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Auslöschung
Hämmer, Zangen, Schraubenzieher. Alle diese Dinge sind aus den Vorratsschränken der Werkstatt verschwunden. Befinden sich versteckt unter Matratzen. Verbergen sich in Gürteln oder stecken griffbereit in den Taschen unserer Kittel. Ich versuche mein Glück in der Küche. Doch in den herausgerissenen Schubladen liegen nur noch ein paar Löffel. Selbst die Buttermesser haben sie mitgenommen.
Sie nennen uns Verräter. Wir sie Wahnsinnige. Sie haben recht. Doch wir sind zahlreicher. Simple Mathematik.
Nach Monaten der Anstrengungen und Entbehrungen gelang uns der entscheidende Durchbruch. Ich habe noch vor Augen, wie wir im Hauptraum der Anlage zusammengesessen und auf den großen Bildschirm gestarrt haben. Wie wir die Berechnungen beobachteten, die sich vor unseren fassungslosen Augen abspielten. Es war ein unbeschreiblicher Triumph. Das simulierte Ergebnis, das sich durch eine Unmenge an Zahlen und Balken vor uns manifestierte, überstieg alle unsere Erwartungen. Wir sahen zum ersten Mal, was wir erschaffen hatten. Doch mit jeder weiteren automatisierten Berechnung verwandelten sich die Früchte unserer Arbeit mehr und mehr in ein Abbild des Schreckens. Das euphorische Lachen im Angesicht unseres Erfolges, die ausgelassene Stimmung. All das brach innerhalb weniger Minuten in sich zusammen. Dann herrschte Schweigen.
„Wir müssen das vernichten.“
Ich weiß nicht, wer zuerst mit zittriger Stimme aussprach, was viele dachten, aber mehrfaches Nicken unterstrich, dass die meisten derselben Meinung waren. Nichts von all dem sollte nach außen dringen. Jede kleinste Aufzeichnung unserer Arbeit sollte vernichtet und jeder Beweis für alle Zeiten aus der Welt geschafft werden, bevor es zu spät war. Einige von uns widersprachen. Ob denn nicht offensichtlich wäre, welch unvergleichliche Möglichkeit sich hier bot? Ob nicht klar wäre, dass hier die endgültige Antwort auf alle kriegerischen Konflikte der Gegenwart und Zukunft läge? Wer sollte es im Angesicht dieser Errungenschaft überhaupt noch wagen, die Waffen gegen uns zu erheben? Der Schlüssel zu einem dauerhaften und anhaltenden Frieden war zum Greifen nahe und wir nun zu ängstlich, diese historische Chance zu ergreifen? Ein Irrsinn. Schlimmer noch, ein unverzeihlicher Verrat.
Kollege Hehner drehte sich zu mir, während die Wortgefechte um uns an Intensität zunahmen. Mit leiser Stimme erklärte er, dass es nicht ausreichen würde, alleine die Aufzeichnungen unserer Forschung zu vernichten. Nach einem kurzen Augenblick fuhr er fort, dass wir schließlich allesamt mit den Details unserer Arbeit vertraut waren. Sein Blick streifte diejenigen, die sich vehement dagegen aussprachen, unsere Arbeit zu verleugnen. Mehr sagte er nicht.
Bereits in dieser Nacht verschwand alles, was scharf, spitz oder schwer war aus den Schränken und Schubladen und Hehner sowie einige andere besetzten die Kommandozentrale und kappten alle Kommunikationsverbindungen nach außen.
Chopin, Vivaldi, Schostakowitsch. Seit Tagen hallen sie aus den Lautsprechern der Aufenthaltsräume im Westteil der Anlage. Selbst in den Gängen sind sie noch zu hören. Hehners akustische Kriegsführung. Wenn sich der Feind verschanzt, treib ihn aus seinem Versteck. Im Irak benutzten sie dafür Rockmusik. Unsere klangliche Begleitung zum Untergang kommt klassischer daher. Der Effekt ist derselbe.
