderen versteckte. Befehle und Anweisungen waren dabei gewesen, Sachen, die er nicht zu hören vermochte, aber tief in sein Bewußtsein drangen. Und nun befand er sich in den Kellergängen der Klinik und stand vor der Holztür A/77. "A/77", flüsterte Flanere. Was bedeutete A/77? "Garibaldi?" Langsam drückte er die Türklinke nach unten. Es wunderte ihn nicht, dass die Tür offen war. Vorsichtig stieß er die Tür auf und hielt die Luft an. Wenn man die Luftzufuhr zu den Lungen unterbrach, veränderte sich die Wahrnehmung. Das Herz wurde dann deutlich lauter, und mit jeder Sekunde schwoll das Rauschen des eigenen Blutes an, dass durch die Adern und Venen schoß. In dem pechschwarzen Raum vor ihm gab es keine Fenster. Flanere konnte die Größe nicht abschätzen. Es roch nach Tod und Verwesung, und noch schlimmeren Dingen. Suchend tastete er mit der Hand über den schmutzigen Putz, berührte dabei Spinnweben und andere Sachen, von denen er nichts wissen wollte, bis er schließlich den Lichtschalter fand und betätigte. Mit einem tiefen Summen erhellte sich eine einzelne Glühbirne, deren Leuchtkraft dennoch ausreichte, um den ganzen Raum in ein gespenstisches Halbdunkel zu tauchen. Was sich Flanere offenbarte, ließ ihn zurücktaumeln. Gleichzeitig schnappte er nach Luft und übergab sich beinahe. Keuchend stand er nach vorn gebeugt vor dem Eingang zu Kellerraum A/77 und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Raum hinein. 'Bei Gott, das kann doch nicht sein!', dachte Flanere panisch und stieß ein Stoßgebet nach oben, in der Hoffnung, dass Gott ihn erhörte und das grausame Szenario vor ihm auf der Stelle vernichtete. "Garibaldi!" Wütend richtete sich der Starke auf und ballte seine Hände zu Fäuste. "Du elendes Schwein!" Eine kleine Spinne, kaum größer als ein Daumennagel, krabbelte am Türrahmen hoch, aber Flanere bemerkte es nicht. Angewidert sah er sich noch einmal im Raum A/77 um, bevor er das Licht ausmachte, die Tür schloss und sich zurück zum Personaltrakt begab. Garibaldi, das wußte er, hatte Dienst in der oberen Etage. Dort waren diejenigen untergebracht, die aufgrund ihres vernebelten Geistes Menschen umgebracht hatten. "Das wirst du mir und den anderen büßen, du barbarisches Monstrum!" Als er nach wenigen Minuten die Kellergewölbe der Klinik verlassen hatte, blieb der Starke kurz stehen. Der Schatten über seinen Augen war wieder da, ließ seinen Blick trüb werden, so dass er seine Umgebung als wässriges Etwas sah. Nur ein schmaler Pfad erschien klar und deutlich.
("Und wenn du begreifen wirst, was deine Augen gesehen haben... Dann wirst du wissen, dass es dieses nicht geben darf! Und du wirst wissen, was zu tun ist!")
Flanere wehrte sich nicht mehr, er ließ es geschehen. Er folgte dem Pfad, der ihn zu Garibaldi führen würde. Und wenn er dem Schmächtigen bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde, dann würde er, Thierry Flanere, seit fünfzehn Jahren Pfleger in Jean Pinoefs Nervenheilklinik, Gutes vollbringen...
"Großer Gott!", schrie Zacharias und trat auf die Bremse. Ohne Probleme hatten sie den Wald durchquert, nun waren es noch gut dreißig Minuten bis zur Stadt. Schlingernd kam der Wagen nach einigen Metern zum Stillstand. Ungläubig starrte der alte Mann auf das Blut, dass langsam die Scheibe herunterlief. Dann sah er zu dem jungen Mann auf dem Beifahrersitz, der sich beide Hände vors Gesicht hielt. Einfach so hatte der Mann angefangen, Blut zu spucken und zu niesen, bis ein gewaltiger Schwall der roten Flüssigkeit gegen das Fenster klatschte. "Junge! Alles in Ordnung?" Vorsichtig berührte er den zitternden Mann am Arm.
Maurice Jalavere hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. An der Windschutzscheibe des schwarzen Lieferwagens vor ihm sah er das herunterlaufende Blut. Es war sein Blut, und es verformte sich zu Zeichen, zu Symbolen... Plötzlich hatte er ein Gesicht gesehen, dessen Augen aus den Höhlen quollen, zu platzen schienen. Dazu der weit geöffnete Mund mit der kreiselnden Zunge. Soeben hatte er gespürt, wie ein Mensch durch einen anderen Menschen gestorben war. Mit der Hand wischte sich Jalavere Blut aus dem Gesicht. "Medikamente...", flüsterte er schwach. "Ich brauche Medikamente..."
Zacharias startete den Wagen und beschleunigte. Für ihn klang es wie eine Ausrede. Er war sich sicher, dass der Mann alles andere brauchte, nur keine Medikamente. "Bist du nicht gesund?"
"Doch!", antwortete Jalavere. "Ich war noch nie gesünder!" Er kurbelte das Seitenfenster etwas herunter und holte tief Luft. Fast sein ganzes Leben, abgesehen von einigen wenigen Kinderjahren, hatte er in einer Zelle gesessen. Und nun war er zurück in der Welt.
"Was für Medikamente?", wollte Zacharias wissen.
Jalavere lächelte und schloss die Augen. "Dafür gibt es keine Namen..."
Zacharias nickte. 'Alles klar...' Kopfschüttelnd konzentrierte er sich auf die Straße und ließ den jungen Mann neben sich einfach einen seltsamen jungen Mann sein. Mindestens eine halbe Stunde würde er benötigen, um die Fenster und Sitze zu reinigen. "Na", brummte er und lächelte gequält. "Immerhin bist du nicht aus dem Wagen gesprungen. Versaut hast du ihn, bei Gott, das hast du... Aber im Wald bist du nicht geblieben, immerhin!"
Maurice Jalavere sagte nichts und genoss den Luftzug, den er verspürte. Bald würde er den anderen treffen, seinen Freund. Nach all den Jahren Tristesse hatte sich Gott doch noch gnädig gezeigt, und ihm seine Liebe gegeben, jene Liebe, die Jalavere sein ganzes Leben lang gegeben hatte.
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04
Prüfend betrachtete der Schaffner den Mann, der gelangweilt aus dem Fenster sah. "Also hören Sie", sagte er. "Sie sitzen eindeutig im falschen Zug. Wir fahren nicht nach..." Er sah noch einmal auf das Ticket. "Raspienne... Was soll das denn für eine Stadt sein?"
Olivier Rascal räusperte sich. "Dieser Zug wird dort halten." Grinsend lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
"Ich fahre die Strecke seit zwanzig Jahren, und noch nie hat dieser gottverdammte Zug Halt in einem Ort namens Raspienne gemacht, Monsieur!" Der Schaffner wurde etwas lauter, gleichzeitig verriet sein Gesichtsausdruck, was er von dem Fahrgast hielt. "Da bringt es auch nichts, den Zielort durchzustreichen und mit einer krakeligen Schrift Raspienne auf das Ticket zu schreiben!"
"Nein!", sagte Rascal und stand auf. Blitzschnell zog er den Schaffner zu sich heran. "Sie verstehen nicht! Dieser Zug wird in Raspienne halten! Diese Stadt existiert!" Er spreizte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und stieß sie in die entsetzten Augen des Schaffners. "Das System funktioniert!" Der Schaffner sackte zusammen, dabei flutschten Rascals Finger aus den Augenhöhlen. Sie fühlten sich warm an, als ob er sie in heißen Pudding getaucht hatte. "Törrichter Narr! Es bringt nichts, Gott zu verdammen!", fluchte Olivier verärgert. Die Stelle an der Schläfe begann wieder zu pochen. Er schloss das Abteil und zog die Vorhänge zu. Das Pochen verursachte keine Schmerzen, aber in seinem Kopf hallten Donnerschläge. Den Leichnam des Schaffners quetschte er unter die Sitzbank, dann entspannte er sich ein wenig, setzte sich und sah wieder aus dem Fenster. Das Pochen klang ab. Tote Landschaften flogen an ihm vorbei. Gedankenverloren leckte er seine Finger ab, und seine Augen begannen dabei zu leuchten. Bald würde er seinen Freund treffen. Bald würde alles wieder in Ordnung kommen.
***
"Noch drei Kilometer, dann sind wir da, mein junger Freund." Zacharias nickte leicht nach vorn. "Wo soll ich dich rauslassen? Busstation oder Bahnhof?"
Maurice zuckte mit den Schultern. "Ich werde nicht mit Bus oder Bahn fahren."
"So?", fragte Zacharias erstaunt. "Und wie willst du dann aus der Stadt rauskommen?" Er sah zu seinem Mitfahrer und hätte beinahe den Wagen in den Graben gelenkt. "Was ist los?" Geradeso schaffte er es, den Wagen in der Spur zu halten. "Warum siehst du mich so an?"
Der Blick von Jalavere war finster und voller Hass. "Die Kinder, Monsieur Rouchard!" Maurice seufzte. "Ich höre ihr Flehen... Sie weinen und schreien vor Angst..."
"Wer zum Teufel..." Zacharias trat auf die Bremse, nach einigen Metern blieb der schwarze Lieferwagen schließlich stehen. Im Wageninneren sank spürbar die Temperatur. Gebannt starrte der alte Rouchard zu dem jungen Mann, der unruhig hin- und herrutschte. 'Das kann er nicht wissen!', dachte er. 'Niemand weiß davon! Das ist Vergangenheit! Das ist vorbei!' Unbarmherzig wurde er von unsichtbarer Hand zurück in den Sitz gedrückt. "Was zum Teufel...", bellte Rouchard panisch. Er konnte sich nicht bewegen, aber aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass der junge Mann neben ihm sich nach vorn gebeugt hatte und dabei beinahe tierische Laute von sich gab. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Rouchard so etwas wie Angst. Richtige Angst. Die Angst, entdeckt zu werden, als er die vielen Kinder bei sich im Keller verscharrte, war ein Nichts gegen die Angst, dem eigenen Tod ins Auge sehen zu müssen. Er wußte, dass er nun sterben würde. Aus irgendeinem Grund saß da ein Mann bei ihm im Wagen, der viele Jahre lang vor der Welt versteckt wurde. Zacharias hatte keine Gelegenheit mehr, weiter darüber nachzudenken.
Jalavere verstummte und presste sich seine Hände an die Schläfen. Für einen kurzen Moment schien die Zeit still zu stehen. Schließlich hauchte er gequält: "Sie werden verstehen, dass es nur so sein kann!" Rouchard rollte mit den Augen und gab ein Krächzen von sich. "Ich weiß..." Maurice entspannte sich, öffnete die Tür und stieg aus dem schwarzen Lieferwagen. "Es hilft auch den Kindern, Monsieur Rouchard", sagte er und legte den Kopf etwas quer. "Sie mögen längst tot sein, aber erst jetzt werden sie die Ruhe finden, die sie verdient haben." Maurice nickte kurz und schlug dann die Wagentür zu.
