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Ausgedient
7 Uhr 20 schon, scheiße, zehn Minuten bis zum Bus. Ich schmeiße mir schnell noch mein Jackett über die Schulter, halte beim Öffnen der Tür drei Sekunden lang inne und richte mir nochmal meine Krawatte im Spiegel daneben, dann raus, Tür ins Schloss, kurz bemerken, dass es eigentlich zu warm ist für ein Jackett, es trotzdem anziehen, da das besser ist, als es in der Hand zu halten, denken, dass das doch nicht das Richtige für mich ist, jeden Morgen ein Bus, der um 7 Uhr 30 fährt und den ich nicht verpassen darf, das passt doch nicht zu meiner Natur, ich war schon immer ein Langschläfer verdammt, aber wenn man aufs Ausschlafen nicht verzichten will, ist es halt nicht so leicht, 'nen anständigen Job zu bekommen und irgendwie will ich dann doch lieber später mal meine Familie ordentlich ernähren können, das ist doch wichtiger als auszuschlafen, das ist ja auch ein Ziel im Leben, und was hätte ich davon, wenn ich zwar ausschlafen könnte, dafür aber meine Ziele aufgeben müsste? Und was macht dieses ganze Gerümpel eigentlich in deren Garten? Sogar ein Sofa steht da. Egal. Ich kenne die ja nicht mal richtig, von ein paar kurzen oberflächlichen Wortwechseln hier und da mal abgesehen. Anonymität der Kleinstadt. Eigentlich noch desolater als in der Großstadt. Dort kennt man zwar auch seinen Nachbarn nicht, aber man sieht zumindest Leute auf der Straße. Vielleicht sollte ich doch nochmal in 'ne echte Stadt ziehen. Erstmal jedenfalls sollte ich mich besser beeilen. Werd' schon nicht gleich alles durchschwitzen. 7 Uhr 27. 28. 29. Da ist er. Und wieder mal geschafft. Jeden Morgen die gleiche Ausnahmeleistung. Und ihr haltet das für selbstverständlich...
17:17 Uhr. Tatsächlich mal pünktlich zurück. Ach, Mist, ich hätte mir unterwegs was zu Essen mitnehmen sollen. Jetzt muss ich schauen, was ich zuhause finde. Hab jedenfalls keine Lust, noch irgendwas zu kochen... Wieso stellen die hier jetzt auch noch Möbel in den Garten? Ach, jetzt weiß ich, bei uns in der Straße wird wohl morgen der Sperrmüll abgeholt. Und meine Nachbarn hatten ihren anscheinend schon eine Nacht zu früh rausgestellt. Als ich bei denen vorbeilaufe, sitzt auf dem Sofa, das heute früh schon vor ihrem Haus stand, ein alter Mann. Ich kenne ihn. Er ist das älteste Mitglied des Drei-Generationen-Haushalts. Zumindest so viel hab ich schon mal von den Verhältnissen nebenan mitbekommen. Ich habe mich schon mal gefragt, ob er nicht in einem Altersheim besser aufgehoben wäre, da seine Kinder und Enkel offensichtlich ebenfalls berufstätig sind beziehungsweise die Schule besuchen und er anscheinend alleinstehend, verwitwet, nehme ich mal an, ist. Ich grüße ihn freundlich. Er hebt kurz seinen Blick, deutet ein Lächeln an und nickt mir zu, woraufhin er seinen Blick wieder gesenkt lässt.
Ich betrete meine Wohnung, hänge mein Jackett auf einen Kleiderhaken, setze mich ins Wohnzimmer, lehne mich zurück und schalte per Fernbedienung meine Stereoanlage an. Schlechte Entscheidung. Ich kann sehr gut unter Stress leben. Ich kann 12, 13, 14 Stunden am Tag unter Druck arbeiten, wenn es mal sein muss, ohne dass ich mir dabei wirklich gestresst vorkomme. Sobald ich dann aber mal durchatme und meine Muskeln locker zu lassen versuche, fühle ich mich wirklich gestresst. Kein bisschen Befriedigung nach einem Tag voll harter Arbeit. Und heute war ein harter Tag. Ich stehe also wieder auf, schalte die Anlage wieder aus und suche nach etwas Essbarem. Die Auswahl ist auch nicht sehr aufheiternd. Ich entscheide mich schließlich für ein paar Spaghetti mit Fertigsoße, die ich lustlos zubereite und lustlos verschlinge.