Die Musik kann das Wummern der schweren Maschinen nicht gänzlich überdecken. Ich denke, dass sie die Tore der Anlage bald aufbrechen. Nachdem die Funkverbindung zu uns ausfiel, wurden sie misstrauisch. Nachdem sie bemerkten, dass die Öffnungsmechanismen der Anlage sabotiert worden waren, setzte das Wummern ein. Vielleicht dauert es noch einen Tag. Vielleicht zwei.
Angespannt schleiche ich durch die dunklen Gänge. Die allermeisten Glühbirnen sind herausgedreht oder zerschlagen. Ob von uns oder den anderen? Letztendlich macht es keinen Unterschied. Die Musik, das Wummern, vereinzelte Schreie. Es ist nur noch ein Rauschen. So dumpf wie alles andere. Meine Nase läuft, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Unentwegt tropft es auf meinen Kittel. Drogen waren von Beginn an Teil unseres Alltags hier unten. Unser Arbeitspensum wäre anders gar nicht zu schaffen gewesen. In den letzten Tagen habe ich die Dosis noch einmal drastisch erhöht. Wie wir alle. Ich biege um eine Ecke und betrete den Waschraum.
„Halt dich fern von mir, du verräterischer Hundesohn!“
Alexander Depieu versucht auf den Kacheln vor mir davonzukriechen. Dabei beschmiert er alles mit seinem Blut. Wegen der abgebrochenen Zähne verstehe ich nur einen Bruchteil von dem, was er hervorstößt. Ich habe ihn immer respektiert. Mochte seine höflich-distanzierte Art und bewunderte ihn für seine fachliche Brillanz. Aber jetzt scheint er das große Ganze aus den Augen verloren zu haben. Einst eine seiner unumstrittenen Stärken. Hat nichts Besseres zu tun, als Vulgaritäten von sich zu geben. So kurz vor, … so oder so, ich kann das nicht stehen lassen. Ich gehe einige Schritte auf ihn zu und gerade als ich mich zu ihm hinunterbeugen möchte, betritt Hehner den Raum. Mit drei schnellen Schritten ist er bei uns, holt aus und schlägt mit einem Rohr zu. Ein mal. Zwei mal. Ich wende mich ab.
„War er der letzte?“ Mit Blutspritzern im Gesicht schaut Hehner mich fragend an.
Meine Hand in der Tasche befühlt den Griff eines Schraubenziehers. Ich beuge mich zu ihm.
„Nein“, sage ich.
Wir waren Frauen und Männer der Wissenschaft, keine Kämpfer, keine Mörder. Aber die Ausweglosigkeit der Situation ließ uns keine andere Wahl. Und die Drogen halfen. Dabei, dass wir in den Gängen und Laborräumen wie die Tiere aufeinander losgingen. Wir lauerten uns in den Schlafräumen auf, schlugen Schädel zu Brei und stachen mit allem, was wir in die Finger bekamen, erbarmungslos aufeinander ein.
Schnell wurde klar, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Die anderen wehrten sich mit dem Mut der Verzweifelten. Für jeden von ihnen erwischten sie mindestens zwei von uns. Ich war mir meiner Sache sicher gewesen. Hatte geglaubt, den sicheren Weg, die richtige Seite gewählt zu haben. Überleben durch Überzahl. Simple Mathematik. Am Ende hat es kaum einen Unterschied gemacht. Hehner und ich sind die Letzten.
Er liegt auf dem Boden und schaut mich aus verzweifelten Augen an. Er versucht etwas zu sagen, aber aus seinem Mund kommen nur blutige Blasen. Ich betrachte ihn. Sein Anblick macht mich traurig. Was für eine Verschwendung. Ich schüttele den Kopf und werfe den Schraubenzieher in eine Ecke.
„Wie konntet ihr alle nur einen solchen Verrat in Erwägung ziehen?“
Ich greife in meine Tasche und hole einen Datenträger hervor. Schon vor Monaten hatte ich damit begonnen, heimlich Kopien unserer Arbeit anzufertigen.
„Es wird nie wieder einen Krieg geben. Nicht, nachdem wir der Welt gezeigt haben, wozu wir von nun an in der Lage sind.“
Ich stecke den Datenträger zurück in meine Tasche. Hehner spuckt, hustet und hört schließlich auf zu atmen. Ich drehe mich um und gehe dem Wummern der Maschinen entgegen.