'Diese Kinder... Diese Kinder... Diese verdammten Kinder...' Ohne sein Zutun setzte sich der Lieferwagen in Bewegung. Zacharias war unfähig, sich zu rühren. Ein letztes Mal bäumte der alte Mann sich auf, doch es war zwecklos. Von Fesseln, die er nicht sah, wurde er an den Sitz geschnürt, und beinahe ohnmächtig vor Angst mußte er feststellen, dass der Wagen schneller wurde und auf einen Graben zurollte. 'Unfair!' war der letzte Gedanke Rouchards. Der schwarze Lieferwagen rollte über den Straßenrand, drehte sich auf die Seite und kippte über die eigene Achse. Das Glück, sich das Genick zu brechen, blieb Rouchard verwehrt. Als der Wagen irgendwann ruhig liegen blieb, vernahm er beißenden Benzingeruch. Irgendwo im demolierten hinteren Teil des Wagens rieb sich Metall an Metall. Die Angst hatte nun endgültig Besitz von ihm ergriffen. (Mit sicherem Schritt geht er die Stufen hinab zum Keller, wie er es seit Jahren macht. In seiner Hand hält er einen Spaten. Fast spielerisch betätigt er den Lichtschalter, und das dunkle Gewölbe wird von perversem Licht erhellt. Zwischen verwesenden Kadavern sitzen Kinder, deren Blick leer ist. "Es ist Zeit!", sagt er. Seinem Plan folgend fängt er links an, drischt mit dem Spaten auf das Kind ein, welches stumm stirbt. Seine Augen glänzen, als er sich das nächste Kind vornimmt. Kurz hält er inne, lächelt und sagt: "Es tut mir nicht Leid!" In akribischer Grausamkeit tötet er die verbliebenen Kinder. Blut spritzt, Schreie verhallen ungehört im abgedichteten Raum. Als er nach einer halben Stunde seine Arbeit vollendet hat, ist er glücklich und zufrieden. Über und über mit Blut besudelt wirft er den Spaten weg und öffnet den Reißverschluß seiner Hose. Langsam rutscht diese über die dünnen Beine zu Boden. Er sieht sich um und befriedigt sich. Er weiß, dass damit Schluß sein muß. Er weiß, dass damit Schluß sein wird. Als er stöhnend kommt, fällt er auf die Knie und schreit laut auf. Die Zeiten haben sich geändert. In der neuen Stadt, in die er zieht, wird er neu anfangen. Ein ganz normales Leben...) Eine kleine, schwarze Spinne lief über das zerborstene Glas der Frontscheibe. Zacharias' Luftröhre füllte sich mit Blut. Der schwarze Lieferwagen fing Feuer, und wenig später explodierte er.
Jalavere zuckte zusammen, als sich die gewaltige Feuerflamme gen Himmel walzte. Eine Weile blieb er bei dem brennenden Autowrack, doch schließlich drehte er sich um, schulterte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg nach Raspienne.
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05
Zutiefst fasziniert, gleichzeitig voller Abscheu sah Bertrand der Spinne zu, wie diese in ihrem Glaskasten saß und sich nicht bewegte. "Und dieser Flanere... Ihnen ist nichts aufgefallen?"
Pinoef trank einen Schluck Wein und stellte das Glas auf den Tisch zurück. "Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Monsieur."
Der Komissar zog die rechte Augenbraue etwas nach oben und nickte. "Ich bitte darum!"
"Sie waren doch auch da unten im Keller, nicht wahr? Sie haben doch gesehen, was dieser Garibaldi mit den armen Kreaturen tat!"
Bertrand seufzte und drehte sich zum Direktor um. "Ja, grausam..." Und das war noch bei weitem untertrieben. In seiner Freizeit mußte sich Garibaldi von Doktor Jekyll in Mister Hyde verwandelt haben. An der Decke und an den Wänden hangen Tiere, denen er lebendigem Leib die Haut abgerissen hatte, bei einigen fand man seinen Samen in den Därmen, bei anderen wiederrum kleine Reißnägel und Glasscherben in den Augen und Rachen. Kein Wunder, dass Flanere beim Anblick dieser Schreckenskammer den Verstand verlor und seinen Arbeitskollegen mit bloßen Händen erwürgte. "Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Direktor." Er winkte ab. "Warum hat ein Mensch wie Garibaldi den Tod nicht verdient? Aber Mord ist und bleibt nun einmal Mord."
"Flanere war ein ergebener Angestellter, Monsieure Bertrand. In den Jahren hier in meiner Klinik hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen", betonte Pinoef und ging leicht wankend um den Tisch herum.
'Ist er betrunken? Von einem Glas Wein?' Stirnrunzelnd betrachtete Betrand den alten Mann, der sich mühsam auf seinen Stuhl setzte. Er lächelte und sagte: "Keine Angst, die Staatsanwaltschaft wird dies sicherlich berücksichtigen." Dann holte er einen kleinen Block aus seiner Jackentasche und überflog kurz die handschriftlichen Notizen, die er gemacht hatte. "Alles in allem war es ein recht ereignisreicher Tag gewesen."
Pinoef sah ihn fragend an. "Wie meinen Sie das?"
"Nun, vor drei Tagen ist nicht nur Garibaldi ermordet worden, sondern man fand auch ein ausgebranntes Autowrack, welches auf dem Weg von Lachelle zur nächstgelegenen Stadt war. Aus dem Inneren des Wracks hat man die verkohlte Leiche eines gewissen Zacharias Garnot geborgen. Der Lieferwagen gehörte Monsieur Henry Hulot..."
"Ja", unterbrach Pinoef den Komissar. "Hulot beliefert Lachelle mit allem, was wir hier brauchen."
"Das wissen wir." Bertrand wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. "Auch hier handelte es sich vermutlich um Mord!" Er wartete eine Reaktion des Direktors ab, aber dieser saß steif und unbeweglich auf seinem Stuhl. "Der Wagen hielt, und rollte dann wieder los. Die Reifenspuren lassen so etwas recht eindeutig erkennen. Und da waren noch Fußspuren..."
Pinoef zuckte zusammen und wäre fast vom Stuhl gefallen. Er mußte sich am Tisch festhalten. "Was sagen Sie? Fußspuren?" Er hatte Mühe, einen aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
"Maurice Jalavere", sagte der Komissar ruhig. "Sie haben ihn an diesem Tag entlassen. Zeugen haben ausgesagt, dass Jalavere von Flanere zum Tor gebracht wurde und in den Lieferwagen zu Garnot gestiegen ist." Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Bertrand einen winizigen, schwarzen Punkt an der Wand. Er drehte seinen Kopf etwas seitlich und kniff die Augen zusammen. Der schwarze Punkt setzte sich in Bewegung und verschwand hinter dem Vorhang. "Was war das?" Er ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite.
"Was tun Sie da?", wollte Pinoef wissen.
"Einen Moment..." Prüfend sah sich Bertrand das Fenster an. "Da!" In der Ecke der Fensterbank, von Schatten umhüllt, hockte eine kleine Spinne, kaum größer als ein Fingernagel. "Es ist eine Spinne!", bemerkte Bertrand und sah zum Direktor. "Sie sieht wie eine Miniaturausgabe Ihres Exemplars aus, welches Sie im Glaskasten halten."
Umständlich quälte sich Pinoef vom Stuhl hoch und schlurfte zum Fenster. "Wo?"
'Innerhalb von Minuten ist er zu einem Wrack geworden...' Bertrand zeigte in die Ecke. "Dort."
Der Direktor beugte sich etwas nach vorn. "Ich sehe nichts."
"Was?" Tatsächlich, die kleine Spinne war verschwunden. Bertrand sah nach oben. "Sie war da, da bin ich mir absolut sicher!" Unglücklich und ratlos zugleich stand er vor dem großen Fenster. Etwas frustriert schüttelte er den Vorhang, in der Hoffnung, dass die kleine Spinne doch noch wieder auftauchen würde.
Pinoef hustete und räusperte sich. "Bitte, Monsieur, ich bin ein äußerst beschäftigter Mann. Was ist denn nun mit Maurice Jalavere?"
"Ah... Richtig..." Betrand nickte. "Können Sie mir etwas über den Mann sagen?"
Müde rieb sich Pinoef die Augen. "Ich werde Ihnen die Akte zukommen lassen, einverstanden?"
"Ist er geheilt? Ich meine... Ist er wieder normal?"
Für einen kleinen Moment schien die Zeit still zu stehen. Pinoef atmtete tief durch, und Bertrand kam es vor, als ob sich dunkle Schatten um die Augen des Direktors bildeten. Pinoef starrte den Komissar beinahe wütend an, und schließlich sagte er: "Er ist nicht anders, als die Menschen außerhalb dieser Klinik!" Kaum merklich nickte er Richtung Tür. "Ich wünschen Ihnen noch einen schönen Tag, Monsieur Betrand."
Betrand zwang sich zu einem Lächeln. "Verstehe... Also dann, auf Wiedersehen." Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. "Sie müssen damit rechnen, dass ich, oder einer von meinen Kollegen, noch einige Fragen an Sie richten werden."
"Ich weiß! Bitte, gehen Sie jetzt!", flehte Pinoef, und als der Komissar endlich verschwunden war, fiel er auf die Knie und lehnte mit dem Kopf gegen den Tisch. Mit letzter Kraft gelang es ihm, eine Schublade aufzuziehen. Mit zittrigen Händen holte er eine Packung Tabletten hervor, die er mühsam aufriss. Pinoef schluckte vier Tabletten herunter und schloss die Augen. Auf seinem Nacken fühlte er ein merkwürdiges Kribbeln. Es störte ihn nicht. Nach einigen Sekunden ging es ihm besser. Er zog sich am Tisch hoch und setzte sich zurück auf seinen Stuhl. Dann bemerkte er die kleine, schwarze Spinne, die an seiner Jacke herunterkrabbelte. "Eine Miniaturausgabe, was?", flüsterte er leise. Die große Spinne im Glaskasten sprang wie wild gegen die Scheibe. "Keine Angst!" Sanft strich Pinoef über die Jacke. Die kleine Spinne fiel auf den Boden und krabbelte schnell zur Schrankwand, unter die sie verschwand. Die Spinne im Glaskasten beruhigte sich auf der Stelle. "Siehst du!", sagte Pinoef zufrieden. "Kein Grund zur Besorgnis!" Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gewählt hatte. Ein Wunder fast, dass er die Nummer noch wußte. Aber manche Sachen, das war Pinoef klar, vergaß man einfach nicht. 'Kein Grund zur Besorgnis? Verdammt!'