Anschließend gehe ich vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Eine Angewohnheit, bei der ich mich regelmäßig schlecht fühle und die ich doch nicht ablegen kann. Ich stehe also da und rauche. Es ist immer noch ziemlich warm und es wird wohl noch gut drei Stunden hell bleiben. Ich wünschte, ich würde hier jemanden kennen, mit dem ich mich auf ein Bier verabreden könnte. Aber die Einzigen, die in Frage kämen, wären die Kollegen von der Arbeit, und mit denen fühle ich mich noch nicht persönlich genug verbunden, als dass ich einfach einen von ihnen spontan anrufen könnte, ohne dass dabei eine komische Situation entstünde. Außerdem sehe ich die ja ohnehin schon den ganzen Tag.
Bei meinen Nachbarn fährt ein Auto vor. Die Frau, die wohl die Tochter oder Schwiegertochter des alten Mannes sein muss, der nach wie vor starr vor sich hinblickend auf dem Sofa im Garten sitzt, steigt aus dem Auto aus und geht auf das Haus zu. Sie grüßt mich und den Alten flüchtig. Sie trägt einen beigen Anzug am Körper und eine elegante Ledertasche in der Hand. Karrierefrau. Wie ich. Nur, dass ich ein Mann bin. Ich frage mich, ob es wohl arg verrückt wäre, wenn ich einfach zwei Flaschen Bier holen, mich zu dem alten Mann auf das Sofa setzen und auf unsere Nachbarschaft trinken würde. So als verspäteter Versuch, mich vorzustellen und mich hier einzugliedern. Mit dem Rest seiner Familie will ich ja gar nichts zu tun haben. Die wirken alle doch recht langweilig. Er wirkt zwar auch nicht gerade aufregend, aber zumindest ruhig, und bei ruhigen alten Menschen kommt mir immer der Eindruck von einem selbstgenügsamen, ausgeglichenen und sehr weisen Gemüt. Ich denke mir, dass ich so eine Gesellschaft irgendwie gut gebrauchen könnte. Ich werfe also meine Kippe weg, hole zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank in meiner Wohnung und gehe zu ihm rüber.
„Entschuldigung, Herr...“
Ach, verdammt, ich kenne ja nicht mal den Nachnamen. Dabei hab ich den bestimmt schon ein paar Mal gehört. Egal. Der Mann hebt seinen Kopf und sieht mir fest in die Augen:
„Ja?“
Erst jetzt sehe ich, wie traurig und müde er aussieht. Plötzlich komme ich mir ausgesprochen blöd vor. Aber nur nichts anmerken lassen.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber ich wollte schon lange mal rüberkommen zu ihnen, wissen Sie, mir liegt eigentlich viel an guter Nachbarschaft, nur war ich in den letzten Wochen beruflich Tag und Nacht beschäftigt und da bleibt dann halt nicht viel Zeit für anderes und deswegen wollte ich das jetzt mal nachholen, wo ich mal Zeit habe, und ich Sie hier ja eh schon sitzen sehe.“
Er stützt sich mit beiden Armen ab und hebt sich mühsam vom Sofa, ohne aber den Gehstock zur Hilfe nehmen zu müssen, der neben ihm am Sofa lehnt. So stellt er sich vor mir auf und streckt seine Hand aus.
„Richard.“, sagt er, mit einem Lächeln, das es trotz seiner Ehrlichkeit nicht schafft, die Traurigkeit aus seinen Augen zu nehmen.
„Jonas“, antworte ich ebenfalls lächelnd und schüttle ihm die Hand. Er geht anscheinend davon aus, dass wir beider Nachnamen bereits kennen. Na ja, dann hat er meinen Hänger zu Beginn zumindest nicht bemerkt.
„Setz dich.“ sagt er und deutet auf das alte Sofa.
„Ich weiß, es ist schon recht abgenutzt und an manchen Stellen sieht man schon das Futter durch, aber ich war noch nie so bequem im Garten gesessen.“ Ich setze mich und lehne mich zurück. Es fühlt sich tatsächlich komfortabel an.
„Kann ich Ihnen ein Bier anbieten? Ich hatte noch zwei im Kühlschrank und dachte, vielleicht könnte ich Sie für eines begeistern.“
„Ja, ich nehme gerne eins. Bei der Gelegenheit kannst du ja dann auch gleich mal das 'Sie' weglassen.“
„Okay, alles klar.“, antworte ich lachend. Ich gebe ihm das Bier, wobei mir einfällt, dass ich keinen Flaschenöffner dabei habe. Ich will ihm gerade anbieten, seine Flasche mit meinem Feuerzeug zu öffnen, da führt er den Flaschenhals zum Mund, beißt fest auf dessen Ende, zieht die Augen etwas angestrengt zusammen und – zisch – spuckt den Kronkorken vor sich ins Gras.