***
Immer und immer wieder war die Hand des Schaffners unter dem Sitz hervorgerutscht. Ein Zustand, der Olivier Rascal fast die Nerven raubte. Aber das war Vergangenheit. Der Zug hatte gehalten, und während die anderen Fahrgäste verwundert aus den Fenstern geschaut hatten, war er ausgestiegen. Ohne ihn fuhr der Zug weiter. Rascal folgte dem Gleis noch einige Meter, bog dann nach links ab, kämpfte sich durch stacheliges Dickicht, und als er dies überwunden hatte, stand er auf einer planen Ebene, die mit grauem Sand bedeckt war. Nicht weit entfernt stand eine alte Kapelle. Rascal lächelte und setzte sich in Bewegung. Je näher er der Kapelle kam, um so schneller wurde er. Er war nun da, hatte Raspienne erreicht.
Die Farbe der Kapelle war längst verblichen, an vielen Stellen der Putz abgebröckelt, schwarze Ziegelsteine kamen zum Vorschein. Vor die Fenster waren Holzlatten angebracht worden, und an der Tür hing ein großes Vorhängeschloss. "Sie ist verschlossen?" Verwundert berührte Rascal das Schloss und runzelte die Stirn. Damit hatte er nicht gerechnet. Hatte er den weiten Weg umsonst gemacht? Neben der Tür stand eine Holzbank. Gerade, als Olivier sich hinsetzen wollte, vernahm er über sich ein Geräusch. Er ging einige Schritte zurück und sah nach oben. Ein kleiner, bunter Vogel saß auf einem Kreuz, welches die Spitze des brüchigen Turmes zierte. Der Vogel zwitscherte. Und als Rascal genauer hinsah, konnte er einen großen, fetten Wurm erkennen, der sich zwischen den Krallen des Vogels wand. Der Vogel hörte auf zu zwitschern, verschluckte den Wurm, plusterte sich auf und flog dann wieder davon. Rascal sah ihm interessiert hinterher, doch bald war der Vogel nur noch ein kleiner Punkt, und schließlich war er gänzlich verschwunden. Rascal ging zurück zur Bank und setzte sich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf seinen Freund zu warten. Er hoffte, dass dieser bald auftauchen würde.
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06
Geduldig hatte Pinoef gewartet, bis er endlich verbunden wurde. Während des Wartens hatte er etwas Koks zu sich genommen, er fühlte sich großartig.
"Pinoef?"
Er trommelte mit den Fingern seiner linken Hand auf die Tischplatte. "Ja. Ich weiß, es ist viel Zeit vergangen..."
"Wann haben Sie Jalavere entlassen?"
"Vor drei Tagen." Pinoef seufzte und lehnte sich zurück. Er trommelte nun mit den Fingern auf die Stuhllehne. "Als erstes sollten Sie Ihre..." Er schluckte schwer. "Ich meine, Ihre Auslöser müssen verschwinden!" Am anderen Ende der Leitung hörte er tiefes Atmen. Keine Anzeichen von Aufregung, was ihn etwas verwunderte, immerhin...
"Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?"
"Ich habe keine Ahnung." Er schloss die Augen und flüsterte: "Ich habe Maurice Jalavere wohl etwas zu früh entlassen." Pinoef hustete kurz. Er war sich absolut sicher gewesen, dass Jalavere bereit war. Aber dann kam die Sache mit Flanere, und offensichtlich hatte Maurice den alten Zacharias in den Tod geschickt. Und der Vorfall der explodierenden Wohnung in Paris?
"Vermutlich wird er auf dem Weg nach Raspienne sein, um sich mit dem anderen zu treffen. Sie haben von der Explosion gehört?"
"Habe ich", murmelte Pinoef verbittert.
"Es gibt noch diesen toten Schaffner im Zug."
Der Direktor sah zum Glaskasten. Die Spinne bewegte sich nicht, nur ab und zu zuckte ihr Hinterleib ein wenig und sonderte ein dickflüssiges Sekret ab. "Der Schaffner kann Zufall gewesen sein..."
"Hören Sie auf, Pinoef! Er wurde wie ein Paket unter die Sitzbank des Zuges gequetscht, dazu waren seine Augen auch noch ausgestochen! So etwas sollte überhaupt nicht passieren. Durch die Explosion sind vier Menschen umgekommen. Unschuldige Menschen!"
"Ja, ich weiß", seufzte Pinoef gequält. Die ganzen Jahre lang hatte er alles genauestens geplant, und seine Prognosen hatten sich immer bestätigt. Und nun sollte er sich so drastisch geirrt haben? "Die Polizei war hier. Jalavere hat gleich in der Klinik angefangen."
"Was hat er getan?"
"Es gab einen Pfleger, der einen abartigen Umgang mit Tieren pflegte. Jalavere hat einen anderen Pfleger benützt, um diesen Mann zu töten." Wieder dieses ruhige, beinahe gleichgültige Atmen. "So war das nicht geplant. Sind Sie nicht besorgt?", wollte Pinoef wissen.
"Selbstverständlich bin ich das! Also gut, uns bleibt nichts anderes übrig, als Rascal und Jalavere in Raspienne abzufangen."
"Ob sie..."
"Nein, das glaube ich nicht. Und ich hoffe, dass ich richtig liege. Ich werde mich sofort auf den Weg machen."
"Die Auslöser?"
"Ja, ich kümmere mich darum."
"Es ist wichtig!"
"Ja, das ist mir klar."
"Fein, dann..." Der andere hatte aufgelegt. Pinoef legte den Hörer zurück auf die Gabel des altmodischen Telefons. Nun mußte rasch gehandelt werden. Weitere Unanehmlichkeiten durften nicht passieren.
Eine Stunde später fing es an zu regnen. Pinoef raste mit seinem Wagen, ein gebrauchter Mercedes, über die Straße durch den Wald, der Lachelle umgab. Er wußte um die Gefahren, besonders wenn es regnete, aber er ignorierte diese Dinge. Auf der Rückbank lag ein kleiner Koffer, den er hastig und notdürftig gepackt hatte. Durch die Hintertür war er geschlichen, und die wenigen Wärter und Pfleger, die ihn abreisen sahen, stellten keine Fragen. Pinoef war sich nicht sicher, ob er seine Klinik jemals wiedersehen würde. Er wünschte es sich, aber insgeheim glaubte er nicht daran. Bevor er gegangen war, hatte er die Spinne im Glaskasten getötet. Schließlich konnte er nicht verlangen, dass sämtliche Auslöser aus dem Verkehr gezogen werden mußten, wenn er selbst einen überaus bedrohlichen Auslöser sein Eigentum nannte. Pinoef war dreiundachtzig Jahre alt, seit Jahren zersetzte er sein Gehirn konsequent mit Wein und Kokain, aber in dieser Hinsicht war er bei klarstem Verstand.
***
Nachdem er seinen ersten Menschen bewußt und in voller Absicht getötet hatte, hielt sich Maurice von den Straßen fern. Tief in die Seele des alten Mannes hatte er geblickt, und als Folge dessen war ihm keine andere Wahl geblieben, den Mann in den verdienten Tod zu schicken. Die Erfahrung war anders, nicht so wie bei Garibaldi, den Flanere erwürgte. Der Direktor hatte ihm die große Spinne aus dem Glaskasten auf den Kopf gesetzt, Jalaveres Angst war ihm dabei egal gewesen. In den Jahren wurde Maurice viele Male mit der Spinne konfrontiert und stets hatte er geschrien und gebettelt, damit aufzuhören. Doch dieses Mal, am Vorabend seiner Entlassung aus der Psychiatrie, hatte die Spinne in ihm etwas ausgelöst. Bilder drangen in sein Bewußtsein. Bilder, in denen Garibaldi an einem dunklen Ort die bedauernswerten Kreaturen peinigte. Pinoef war wohlwollend angetan von der Tatsache, dass Maurice zuckend auf dem Boden lag und Blut spuckte, und gleichzeitig Garibaldis Missetaten hinaus brüllte. "Du bist bereit", hatte der Direktor ihm ins Ohr geflüstert, während seine knöchrigen Finger Jalaveres Arme sanft streichelten. "Und du weißt, was zu tun ist..." Bis Raspienne war es nun nicht mehr weit, das spürte Maurice. Seine Sachen waren zerissen, er selbst durch den plötzlich einsetzenden Regen und den Matsch völlig verdreckt. Zudem verspürte er ein unangenehmes Hungergefühl, das auch die durchweichten Kekse aus dem Rucksack nicht zu unterdrücken vermochten. "Bald...", flüsterte er zu sich selbst. "Bald..."
***
Dicke Regentropfen prasselten auf Olivier herab. Innerhalb von Sekunden war seine Kleidung durchnässt und er begann zu frieren. Die dunklen Wolken über ihn tauchten Raspienne in eine geheimnisvolle Dunkelheit. Zerknirscht, und wütende Flüche auf den Lippen habend, presste sich Rascal an die alte Kapelle. Wetterkapriolen waren ihm durchaus bekannt, aber ein solches Extrem hatte er noch nie erlebt. Aus heiterem Himmel waren dicke Wolken erschinenen, welche die wärmende Sonne verdunkelten und eisig kalten Regen verursachten. "Bitte, Freund!", stammelte Olivier. "Beeil dich!"
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07
"Er ist was?", bellte Bertrand in den Hörer und legte wütend auf. Mit einer einzigen Handbewegung wischte er Aktenstapel und Unterlagen von seinem Schreibtisch. "Das gibts doch nicht!", schrie er. "Pinoef ist verschwunden!", teilte er seinem Assistenten mit. "Das gibts doch nicht!" Er ging zum Fenster seines kleinen Büros und riss diese auf. Gierig saugte er die nasse Luft ein. Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, dennoch waren Feuerwehr und Stadtreinigung überall damit beschäftigt, Überschwemmungen zu beseitigen. Zu stark war der Regen gewesen. Bertrand verschränkte die Arme vor der Brust. Der Direktor der Nervenheilanstalt von Lachelle war einfach so verschwunden, und keiner wußte wohin. 'Warum? Warum hat er Lachelle verlassen?' Er fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres, leicht angegrautes Haar. "Also gut", murmelte und drehte sich um. Der junge Mann an der Tür in dem dunkelblauen Anzug sah ihn erwartungsvoll an. "Fahren Sie nach Lachelle und befragen Sie noch einmal Pinoefs Sekretariat. Irgendwas müssen die doch wissen. Fragen Sie nach Pinoef's Verwandschaft... Freunde... Was weiß ich!"
"Ich glaube nicht, dass..."
"Tun Sie es einfach, einverstanden?" Der junge Mann verließ schnell Bertrands Büro. Dieser ließ sich auf seinen bequemen Holzdrehstuhl fallen. "Oh Mann... Oh Mann..." Alles an diesem Fall war merkwürdig: Die alte Klinik, der grausame Fund im Keller, Garibaldis Tod, Jalavere... Aber irgendwas war da noch, eine winzige Sache, der Bertrand im ersten Moment keine große Bedeutung geschenkt hatte. Doch jetzt war ihm klar, dass dieses Detail einen wichtigen Zusammenhang ergab. 'Was ist es nur? Was?' Er griff sich Papier und Bleistift, und schrieb die Worte auf, die ihm in den Sinn kamen. "Mord... Psychiatrie..." Er rieb sich die Augen. "Lachelle..." Er schrieb das Wort 'Spinnen' auf. Warum, wußte er nicht so recht, aber dann... "Ja, Menschenskind!", schrie Bertrand plötzlich und sprang so heftig vom Stuhl auf, dass Papier und Bleistift vom Tisch herunterfielen. "Das gibts doch nicht!" Spinnen! Das war es! Kleine, schwarze Spinnen, kaum größer der Fingernagel eines Daumens. Schnell griff der Komissar nach dem Telefon. "Ich wußte es! Ich wußte es, verdammt!" Hastig wählte er eine Nummer.
"Belucci?"
Bertrand verschluckte sich fast. "Ich bin es, Paul!"
"Paul, was zum..."
"Die Explosion vor einigen Tagen! Haben deine Mitarbeiter inzwischen alles registriert?"
"Der Fall Olivier Rascall?"
Bertrand nickte. "Ja."
"Nach was suchst du genau?"
Was sollte er sagen? Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. "Spinnen..." sagte er schließlich, und ihm war äußerst bewußt, wie lächerlich es auf Berlucci wirken mußte.
"Spinnen?"
"Ja! Kleine, schwarze Spinnen!"
"Einen Moment mal..."
Bertrand hörte im Hintergrund, wie Belucci mit jemanden redete, gefolgt von einem heiseren Kichern. Schubladen wurden aufgezogen und wieder geschlossen. 'Mein Gott, das ist doch...'
"Paul?"
"Ja?"
"Nun, zwischen all den Trümmern hat man tatsächlich eine Spinne gefunden. Sie ist klein, aber schwarz ist sie nur, weil sie durch das Feuer..."
"Danke, Belucci!", sagte Bertrand und legte auf. Er wischte sich mit der Hand über die Lippen. "Also doch!", murmelte er leise. Es gab einen Zusammenhang zwischen den Vorfällen in Lachelle und der Explosion in einem Pariser Vorort. 'Nicht so schnell! Spinnen gibt es überall! Sie lauern und hocken in Nischen, überall sind sie, widerwärtige Tiere...' Mit Schaudern dachte Bertrand an die große Spinne in Pinoefs Büro. "Na komm, trau dich! Einen Versuch ist es wert!" Seufzend zog er das Telefon zu sich heran. Der Leichnam Pascals war nicht gefunden worden, das bedeutete, dass er entweder vollständig verbrannt war, was Bertrand allerdings ausschloss, oder sich aber abgesetzt hatte. Ein Fahrzeug besaß der Mann laut zuständiger Zulassungsstelle nicht, und wenn er Paris verlassen hatte, dann nur mit Bus, Bahn oder Flugzeug. Als erstes würde er das Konto von Pascal überprüfen. Bertrand wählte eine Nummer. "Optimismus! Optimismus!" Eine freundlich klingende Frauenstimme meldete sich, der Komissar schloss kurz die Augen und begann dann die entsprechenden Fragen zu stellen...
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Der pechschwarze Rolls Royce preschte über die Straße, hielt sich trotz Regen und Wind konstant in der Spur, wurde vom Fahrer sicher gelenkt. Dunkle Spiegelscheiben verhinderten, dass man ins Innere blicken konnte, bei der Geschwindigkeit jedoch ein ohnehin aussichtsloses Unterfangen. Selbst der kurze Moment, wenn zwei aufeinander zukommende Fahrzeuge ihren Weg kreuzten, der Moment der irrationalen Verlangsamung der Zeit, würde nichts bringen. Ab und an blickte der Fahrer in den Rückspiegel, sah zu seinem Fahrgast, der bisher noch kein einziges Wort an ihn gerichtet hatte. "Fahr den Herrn Richtung Süden, Daniel!", hatte man ihm aufgetragen. Nun, es war seine Aufgabe, den Wagen samt Fahrgast von A nach B zu bringen, schnell und sicher. 'Stell einfach keine Fragen!' Das Licht im hinteren Teil des Wagens war aus, so dass Daniel die Person, die er beförderte, kaum sehen konnte. Ab und an, wenn Licht und Schatten es zuließen, konnte er so etwas wie ein Gesicht erkennen, und das, was er sehen konnte, verursachte unangenehme Gänsehaut auf seinen Armen.
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08
Jalavere ging in die Hocke und grub seine Finger in den nassen, grauen Sand. Augenblicklich hörte es auf zu regnen, innerhalb von Sekundenbruchteilen lösten sich die Wolken auf und die Sonne kam zum Vorschein, blendete ihn. "Raspienne...", mumelte Maurice zufrieden und richtete sich wieder auf. Er fand, dass die kleine Kapelle in ein wunderschönes Licht getaucht wurde, als ob große Scheinwerfer sie von hinten anleuchteten. Er atmete noch einmal tief durch und ging dann Richtung Kapelle. Bald konnte er eine Gestalt erkennen, die an der Wand lehnte. "Freund..." Maurice lächelte.
Zufrieden genoss Olivier die warmen Sonnenstrahlen, die seinen Körper durchfluteten. "Freund..." Ein Mann näherte sich der Kapelle. "Freund!", schrie Rascal und hob beide Arme zum Gruß. Der andere Mann winkte zurück. "Nun bist du endlich hier!"
Zwei Minuten später reichten sich Maurice Jalavere und Olivier Rascal die Hände und sahen sich tief in die Augen, als ob sie versuchen würden, dem anderen in sein Innerstes zu sehen, seine Seele zu ergründen. Beide hatten sie die gleiche Größe, schwarzes Haar und grünblaue Augen. Dennoch waren sie grundverschieden.
"Ich habe mir Raspienne größer vorgestellt", sagte Olivier und deutete auf die verschlossene Tür der Kapelle. "Das Schloss versperrt den Zugang."
Maurice nickte verschmitzt. "Raspienne ist größer, als du denkst." Er tippte sich gegen die Brust. "Ich habe es gesehen, in meinen Träumen. Die Kapelle bildet nur die Spitze. Raspienne ist keine Stadt, wie wir sie kennen. Eher ein... Ein riesiges Untergeschoss, dessen Eingang wir nun gegenüberstehen. Und ja, natürlich ist er verschlossen." Er wandte sich von Rascal ab und ging zur Tür. Behutsam berührte er das alte Vorhängeschloss, und wie durch ein Wunder zerbröselte zu metallischen Staub. "Denken..." sagte er zu dem anderen. "Ich denke, und du handelst!"
Staunend schüttelte Olivier den Kopf. "Wie hast du das gemacht? Ich hatte es vorhin ebenfalls berührt, aber..."
"Es ist nicht wichtig, Freund. Vielleicht war es ein Wunder, vielleicht war das Schloss aber auch nur alt genug, um irgendwann zu zerfallen. Ich will es nicht wirklich wissen." Damit hatte sich die Sache für ihn erledigt. Maurice umgriff den bronzefarbenen Riegel und drückte ihn langsam nach oben, bis dieser mit einem leisen Klack aus der Verankerung fuhr. Die Holztür öffnete sich einen Spalt. "Wir beide haben uns vorher noch nie gesehen, und doch stehen wir nun gemeinsam vor dieser Tür."
"Ja..." Olivier lächelte. "Es war kein einfacher Weg. Und weißt du was? Die Erinnerungen an mein früheres Leben beginnen zu verblassen, es scheint, als ob nur Raspienne in meinem Bewußtsein existiert, und die Geheimnisse hinter dieser alten Holztür." Er ging einen Schritt nach vorn und stieß die Tür auf. "Nach dir, Freund!", sagte Olivier und grinste.
Maurice kniff die Augen zusammen, und es dauerte ein wenig, bis er sagte: "Nein, geh du voran!"
***
Fast wäre Pinoef in den wie aus dem Nichts auftauchenden Rolls Royce aufgefahren. "Um Himmelswillen!", kreischte er, riss das Lenkrand herum und trat gleichzeitg auf das Bremspedal. Wenige Zentimeter vor der Hochglanzkarosserie eines der teuersten Automobile der Welt blieb Pinoefs alter Wagen schließlich stehen. "Oh Mann...", keuchte der Direktor aufgeregt, sein Puls raste und seine Hände zitterten. Für einen Moment nahm der alte Mann die Zeit verzehrt war: In Zeitlupe öffnete sich die Fahrertür des Luxuswagens und ein stämmiger Mann in grauem Anzug stieg aus. Obwohl der Regen vorbei war, spannte der Stämmige einen Regenschirm auf, bevor er die linke hintere Tür öffnete. Pinoef wußte, wer gleich aus dem Wagen austeigen würde. In seinem rechten Ohr gab es ein leises Knacken, und die Zeit verlief wieder in ihrem normalen Tempo. Langsam löste Pinoef den Gurt und noch langsamer griff er nach dem Griff, den er nur kurz zu sich ziehen mußte, damit die Tür aufging. Doch er wartete noch, er war sich nicht ganz sicher. 'Wenn du jetzt aussteigst, ist alles vorbei! Du könntest den Rückwärtsgang einlegen und...' Aus dem Rolls Royce stieg ein Mann, der noch größer als der Stämmige war, allerdings nicht annähernd so breit, eher dünn. Der schwarze Anzug, den er trug, stand in völligem Kontrast zu seinem schneeweißen Gesicht. Die Augen versteckte der Mann hinter eine großen Sonnenbrille. Nun war es für Pinoef zu spät, um es sich anders zu überlegen. Und als ihm das bewußt wurde, entspannte er sich. Seufzend zog Pinoef den Griff, die Tür seines Wagens öffnete sich und er stieg aus. "Das war knapp!", rief er und zwang sich zu einem Lächeln. Der Mann in Schwarz flüsterte seinem Fahrer etwas ins Ohr, worauf dieser den Regenschirm zusammenklappte und wieder in den Wagen stieg. Verwundert nahm Pinoef das Motorengeräusch wahr. "Was wird das?" Der Rolls Royce setzte sich in Bewegung und beschleunigte, und schon bald war er in einer Kurve verschwunden.
"Pinoef, mein lieber, alter Freund!", griente der schwarze Mann und entblößte dabei eine Reihe gräßlich gelber Zähne. "Ich weiß nicht mehr, wann wir uns das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen." Er trug einen schwarzen Hut, den er nun abnahm und spielerisch von Hand zu Hand gleiten ließ.
'Mein Gott! Er hat sich in all den Jahren kaum verändert', dachte Pinoef und trat eher unfreiwillig einen Schritt zurück. "Es ist... Es ist lange her."
"Sie wirken erstaunt", bemerkte der Mann belustigt. "Ich weiß auch, weshalb. Aber keine Angst, ich bin weder irgendein Gott, noch irgendein Teufel. Das Geheimnis lautet Wissenschaft, verbunden mit Medizin, die wiederrum mit der Erforschung der menschlichen Psyche und Physis zusammenhängt. Themen, die uns beiden sehr am Herzen liegen, nicht wahr?"
"Natürlich..." Das Lächeln gefror Pinoef im Gesicht. "Ich war nur etwas verwirrt."
"Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das Privileg haben, zu wissen, dass es mich überhaupt gibt. Nicht einmal der Präsident dieser durchaus ehrwürdigen Nation weiß um meine Existenz. Ihre Verwirrtheit kann ich wirklich gut verstehen." Der Mann nahm die Sonnebrille ab.