„Nicht übel.“, bemerke ich, als ich meine eigene Flasche mit meinem Feuerzeug öffne.
„Ja, seitdem meine Frau nicht mehr da ist, um auf mich aufzupassen, kann ich das wieder ungestört machen.“ Er setzt ein nachdenkliches Lächeln auf. Wir stoßen an und trinken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wende also meinen Blick von ihm ab und sehe nach vorn auf die Straße.
Schließlich sagt er: „Du fragst dich bestimmt, warum ich hier draußen auf dem alten Sofa sitze. Sieht ja schon ein bisschen komisch aus, nicht?“
„Ja, das habe ich mich zugegebenermaßen schon gefragt. Aber jetzt merk ich ja selbst, wie bequem es ist.“, antworte ich in einem Versuch, humorvoll zu wirken.
„Ja, eigentlich ein Wunder, dass man noch drauf sitzen kann. Auf ihr ist viel gelebt worden. Hierauf saß ich schon mit vielen Leuten. Vor allem natürlich mit meiner Frau. Na ja. Jetzt sitz nur noch ich darauf und versuche mich mit seiner Hilfe zu erinnern. Die Erinnerungen, die es für mich trägt, sozusagen auf mich zu übertragen, da es ja bald nicht mehr da sein wird, um sie mit mir zu teilen.“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Bier. Ich tue es ihm gleich.
Plötzlich lacht er auf:
„Das muss nach einem ganz schön sentimentalen Quatsch klingen, was ich dir hier erzähle.“
„Nein, ich kann das schon verstehen. Ich habe auch erst kürzlich, als ich hierher gezogen bin, gemerkt, wie manche Gegenstände eine Bedeutung für einen selbst entwickelt haben. Und wie man das erst dann bemerkt, wenn man sich von ihnen trennen will.“
„Na ja, trennen will ich mich ja eigentlich nicht. Aber meine Tochter besteht darauf, dass das Ding wegkommt. Von wegen, wenn mal Besuch kommt und dass die Leute ja denken würden, sie würden mich verwahrlosen lassen. Wie die Frauen halt so sind. Hat mir auch schon 'ne neue gekauft. Scheußliches Ding. Keinerlei Klasse. Und hält bestimmt keine fünf Jahre. Die hier hat 30 gehalten! Aber ich habe keine Lust, zu streiten, und so tue ich ihr den Gefallen.“ Er nimmt eine Dose Schnupftabak aus seiner Hemdtasche und klopft einen kleinen Hügel auf seinen linken Handrücken. Er hält mir die Dose mit hochgezogenen Augenbrauen hin.
„Nein, danke. Schon schlimm genug, das Zeug qualmen zu müssen.“
„Ja, so lange man es muss kann es sehr unangenehm sein. Schön wird es erst wieder, wenn man es nicht mal mehr darf.“ Ich lache und zünde mir selbst eine Zigarette an.
Ich rauche und wir schweigen und trinken. Nach einer Weile fragt er:
„Arbeitest du hier in der Stadt?“
„Ja, ich arbeite am anderen Ende bei der Hesse & Co. im Management. Es ist momentan recht stressig, aber das ist ja wohl eher ein gutes Zeichen für die Firma.“
„Ah, ja, sicher. Ich habe selbst mal ein kleines Unternehmen geleitet, eine Schreinerei. Wir waren aber nur ein Vier-Mann-Betrieb und ich war daher die meiste Zeit selbst eher Arbeiter als Manager. War aber auch alles nicht gerade stressfrei. Der Betrieb, die Familie, na ja, du weißt schon. Aber im Nachhinein habe ich fast nur schöne Erinnerungen. Ja, ich denke gern zurück. Denke gern zurück an Zeiten, in denen man kaum Zeit mit Zurückdenken verbracht hat.“ Er blickt gedankenverloren vor sich hin. „Mit 20, 30, da hatte man ja kaum Zeit irgendwo anders als in der Gegenwart zu leben. Und als sich dann alles etwas gesetzt hat und die Kinder langsam auf eigenen Beinen standen, hat man sich schon auf die Rente gefreut.“
Er trinkt den letzten Schluck seines Bieres aus und blickt auf die Uhr.