Pinoef starrte in zwei leere Augenhöhlen. "Ja...", stammelte er. "Verstehe, Mister... Mister Drey."
"Gehen wir?", fragte Drey.
"Was?"
Aus seiner Hosentasche holte Drey eine kleine Pistole hervor. "Wollen wir? Ich denke, unsere beiden Freunde haben sich in der Zwischenzeit Zutritt nach unten verschafft."
Entgeistert starrte Pinoef die Waffe in Dreys knöchriger Hand an. "Was haben Sie vor?"
"Wir beide können das nur zusammen regeln. Nur wir beide! Sonst keiner, Pinoef! Alle anderen sind schließlich längst tot." Drey setzte sich wieder die Sonnebrille auf und deutete zu einer kleinen Anhöhe. "Es sind nur ein paar hundert Meter bis zur Kapelle."
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09
Olivier hatte kurz gelacht und dann ohne weiteres die Kapelle betreten. "Oh...", hörte Maurice ihn sagen. "Was ist, Freund?", fragte er. "Freund? Olivier?" Er bekam keine Antwort. Ihm blieb nichts anderes übrig, als über die Schwelle zu gehen. Er mußte die Helligkeit hinter sich lassen und in die Dunkelheit eintauchen. "Olivier..." Maurice ging in die Kapelle hinein. Schlagartig sank die Temperatur und er bekam eine Gänsehaut. Obwohl es sehr dunkel war, konnte er beinahe alles erkennen: Vom Schimmel zerfressene Holzbretter lagen übereinander gestapelt auf der rechten Seite, der Boden war mit alten Papierfetzen übersät, links standen von dicken Staubschichten bedeckte Klappstühle. 'Wo ist Olivier?' "Freund!" An der Decke bildeten zahlreiche Spinnweben eine graue, sich sanft hin- und herbewegende Wolke. Maurice blinzelte und runzelte die Stirn. In der Mitte befand sich eine große Metallbox. "Was ist das?"
"Es ist wohl ein Aufzug." Rascal kam um die Box herum und grinste. "Hier hinten liegen tausende Bücher der heiligen Schrift. Tausende! Ich meine, wieviele gottesfürchtige Menschen passen hier wohl rein?" Zweifelnd, und irgendwie auch spöttisch, deutete er mit seinen Armen die Breite der Kapelle an. "Tausend?" Als er Jalaveres fragenden Gesichtsausdruck sah, nickte er. "Es ist ein Aufzug. Du selbst meintest, diese Kapelle würde nur die Spitze darstellen. Also, lass uns runterfahren!" Auf Hüfthöhe war an der linken Seite der Box ein kleiner Glaskasten angebracht. "Das scheint wohl der Türöffner zu sein." Rascal hatte eine blendende Laune.
Auf Jalaveres Stirn bildeten sich Schweißtropfen, mit einem mal hatte er das Gefühl, dass jeder Ort auf der Welt besser war als der, an dem sie sich befanden. "Nein...", krächzte er heiser. "Nicht berühren!" Aber entweder hatte er zu leise gesprochen, oder aber Olivier wollte ihn nicht hören.
Langsam berührte Olivier den kleinen Kasten. Zuerst ließ er seine Fingerspitzen darüber gleiten, und schließlich presste er sanft die Hand auf die Scheibe. "Wir sind nun hier, Freund, am Ende unseres Weges. Nun also werden wir die Antworten finden, die wir gesucht haben. Wir haben doch Antworten gesucht, nicht wahr?" Sein fröhliches Gesicht verschwand, und zum Vorschein kam eine fast gequälte Fratze eines Menschen, der aus dem Nichts heraus sein bisheriges Leben über Bord geworfen hatte, um womöglich in einer kleinen Kapelle an einem Ort zu sterben, der auf keiner Landkarte verzeichnet war.
Gebannt und mit zusammengepressten Lippen wartete Maurice ab, was geschehen würde. Zuerst passierte nichts, doch dann hörte er ein leises Summen. Es kam von unten. "Hörst du das?", flüsterte er.
Olivier nickte und trat einen Schritt zurück. "Das scheint der Aufzug zu sein..."
"Aber wie das?" Verunsichert sah Maurice abwechselnd zu der Box und zu seinem Freund. Die ganze Sicherheit, die er noch außerhalb der Kapelle gehabt hatte, war wie weggeblasen. "Warum kommt er von unten? Das bedeutet, dass da unten jemand sein muß!" Das Summen wurde lauter.
"Vielleicht gibt es einen... Hintereingang", bemerkte Rascal trocken. Auch ihn hatte ein unwohles Gefühl übermannt. Am liebsten hätte er sich zur Seite gedreht und alles rausgekotzt, was er in sich hatte: Böse Träume, verblassende Erinnerungen, tote Menschen..." Er begann zu schwitzen. Die Metallbox wackelte ein wenig. "Gleich..."
Maurice hielt die Luft an. Er bereitete sich innerlich darauf vor, dass in den nächsten Sekunden der Aufzug stoppen, Männer mit Maschinengewehren herausstürmen, und seines und das Leben seines Freundes mit gezielten Schüssen beenden würden. Der Holzstapel fiel krachend in sich zusammen, Papierfetzen wurden aufgewirbelt, es gab einen Ton, einer Fahrradklingel gleich, und dann war es still. Der Aufzug hatte die oberste Etage erreicht. Keuchend atmete Maurice aus und schnappte nach Luft. Sein Herz raste. "Olivier..."
Rascal ging langsam einen weiteren Schritt zurück und berührte Jalaveres Arm. "Er ist da."
Ohne ein Geräusch zu verursachen öffnete sich der Aufzug. In der Kabine befanden sich weder Soldaten mit Maschinengewehren, noch tentakelbewehrte Monster. Die Kabine war leer und eine metallisch klingende Frauenstimme sagte in charmanter Tonlage: "Bitte treten Sie ein!"
***
Mister Drey und Jean Pinoef erreichten die plane Ebene. "Ich war zu lange nicht mehr hier", sagte Drey leise und starrte auf den grauen, mittlerweile wieder trockenen Sand. "Ich hatte ihn in einer anderen Farbe in Erinnerung. Rot vielleicht, oder war es braun?"
"Einst war es rötlich schimmernder Sand, aber mit den Jahren..." Pinoef hatte Angst, vor Mister Drey neben ihm, vor der Kapelle, vor den beiden Männern innerhalb dieses alten Gebäudes. Zudem setzte ihm die Sonne arg zu. Sein ohnehin schon ausgemergelter Körper war es nicht mehr gewohnt, länger als eine Stunde im Freien zu verbringen. Fast glaubte der alte Mann, förmlich zu spüren, wie die Sonne über ihnen ihre Partikel auf ihn hinabschleuderte, um ihn auszusaugen. Vor seinem geistigen Auge hatte er das Bild einer grinsenden Sonne, deren Eckzähne lang, spitz und messerscharf waren. "Ich glaube, ich schaffe das nicht!", stöhnte er.
Mister Drey blieb stehen und packte den Direktor an den Armen. "Ich entscheide das!" Er ließ Pinoef los und nahm die Sonnenbrille ab. Und obwohl er nur in zwei leere Augenhöhlen sah, kam es dem alten Mann so vor, als ob stechende Augen ihn anstarrten. Drey fletschte seine spröden Lippen und zischte: "Hier und heute hat es ein Ende! Ein fehlgeschlagenes Experiment muß gestoppt werden! Selbst ein alter, kurz vor dem elenden Sterben liegender Mann wie Sie muß das begreifen!" Der Hut rutschte von Dreys Kopf. Elegant fing der Mann ihn auf. In der hellen Sonne wirkte die runzlige Kopfhaut noch furchteinflößender, als sie es ohnehin schon war. "Jetzt kommen Sie schon!" Er zerrte Pinoef mit sich zur Kapelle, die nicht mehr weit weg war.
Widerwillig, dennoch ohne Kraft, sich dem harten Griff zu entziehen, ließ sich Pinoef mitschleifen. 'Ich schaffe das nicht! Ich schaffe das nicht! Ich schaffe...' Seine Kehle war trocken und brannte, und seine Beine fühlten sich an wie Gummi. Nichts wünschte sich Pinoef im Augenblick mehr, als in seiner Klinik an seinem Schreibtisch zu sitzen, vor sich eine dünne Linie aus weißem Pulver, das ihn nach ausgiebigen Genuß in eine fröhlichere Welt führen würde.
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10
Bertrand hatte nichts herausgefunden. Stundenlang hatte er Telefonate geführt, wieder und wieder Fragen gestellt, ohne Erfolg. Mürrisch saß Bertrand auf seinem Stuhl, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. In Lachelle, das hatte ihm sein Assistent vor zehn Minuten mitgeteilt, wußte natürlich niemand etwas über den Verbleib des Direktors. "Verdammt!", knurrte der Komissar. Olivier Rascal, bis zur Explosion seiner Wohnung ein Mann tadellosen Lebens, war verschwunden. Ebenso Jean Pinoef, und erst recht Maurice Jalavere. Ein interessanter Mann, wie Betrand befand. Jalaveres Akte lag schräg rechts von ihm in der Ablage. Der Vater von Maurice kam bei einem Autounfall ums Leben, ein ziemlich ungewöhnlicher, wie Augenzeugen berichteten. Obwohl es trocken gewesen war und die Sonne geschienen hatte, bildete sich ein kleiner Hagelschauer über den Renault, der wohl dafür sorgte, dass Grimard Jalavere die Kontrolle über den Wagen verlor. Über Fabienne Jalavere war nicht viel bekannt, ihre Spur verlor sich irgendwo im Osten des Landes. Und Maurice? Bertrand schüttelte den Kopf und lächelte gequält. "Warum steckt man einen kleinen Jungen in eine Psychiatrie?" Der Junge war, so gab es die Krankenakte an, zumindest einige Sekunden lang klinisch tot gewesen. Aber reichte das als Begründung, ihm seine ganze Kindheit und Jugend zu stehlen? 'Wer weiß, was Pinoef mit ihm alles getan hat', dachte Bertrand. Es klopfte, nicht an der Tür, sondern gegen die Fensterscheibe. Verwundert drehte Bertrand seinen Kopf etwas nach links. Ein kleiner Vogel mit buntem Gefieder saß auf dem Fensterbrett und blickte neugierig in das Büro hinein. Mit seinem spitzen Schnabel stieß er mehrmals gegen das schmutzige Glas. Der Komissar zögerte einen Moment, aber schließlich stand er auf und ging zum Fenster. "He, kleiner Vogel. So einen wie dich habe ich ja noch nie gesehen. Bist du ausgerissen? Aus dem Zoo?" Der Vogel fing an zu zwitschern, ein kehliger, beinahe fröhlicher Laut. In seinen Krallen hatte er einen dicken Wurm, der sich noch schwach bewegte. "Oh? Abendessen?" Ein Gähnen übermannte den Komissar. "Ja, du hast Recht. Zeit, nach Hause zu gehen." Der Vogel plusterte sich auf und flog davon. Bertrand zog sich die Jacke an, stopfte einige Akten in seine Tasche und verließ sein Büro. Auf dem Gang begegnete er zwei Männern, die er nur flüchtig kannte und die irgendwas über einen toten Schaffner redeten. Bertrand kümmerte sich nicht weiter darum.
***
Während Olivier auf den Boden starrte, sah Maurice zu den Neonröhren. Der Fahrstuhl fuhr leise nach unten. Das Summen, was sie beide oben in der Kapelle wahrgenommen hatten, schien hier drinnen nicht zu existieren. Eine harmonische Melodie beschallte die Kabine. Die Fahrt dauerte nicht lange, dennoch kam es Maurice vor, als ob Minuten vergangen waren. 'Ob er auch so empfindet?' Unsicher sah er seinen Freund an. Mit einem kurzen Ruck stoppte der Aufzug, stumm glitt die Tür zur Seite, und den beiden präsentierte sich ein langer, schmaler, spärlich beleuchteter Gang. "Nach dir", flüsterte Maurice.
"Nein!" Rascal runzelte die Stirn. "Dieses Mal gehst du voran!" Der Klang seiner Stimme duldete keinen Widerspruch.
Tief Luft holend trat Maurice aus dem Fahrstuhl. Die Luft schmeckte nach Metall, gleichzeitig war es unangenehm warm. Er sah nach oben. Dunkle Flecken waren an der Decke zu sehen, irgendwo tropfte Wasser auf den Steinboden. Das verursachte Echo hörte sich unheimlich an. In seinem Nacken spürte er Oliviers Atem. "Gehen wir", sagte er monoton.
"Ja", flüsterte Rascal. "Gehen wir."
Der Gang zog sich einige dutzend Meter hin, ohne dass irgendwas passierte, oder eine Tür oder sonstiges erschien. Dann tauchten Rohre vor ihnen auf, die aus der Wand kamen, sich in geschwungenen Linien zur Decke hin schlängelten, bis sie wieder im Mauerwerk verschwanden. In den Rohren blubberte es. Undefinierbar. Beiden brannte die Frage auf der Zunge, um was es sich bei diesem Bauwerk handelte, jedoch sagte keiner was. Olivier und Maurice gingen stumm durch den Gang, nur ab und an zuckte einer von ihnen zusammen, wenn von weiter vorn ein Geräusch zu ihnen vordrang, welches sie nicht identifizieren konnten. Sie erreichten eine Stelle, an der die Glühbirnen kaputt waren. Es war ein Wunder, dass es hier überhaupt Licht gab, da war sich Maurice sicher. Vielleicht gab es ein autonomes Kraftwerk? Oder aber, irgendwo würden tatsächlich Menschen auf sie warten. Menschen, die in den letzten Jahren nichts anderes getan hatten, als diese Anlage aufrecht zu erhalten.
"Ich sehe nichts mehr", bemerkte Olivier und zeigte nach vorn in den Gang. Tatsächlich war es stockdunkel. "Möglich, dass es keine Glühbirnen mehr gibt, oder überhaupt irgendeine andere Lichtquelle." Er blieb stehen. "Das gefällt mir nicht. Wir sind nicht ohne Grund hier. Aber scheinbar grundlos wurde alles getan, um uns zur Umkehr zu bewegen."
Maurice nickte bedächtig. "Möglich. Aber vielleicht irren wir auch. Vielleicht sind es nur ein paar Meter durch die Dunkelheit, und wir gelangen an den Ort unserer Träume."
"Ich habe von Raspienne nicht geträumt. Ich wollte plötzlich hierher, obwohl ich nicht weiß, warum."
Sanft legte Maurice seinem Freund die Hand auf die Schulter. "Hast du denn niemals Träume gehabt, die wundervoll waren? Die dich an Orte führten, die für dich unerreichbar schienen?"
Oliviere schluckte und räusperte sich. "Ich weiß es nicht... Vielleicht."
"Dann laß uns weitergehen!", sagte Maurice aufmunternd. Sanft gab er seinem Freund einen Schubser.
"Lass das!", brummte Rascal.
"Entschuldige!" Maurice grinste und tauchte als erstes in die Dunkelheit ein.
Ihm war klar, dass es unmöglich ein Zurück gab, also setzte sich auch Olivier langsam in Bewegung, und bald zeugten nur noch hallende Schritte davon, dass zwei Menschen durch den Gang liefen.
Kaum, dass Olivier und Maurice verschwunden waren, kroch aus einer schmalen Ritze in der Wand eine Spinne hervor. Sie war klein und schwarz behaart. Die Spinne krabbelte einer unsichtbaren Linie folgend zum Boden, blieb dort einige Sekunden stehen, und setzte sich dann erneut in Bewegung. Ihr Ziel war die gegenüberliegende Wand. Dort gab es einen Spalt, und dahinter eine große Kammer, in der sie schon oft Nahrung in Form von Fliegen aufspüren und vertilgen konnte. Als sie die Hälfte der Strecke überwunden hatte, erschien wie aus dem Nichts eine andere Spinne, gut viermal so groß. Unbeeindruckt lief die kleine Spinne weiter. Dass es gewaltigere Exemplare ihrer Art gab, war völlig normal. Die große Spinne zuckte mit dem Hinterleib, setzte zum Sprung an, sprang schließlich, und landete direkt vor ihrem Pendant in Miniaturform. Die kleine Spinne war tot, noch bevor ihr Instinkt, vielleicht sogar ihre schwach vorhandene Intelligenz, den Angriff überhaupt registrieren vermochte.
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Mister Drey zeigte auf die Überreste des Vorhängeschlosses, einer Anhäufung Metallstaubes, den ein Betrachter, der nicht danach suchte, kaum entdeckt hätte. "Wr haben sie um vielleicht dreißig Minuten verpaßt! Viel Zeit für die beiden, die Anlage ausfindig zu machen."
Verächtlich winkte Pinoef ab. "Ich bitte Sie, das haben sie doch längst!" Pinoef zitterte am ganzen Körper, er atmete schwer, und zu allem Überfluss kam hinzu, dass er völlig vom Schweiß durchnäßt war. Seine Sachen schienen auf seiner Haut zu kleben. Angst. Pure Angst vor der Ungewißheit, wie die Angelegenheit für ihn enden würde. Er schleppte sich zur Holzbank und nahm seufzend Platz. "Und nun?"
Mister Drey sah den alten Mann erstaunt an. "Was? Was fragen Sie? Was nun ist? Nun, wir werden den Aufzug nehmen und die Sache zum Abschluß bringen!"
"Ach... Das sagen Sie schon die ganze Zeit. Ich meine, werden wir sie töten?"
Der Mann in Schwarz sah nach oben. "Wissen Sie, Jean, bis vor kurzem hätte niemand geglaubt, dass Menschen in der Lage sind, in den Weltraum zu reisen. Ich war auch eher skeptisch, habe aber letztendlich die nötigen Finanzen zur Verfügung gestellt, die schließlich zum benötigten technischem Know How führten."
Pinoef verdrehte die Augen, nicht aus Unmut, sondern weil ihm schwindlig war. "Sie waren das? Sie haben den Russen dazu verholfen?"
Mister Drey grinste und winkte ab. "Ich bitte Sie, doch nicht nur den Russen! In nicht ganz so ferner Zukunft werden es die Amerikaner sein, die zum Mond fliegen. Den Russen sei ihr Triumph gegönnt, den ersten Menschen in einer kleinen Kapsel in die Umlaufbahn geschossen zu haben. Jedoch vertraue ich meinem Instinkt, Jean. Und der sagt mir, dass es die Amerikaner sein werden, in die es lohnt zu investieren. Sei es nun mit Geld, mit Worten, oder aber..." Er schnippte mit den Fingern. "Oder aber mit anderen Dingen, die womöglich einen unangenehmen Schock hervorrufen, aber in der Endabrechnung positiv auf die Bilanz wirken. Also überlasse ich den Ostblock seinem unweigerlichen Schicksal. Verstehen Sie?" Mister Drey stieß die Tür der Kapelle auf. "Und nun kommen Sie, alter Freund. Bringen wir es hinter uns!"
Pinoef schloss die Augen und lehnte sich zurück. "Einen Moment, bitte." Es war einer dieser seltenen Momente, wo er seinem Körper die Freiheit gab, über das Funktionieren zu entscheiden.
"Pinoef!" Die Stimme von Mister Drey klang nach allem, nur nicht normal.
"Ja... Ich komme ja schon." Pinoef würde also nicht auf der Holzbank sterben, auf der er saß. 'Vielleicht im Aufzug. Vielleicht im langen Gang. Vielleicht in der Anlage. Oder aber vielleicht durch Mister Drey...' Pinoef unterdrückte einen Hustenanfall und folgte dem Mann in Schwarz in die Kapelle von Raspienne. Ihm wurde klar, dass er über Mister Drey so gut wie nichts wußte. Auf einer Versammlung vor vielen Jahren im Kellergewölbe eines alten Hotels hatte mal jemand Andeutungen gemacht, dass Drey "...nicht dem entspricht, was wir uns überhaupt vorstellen können..." Aber aus solchen Spekulationen hatte sich Pinoef stets herausgehalten. Mister Drey stand bereits an der Metallbox und drückte die linke Hand gegen den Glaskasten. Es dauerte keine drei Sekunden, und der Aufzug bewegte sich nach oben, begleitet von einem unheimlichen Summen. Pinoef bekam Gänsehaut.
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11
Die Dunkelheit dauerte nicht lange. Beide waren sie froh, als das Licht in Form von summenden Glühbirnen wieder erschien. Nun hatten Maurice und Olivier das Ende des langen Tunnels erreicht und standen vor einer Stahltür, auf der mit weißer Farbe 'SV77' stand.
"Was bedeutet SV77?", fragte Rascal.
Maurice zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht." So wie oben an der Holztür der kleinen Kapelle von Raspienne, gab es auch hier unten ein Vorhängeschloss. "Und wenn es doch ein Wunder ist?", murmelte er und berührte das Schloss. Augenblicklich zerbröselte es zu feinstem Staub.
Olivier nickte und sagte lachend: "Du kannst wohl auch übers Wasser gehen, was?"
"Das glaube ich nicht, nein." Jalavere sah zu seinem Freund. "Sind wir bereit?"
"Wenn nicht, wären wir nicht hier, Freund", sagte Olivier, löste den Riegel aus der Verankerung und öffnete die Tür. "Gehen wir hinein!"
Stumm gingen Pinoef und der in Schwarz gekleidete Mann durch den Tunnel. Im Aufzug hatte Mister Drey die Fahrstuhlmusik mitgesummt, und dabei Pinoef mehrfach belustigt angesehen. ("Ein Klassiker, mein lieber Pinoef! Ein Klassiker aus der ruhmreichen Zeit!") Der Direktor hatte Mühe, das Tempo zu halten, welches Mister Drey vorgab. Sie erreichten die dunkle Passage, und Drey blieb stehen. Er hob seinen Kopf etwas nach oben und schnupperte, als wenn ein Löwe die Spur seiner Beute nicht verlieren wollte. "Etwas ist ungewöhnlich!", sagte er und brach damit das Schweigen.