„So, es wird Zeit für meinen Abendspaziergang bevor es Essen gibt. Damit ich überhaupt noch was Sinnvolles mache heute. Hast du Lust, dich mir anzuschließen?“
„Ja, gern. Ich habe mir für heute Abend eh nichts vorgenommen.“
Ich trinke ebenfalls mein Bier aus und stehe auf. Er braucht etwas länger mit dem Aufstehen als ich und ich überlege, ob ich ihm wohl helfen soll, lasse es dann aber doch lieber, da ich mir denke, dass es ihm vielleicht unangenehm wäre.
„Ja, das mit dem Aufstehen geht etwas schwerfällig, aber keine Angst, laufen kann ich noch ganz gut.“, sagt er schmunzelnd. Er nimmt seinen Gehstock und wir laufen den Gehsteig entlang ohne viel zu reden. Richard läuft etwas vornübergebeugt, auf seinen Stock gestützt, und scheint irgendwelchen Gedanken nachzuhängen und außerdem noch darauf konzentriert, Schritt für Schritt sicher zu bewältigen, obwohl ich tatsächlich kaum mein normales Gehtempo abbremsen muss, um mit ihm gleichauf zu bleiben. Trotz des sommerlichen Wetters wirkt alles wie ausgestorben. Ich merke plötzlich, dass ich während des Gespräches tatsächlich einen großen Teil meiner körperlichen und geistigen Anspannung losgelassen habe. Dafür spüre ich umso mehr die Melancholie, die in dieser ruhigen Straße und in den menschenleeren Gärten liegt und durch die wir schreiten.
Nach einiger Zeit kommen wir zu einem alten Gasthof, der mir schon öfters aufgefallen ist, da er schon lange leer zu stehen scheint und, wohl aufgrund seiner Baufälligkeit, abgesperrt ist. Er hat einen verdreckten weißen Anstrich, altmodische Türen und Fenster, von denen einige eingeschlagen sind, und in verschnörkelten Buchstaben „Zum alten Friedrich“ über der Tür stehen. Daneben hängt das Schild einer Biermarke, die ich noch nie gehört oder gesehen habe. Neben der Eingangstür stehen einsam zwei alte Plastikstühle und um das Haus herum wuchern hohes Gras und Sträucher. Richard bleibt stehen, legt seine rechte Hand in den Rücken und streckt diesen mühsam durch.
„So, das ist das Ende des Weges für mich. Wenn wir hier nicht umkehren, muss ich heute Nacht wohl unter freiem Himmel schlafen.“
Ich frage ihn, ob er weiß, wie lange das Gasthaus schon geschlossen hat.
„Oh, das müssten mittlerweile schon gut 15 Jahre sein. Ein Wunder, dass das überhaupt noch da steht. Ist auch so ein Erinnerungsstück. Man kann sich das ja jetzt gar nicht mehr vorstellen, aber früher, da war in unserem Viertel mal richtig was los, da konnte man sich jeden Abend mit den anderen hier treffen und plaudern und ein paar trinken. Schade, dass es hier sowas nicht mehr gibt.“
Er dreht sich um und beginnt zurückzulaufen.
„Ja, es wäre schön, wenn es hier was gäbe, das man zu Fuß erreichen kann und wo man sich abends mal mit anderen Leuten treffen kann.“
„Ja“, antwortet er. „Weißt du, ehrlich gesagt hätte ich mir gar nicht vorstellen können, wie das Leben ohne sowas hier gewesen wäre. Wenn's in der Arbeit gerade mal wieder zu viel Stress gab und man auch zuhause nicht abschalten konnte, dann konnte man das hier, und wie gut man das konnte. Und die Leute, die man hier oft traf, das hättest du sehen müssen, sowas gibt’s heute nicht mehr. Echte Originale.“
Er lacht in sich hinein.
„Aber die meisten davon gibt’s nicht mehr. Und die, die's noch gibt, seh ich nur sehr selten. Sitzen jetzt wohl auch lieber vor dem Fernseher. Wer viel Glück hat, sogar noch zu zweit.“
Wir laufen weiter zurück und ich stelle mir vor, wie es wohl früher hier gewesen war, wie es hier ausgesehen und wie er ausgesehen hat und wie es sich angehört hat, als das Viertel noch nicht von so viel Stille durchdrungen war.