Pinoef räusperte sich. "Etwas?" Allein, wie Drey das Wort ausgesprochen hatte, war in seinen Augen pure Untertreibung. Drey hatte geklungen, als ob irgendeine belanglose Sache passiert wäre.
"Oh...", sagte Drey überrascht. "So ein großes Exemplar hätte ich in der Anlage vermutet, nicht aber außerhalb!" Er zeigte zu einer großen Spinne, die träge die Wand hochlief. "Das ist interessant!"
"Das ist nicht interessant!", keuchte Pinoef, der plötzlich mit Atembeschwerden zu kämpfen hatte. "Das ist völlig normal. Sie finden immer einen Weg hinaus! Immer! Daher habe ich es schon vor langer Zeit aufgegeben, meine Auslöser einzusperren. Sie konnten jederzeit aus ihren Glaskästen, wenn sie es wollten."
"Verhält es sich so, ja?" Drey runzelte die Stirn und winkte ab. "Sie haben Ihre beiden Exemplare getötet?"
"Sie sind tot", flüsterte Pinoef und wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. "Und was ist mit Ihnen?"
"Ich habe vor meiner Abreise alles angeordnet." Mister Drey deutete wieder zu der Spinne. "Sie hat vor kurzem gefressen. Einen Auslöser, einen von den kleineren... Nun..." Er nahm die Sonnenbrille ab und wischte mit dem Ärmel kurz über die Gläser. "Wie dem auch sein, alles wird bald ein Ende haben, nicht wahr? Kommen Sie, die Anlage ist nicht mehr weit entfernt. Unsere beiden Freunde werden eine Menge Fragen haben. Und wenn wir schnell genug sind, brauchen wir keine Antworten zu geben."
Jean Pinoef hörte die Worte seines Begleiters wie aus weiter Ferne. Er fixierte die Spinne an der Wand, konzentrierte sich auf das achtbeinige Geschöpf. "Sie haben es nicht voraussehen können? Ist dies wirklich der einzige Weg zur Lösung?" Er holte tief Luft. "Warum?"
"Wie ich schon sagte..." Mister Drey setzte sich die Sonnenbrille wieder auf und schob sie in die richtige Position. "Ich bin kein Gott!" Er ging zur Wand und zeigte auf die Spinne, die regungslos verharrte. "Ein Gott würde so etwas nicht zulassen!" Völlig unerwartet griff Mister Drey nach der Spinne und stopfte sie sich in Mund.
Angewidert hörte Pinoef, wie sich gelbe Zähne in den zuckenden Leib der Spinne bohrten, sie zermalmte. "Zum Kotzen!" Er wandte sich ab und betrat die dunkle Passage des Ganges. Er achtete nicht auf die Rufe Dreys.
"Warten Sie, Pinoef! Warten Sie!" Verärgerte wischte sich Drey Haare und andere Überbleibsel der Spinne vom Mund und lief dem alten Mann hinterher.
Zuerst starrten sie ungläubig auf den blitzblanken Metallboden, dann an die sauberen und ordentlich gekachelten Wände, schließlich nach oben, wo surrende Neonlampen in kurzen Abständen zueinander hingen, und schlußendlich nach vorn, in eine riesige Halle, die mit Dingen vollgestopft war, von denen weder Maurice, geschweige denn Olivier jemals etwas zuvor gesehen hatten.
"Was ist das hier?", murmelte Jalavere. Langsam gingen sie an langen Tischen vorbei, auf denen Monitore standen, die in schneller Reihenfolge Zahlen und Buchstaben zeigten. Zwischen den Monitoren, die nicht größer als ein handelsübliches Kofferradio waren, standen schwarze Plastikboxen, aus denen sich dünne Drähte spiralförmig hin zu Sesseln schlängelten, die Pilotensitzen aus Düsenjets ähnelten. An deren Kopfenden befanden sich Klammern und Schrauben. "Sie sehen aus wie elektrische Stühle", bemerkte Maurice und blieb stehen. Olivier war etwas zurückgeblieben. "Freund?"
Rascal hielt eine Tastatur in den Händen, die nur acht Tasten besaß, die Buchstaben A, F, N und S, sowie vier Zahlen. "Acht, Fünf, Neun und Sieben..." Seufzend legte er die Tastatur zurück. "Wo sind wir nur gelandet? In einer Außenstelle der NASA?" Diese Institution der Amerikaner gab es erst wenige Jahre, und fast jedem war sie bekannt. Nur Sputnik und Juri Gagarin waren geläufigere Begriffe, zumindest bei denen, die sich für solche Sachen interessierten. Kopfschüttelnd klopfte er gegen einen der Monitore. "Sinnloses Buchstaben- und Zahlengewirr!" Irgendwo am anderen Ende der Halle gab es ein Poltern, als ob jemand Stühle und Tische umwarf. Rascal zuckte zusammen. "Hast du das gehört?", rief er.
Maurice nickte. "Wir sind wohl nicht allein." Plötzlich sprang er nach hinten. "Oh nein!"
"Was ist?" Besorgt sah Olivier in das plötzlich aschfahl gewordene Gesicht seines Freundes. "Was ist passiert?" Jalavere zeigte mit zittrigen Händen auf einen der Tische. Ein Glaskasten stand dort. "Was ist das?" Neugierig ging Olivier etwas näher. In dem Glaskasten lag ein Stück Ast, etwas Blätter, etwas Erde, sowie... "Was zum..." Sein Puls wurde stärker, und auch das Rauschen im Ohr nahm zu. In einer Ecke lagen Überreste von Ratten, verfaulte Köpfe, vertrocknete Pfoten, zerbissene Knochen, kleine Nagezähne... Eine große, schwarze Spinne sprang so stark gegen die Scheibe, dass der Glaskasten wackelte. Panisch schrie Rascal auf. "Großer Gott!" Sein Schrei hallte durch den riesigen Raum. Fast gleichzeitig duckten sich Maurice und Olivier. Die Spinne im Glaskasten kroch wieder hinter den Ast zurück. "Ganz sicher sind wir nicht allein!", keuchte Olivier.
Maurice gab ihm Recht. "Sehe ich auch so." Er hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, dennoch vermied er es, zum Glaskasten zu sehen.
"Davon gibt es ja Hunderte!", sagte Rascal. In unregelmäßigen Abständen standen überall auf den Tischen Glaskästen. Wieder gab es ein Poltern, dieses Mal schon weitaus näher. Er sah angestrengt nach vorn. "Ich kann niemanden sehen. Es ist, als ob sie angekrochen kommen..."
"Wer?" Maurice und sein Freund waren nach Raspienne gekommen, um Antworten zu erhalten. "Wer, verdammt?" Und dann hörten sie einen lauten Knall. "Das war ein Schuß!"
"Was bedeutet SV77?" Leicht irritiert, dennoch schmunzelnd, stand Mister Drey vor der offenen Tür, hinter der sich die Anlage befand.
Pinoef zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Türen zu kennzeichnen lag außerhalb meines Betätigungsfeldes."
"Werden wir auf unsere alten Tage sarkastisch, ja?", sagte Drey spitz. Sie hörten einen leisen Schrei aus der Anlage, der sich in ein gellendes Echo verwandelte. "Oh..." Amüsiert pulte er sich kleine Hautfetzen zwischen den Fingern ab. "Entweder haben sie die Bänder entdeckt, oder aber..." Er beendete den Satz nicht.
In der Anlage bewegten sich Auslöser, die nicht unter Kontrolle standen. Die Bänder waren in Tresoren gut verwahrt, also konnte es sich nur um die Spinnen handeln. "Große Auslöser...", röchelte Pinoef. "Die richtig großen Viecher!", bemerkte er süffisant. Er klang wie ein Mensch, der im Sterben lag.
Mister Drey rümpfte die Nase. "Es ist also alles aus dem Ruder gelaufen: Kein Personal in der Anlage..."
"Sie haben selbst...", versuchte Pinoef zu protestieren. Zwecklos.
"Kein Personal!", wiederholte Drey gereizt. "Menschen, die viel zu früh der Welt übergeben wurden. Kleine und große Auslöser, die sich frei entfalten konnten. Und so weiter und so fort. Ich muß zugeben, mich gewaltig geirrt zu haben." In seiner Hand hielt er plötzlich die kleine Pistole. "Zeit für Schadensbegrenzung!" Mister Drey hielt dem Direktor der Psychiatrie von Lachelle den kurzen Lauf der Pistole an die in Unwürde ergraute Schläfe.
"Sie sind ein Schwein", flüsterte der alte Mann und schloss die Augen.
"So hat mich noch keiner genannt." Mister Drey betätigte den Abzug. Der Knall war ohrenbetäubend, Blut spritzte, und auch Teile von Pinoefs ohne Zweifel auf seine bizarre Art genialem Hirn wurden aus dem Kopf geschleudert, und einige Tropfen und Stückchen erreichten die blasse Haut des Mannes in Schwarz. Pinoef fiel lautlos um, zuckte kurz, und rührte sich nicht mehr. Drey wischte sich Blut und Gehirnstückchen aus dem Gesicht und steckte die Pistole weg. "Idiot!", murmelte er verächtlich, stieg über Pinoefs Leichnam und ging durch die Tür.
Die Puppen hatte Olivier entdeckt. Schaufensterpuppen. Sie lagen aufeinander gestapelt an der Wand, mindestens zweihundert Stück. "Wozu?" Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. "Das ist doch alles absurd! Maurice! Es gab einen Schuß!" Er sah zu Maurice, der auf einem Stuhl Platz genommen hatte, und auf einen Monitor starrte. "Maurice!" Das Poltern kam immer näher. Sie hatten beide gesehen, wie Monitore durch die Luft flogen, Tische und Pilotensessel umkippten. Von irgendetwas wurden sie umkreist. "Maurice!" Und dann entdeckte er die Ursache. "Wahnsinn..."
Jalavere hatte sich von den Zahlen und Buchstaben, die über den Monitor flimmerten, in den Bann ziehen lassen. Aus irgendeinem Grunde hatte er versucht, eine Art System zu erkennen. Fast sein ganzes Leben lang hatte er in einer Zelle gehockt, und nun war er hier, wußte auf manche Fragen eine Antwort, auf viele Dinge aber keine. "Sinnlos!", winkte er ab. Natürlich hatte er das Poltern nicht verdrängt. Und eigentlich überraschte es ihn nicht, als sie plötzlich ein Kreis von schwarzen Spinnen umgab.
"Dutzende!", murmelte Olivier, beugte sich nach vorn und übergab sich.
"Es sind vierundvierzig!" Maurice lächelte gequält.
Olivier wischte sich Erbrochenes vom Mund. "Warum? Was hat das alles zu bedeuten?"
Die Spinnen zuckten mit den Hinterleibern, sie gaben unheimliche Geräusche von sich, bewegten ihre Vorderbeine, und ihre großen kalten Augen verhießen qualvollen Tod für jeden, der ihnen über den Weg lief. Doch sie griffen nicht an, noch hinderte sie etwas daran.
"Als ob sie auf irgendwas warten", sagte Olivier und sah sich suchend um. "Hier muß es doch etwas geben, womit wir sie aufhalten können! Maurice! Hilf mir!"
Müde schaute Jalavere zu seinem Freund. "Wir haben so oder so keine Chance..."
"Das haben Sie in der Tat nicht", sagte jemand hinter ihnen. Maurice und Olivier drehten sich erschrocken um, während die Spinnen ein unheimliches Zischen von sich gaben und davonstoben. Vor ihnen stand ein großer, dünner Mann, der schwarze Sachen trug, in seiner knöchrigen Hand eine kleine Pistole hielt, und eine Sonnenbrille aufhatte, die im harten Kontrast zu seinem blassen Gesicht stand. Der Mann nickte Maurice und Olivier zu. "Eigentlich dürften sie überhaupt nicht hier sein."
Erleichtert hatte Olivier das Verschwinden der unheimlichen Spinnen registriert, aber gleichzeitig hatte sich in ihm eine neue Furcht gebildet. "Wer sind Sie?", fragte er und griff nach Maurice, der einfach nur mit offenem Mund dastand und den Mann anstarrte.
"Eine berechtigte Frage, aber völlig unbedeutend. Es ist nicht wichtig, mich zu kennen, oder über das Bescheid zu wissen, was ich mache. Wichtig ist nur, dass es ein großes Scheitern in einer Sache gab, der ich äußerst..." Der Mann hielt inne und legte den Kopf etwas quer. "Nun...", fuhr er schließlich fort. "Am Anfang war es vielversprechend, äußerst... vielversprechend..." Er steckte die Pistole weg und zog einen Stuhl zu sich heran. "Setzen wir uns doch", sagte er mit einem breiten Grinsen.
Wie aus einem Traum erwacht, schnappte Maurice nach Luft. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er ging einen Schritt zurück, stolperte über einen kleinen Absatz im Boden und fiel schmerzhaft hin.
"Geben Sie Acht auf sich!" Das Grinsen des Mannes verwandelte sich in ein hämisches Lachen.
"Maurice!" Olivier half seinem Freund beim Aufstehen. Jalavere wankte und zitterte am ganzen Körper, so dass er ihn stützen mußte. "Warum sind wir hier?", keuchte er angestrengt. Schließlich schaffte es Rascal, seinen Freund auf einen Stuhl zu setzen. Erschöpft hockte er sich auf den kalten Boden. "Dafür muß es einen Grund geben!"
"Natürlich!", erwiederte der Mann. "Es gibt immer Gründe. Am Anfang eines jeden Experiments steht die Idee. Am Anfang existiert immer der Glaube, dass etwas funktionieren könnte."
"Dann..." Maurice hustete und spuckte dicken Schleim aus. "Dann sind wir nur ein Experiment?" Er schüttelte schwach den Kopf und winkte resigniert ab.
Der Mann beugte sich vor und nahm die Sonnenbrille ab. "Ein vielversprechendes, wichtiges Experiment!"
'Er hat keine Augen!', dachte Olivier entsetzt und rutschte etwas nach hinten. "Was zum..." Er sah zu Maurice, dem diese Tatsache wohl nichts ausmachte. Stattdessen lächelte er sogar. "Maurice?"
"Ich kenne Ihr Gesicht...", flüsterte Jalavere. "Aus meinen Träumen."
"Das kann durchaus möglich sein." Der Mann nickte und setzte sich die Sonnenbrille wieder auf.
Rascal packte Jalaveres Hand. "Wovon spricht der Mann?" Doch Maurice blieb stumm, lächelte nur hintergründig und wischte sich Schweißtropfen aus dem Gesicht. "Maurice!"
"Am Anfang stand die Idee, dass es Menschen gibt, die andere beeinflussen können, müssen Sie wissen." Aus seinem Mantel holte der Mann die Pistole hervor und legte sich neben sich auf die Tischplatte. "Es gab also diese Idee. Kluge Köpfe sponnen sie weiter. Wenn es also Menschen gibt, die andere beeinflussen können, dann kommt es natürlich auf das Wie an. Nun, wie könnte dieses Wie aussehen? Am einfachsten wäre es, jemanden direkt anzusprechen, ihm Befehle zu erteilen. Das kennen wir bereits. Bestes Beispiel ist das Militär, wo es eine direkte Befehlskette gibt. Aber das ist den klugen Köpfen natürlich zu einfach. Also muß man es verkomplizieren. Und je komplexer eine Sache wird, umso interessanter wird sie!" Eine kleine, schwarze Spinne krabbelte über den Tisch. Der Mann schnipste sie weg. "Man kommt auf die Idee, Auslöser zu benützen."
Olivier schüttelte den Kopf. "Auslöser?"
"Dinge, die eine Reaktion verursachen. Man zeigt einem Kind die Überreste seines geliebten Haustieres. Was passiert?"
Um sie herum krabbelten im Verborgenen die Spinnen. Sie nicht zu hören, war unmöglich. Olivier runzelte die Stirn. "Es fängt an zu weinen und zu schreien."
Der Mann lächelte. "Tja, Auslöser... Ursache und Wirkung. Unsere klugen Köpfe ersinnen also eine faszinierende Idee. Auf der einen Seite die Beeinflussung von Menschen durch Menschen. Auf der anderen Seite die Auslöser, die Menschen dazu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun wollen. Zugegeben, dass alles gibt es schon seit Jahrhunderten. Und hier kommen wir nun auf das Wie, meine Herren. Man experimentiert also mit zwei Neugeborenen, ohne das Wissen der Eltern. Man fängt an, Versuche an tropischen Spinnen zu unternehmen. Schließlich werden die Neugeborenen an die Eltern zurückgegeben, natürlich mit einem Plan! Der eine..." Der Mann nickte Olivier freundlich zu. "Sie, mein Lieber, leben das Leben eines glücklichen Kindes. Der andere..." Er deutete auf Maurice, dem Speichel das Kinn herablief. "Den anderen bringen unglückliche Ereignisse in eine Psychiatrie."
Olivier entdeckte eine Holzlatte, vielleicht vier Meter entfernt. 'Verdammtes Schwein!' Er räusperte sich. "Ich verstehe noch immer nicht." Er stand auf.
"Hm..." Der Mann lehnte sich zurück. "Es ist in der Tat schwierig zu erklären. Lassen Sie mich es kurz und bündig zusammenfassen. Sie beide, Olivier Rascal und Maurice Jalavere, Sie beide sollten diese Menschen sein, die andere beeinflussen, auf subtile Art und Weise. Und die Spinnen sind die Auslöser. Jalavere hat die Gabe, in das Innere eines Menschen zu sehen, seine Seele zu erkunden. Er ist der Denker. Und Sie, Olivier, Sie sind derjenige, der handelt. Denken und Handeln. Sie sollten die Spinnen kontrollieren, die wiederrum bei den Menschen besagte Reaktionen auslösen."
Rascal winkte verächtlich ab. "Das ist Blödsinn!"
"Warum?", fragte der Mann. "Sie sind doch hier, nicht wahr? Zusammen mit Ihrem Freund."
Besorgt fühlte Olivier Jalaveres Stirn. Sie war glühend heiß. "Maurice?" Er schielte zu der Holzlatte. Wenn es ihm gelingen könnte, sie zu... Ein ohrenbetäubender Knall ließ ihn zusammenzucken. Maurice rutschte vom Stuhl und blieb auf dem Bauch liegen, den Kopf unnatürlich zur Seite gedreht. Seine Augen waren offen. Eine Blutlache bildete sich. "Maurice!", schrie Olivier. Wütend sah er zu dem Mann, der die Pistole zurück auf den Tisch legte.
"Setzen Sie sich!", befahl der Mann. "Vergessen Sie die Holzlatte!"
"Du Mistkerl!", zischte Olivier.
"Setzen Sie sich!" Rascal setzte sich, der Mann war zufrieden. "Das ist schon besser. Sie wissen natürlich, dass auch Sie sterben werden. So wie Ihr Freund da..." Rascal begann zu weinen. Der Mann stand auf. "Im Grunde genommen können Sie ja nichts dafür. Der Versuch ist gründlich mißlungen! Mein aufrichtiges Beileid, Olivier."
"Eine Frage noch..." Schnaufend holte Rascal tief Luft. "Warum? Warum wir?"
"Nun..." Der Mann zuckte mit den Schultern. "Warum nicht?" Er nahm die Pistole und schoss Olivier Rascal zweimal in die Brust. Von einem Moment zum nächsten kamen die Spinnen wieder zum Vorschein und fielen über die beiden toten Männer her. "Eure Henkersmahlzeit..." Mister Drey sah sich noch einmal um. Er mußte zugeben, dass die Anlage bemerkenswert war. Sie zu zerstören war bedauerlich. "Aber anders geht es leider nicht."
Fünf Minuten später erreichte Mister Drey die Stelle, an der er Jean Pinoef erschossen hatte. "Leben Sie wohl, mein alter Freund!" Laut lachend lief Drey davon. Zahlreiche Spinnen bedeckten den Leichnam Pinoefs.
-
Epilog
Mister Drey stand auf der kleinen Anhöhe, am Rande der Ebene. Er scharrte mit den Füßen im grauen Sand. In weiter Ferne stand die Kapelle von Raspienne. Auf keiner Landkarte der Welt war dieser Ort verzeichnet. Raspienne war Niemandsland, mit dem Wohlwollen der Regierung. "Also dann!" Mister Drey lief die Anhöhe hinab. Der schwarze Rolls Royce wartete bereits. "Zum Pariser Flughafen!", wies er den Fahrer an, als er eingestiegen war. Am Himmel verdunkelten sich die Wolken. Als der Fahrer den Wagen beschleunigte, drehte sich Drey um und sah, wie eine schmale, dennoch gewaltig wirkende Windhose sich vom Himmel herabschlängelte. Kurz darauf wurden kleine, dunkle Dinge in die Luft geschleudert. "Das also war die Kapelle von Raspienne", murmelte Mister Drey. Dann entdeckte er einen kleinen, bunten Vogel. "Oh... Euch hatte ich ja vollkommen vergessen. Ihr seid ja auch noch da..." Der Vogel schien etwas im Schnabel zu haben, aber er war zu weit entfernt. "Vielleicht ein Wurm?" Mister Drey nahm die Sonnebrille ab und warf diese nach hinten auf die Ablage. "Daniel?"
Der Fahrer sah in den Rückspiegel. "Ja?"
"Falls es Nebel geben wird... Kümmern Sie sich nicht darum, behalten Sie die Geschwindigkeit einfach bei!"
"Wie Sie wünschen, Mister Drey." Der Fahrer nickte und lenkte den Wagen auf eine befestigte Straße und beschleunigte. Bis nach Paris dauerte es nicht lang.
Tatsächlich kam Nebel auf, und rasch war der schwarze Rolls Royce darin verschwunden.
ENDE
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23.12.03 – 23.02.04