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Ausgebrochen
In einem Traum aus weißer Seide und Brüsseler Spitze stand sie vor dem Altar. Hinter ihrem Rücken hörte sie das aufgeregte Getuschel der Gäste. Neben ihr stand Stewart. Selbstbewusst und perfekt gekleidet wie immer. Sie hasste ihn. Am liebsten hätte sie ihm ihren Brautstrauß ins Gesicht geworfen, doch dazu war sie nicht imstande. Sie wartete nur zitternd auf die Frage, die ihr ganzes Leben verändern sollte. „Willst du, Jane Campbell, Stewart McDuff zu deinem Ehemann nehmen?“ Jane öffnete den Mund doch kein Ton drang heraus. Sie wandte sich der Gemeinde zu, erhoffte Hilfe von ihr. Doch ihr Blick fiel nur auf ihren Vater, der sie streng wie immer ansah und auf ihre Mutter, deren Lippen lautlos die Worte „Ja, ich will“ formten. Das alles war zufiel. Jane taumelte und versuchte sich an Stewart festzuhalten, doch ihre Hände griffen ins Leere. So stürzte sie mit einem Poltern zu Boden...
Verwirrt richtete Jane sich auf. Die Kirche, die Gemeinde, Stewart, ihre Eltern, alle waren verschwunden. Sie lag auf dem Boden in ihrem Zimmer. Neben ihr stand ihr Himmelbett mit dem dunklen Baldachin darüber. Sie setzte sich auf das Bett und schauderte bei dem Gedanken an ihren Traum. In wenigen Stunden würde sich dieser erfüllen. Sie würde Stewart heiraten müssen. Ihr Blick fiel auf das elegante weiße Kleid, das sie nachher tragen würde. Es hing an ihrem Schrank und ließ sie unwillkürlich an ein Totenhemd denken. Nur mühsam gelang es ihr den Blick abzuwenden. Sie lehnte sich zurück und besah sich den Baldachin. Ihr altes Kindermädchen Agnes hatte ihr vor Jahren Sterne und einen Mond draufgestickt. Jane hatte den Sternenhimmel immer geliebt. Doch jetzt machte er ihr Angst. Bald würden die Sterne und der Mond verschwinden, die Sonne würde aufgehen. Sie würde Stewart heiraten müssen. Rasch stand sie auf und ging zu dem kleinen Erker. Sie sah nach draußen. Noch war es tiefste Nacht. Noch war sie frei. Mit leichter Gewalt zog Jane einen Fensterflügel auf. Das leises Quietschen jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Eine Sturmböe riss ihr den Flügel aus der Hand und ließ ihn krachend gegen die Wand schlagen. Jane liebte die Herbststürme. Dann wanderte sie am liebsten durchs Moor und besah sich den Himmel, der dann so lebendig wirkte. Draußen schrie ein Käuzchen. Und der Sturm tobte unverändert ums Schloss. Fröstelnd schloss sie das Fenster. Sie sah sich in ihrem Zimmer um, das die Ausmaße eines Tanzsaals hatte. Dies war ihre letzte Nacht hier. Schon morgen Abend würde sie sich auf Burg Lochiel zur Ruhe legen. Mit ihm. Ihrem Mann. Stewart. Ihr war, als höre sie seine Stimme. Seine kalte und strenge Stimme, die der ihres Vaters ähnelte. Als sie an ihren Vater dachte bildete sich ein Kloß in Janes Kehle. Er war es, der diese Heirat arrangiert hatte. Obwohl sie Stewart nicht liebte. Doch das war egal. Ein Mädchen aus gutem Hause brauchte auch einen standesgemäßen Mann. Und das war Stewart. Stewart, der sich mit banalen Floskeln bei ihrem Vater eingeschmeichelt hatte. Der ihre Mutter hofiert hatte. Der die besten Manieren und das größte Vermögen im Umkreis von hundert Meilen hatte. Doch Jane empfand nichts als Hass für ihn. Sie hatte immer gehofft, dass sie eines Tages einen Mann heiraten könne, der lieb, zärtlich und verständnisvoll war. Ein Mann, der anders war als ihr Vater. Doch sie musste Stewart heiraten, der im Prinzip ihr Vater war, nur jünger. Ihre Mutter war auch nicht besser. Jane hatte sie angefleht ihren Vater zu überzeugen, dass Stewart nicht der Richtige für sie wäre. Doch ihre Mutter war aufgeregt wie ein Schulmädchen gewesen und hatte mit glänzenden Augen von Stewarts Geld geredet. Als ob sie nicht vermögend genug wären. Draußen färbte sich der Himmel bereits blassrosa. Es würde nicht mehr lange dauern und ihre Mutter würde ins Zimmer stürmen und ihr beim ankleiden helfen. Sie würde fröhlich über die bevorstehende Heirat plaudern, dabei wusste sie, dass Jane Stewart nicht heiraten wollte. Zumindest sollte sie es wissen. Schließlich hatte sie genug Andeutungen gemacht. Aber wie sollte ihre Mutter sie auch verstehen, sie kannte sie ja kaum. Soweit sie sich entsinnen konnte hatte sie bei Problemen immer mit Agnes geredet. Agnes hatte sie verstanden. Sie war die Mutter für Jane gewesen, die ihre leibliche Mutter nie war. Wenn sie richtig in sich reinhorchte, bemerkte sie, dass sie für ihre Mutter gar nichts empfand. Sie war einfach da. Für ihren Vater hingegen hatte sie Gefühle. Hassgefühle. Er hatte es immer verstanden sie zu demütigen und sie zurechtzuweisen. Nie konnte sie es ihm recht machen. Ihre Kindheit war furchtbar!
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Bevor sie überhaupt reagieren konnte stürmte ihre Mutter ins Zimmer. Die langen Haare auf Lockenwickler gedreht und vor Freude überschäumend. Sie musterte ihre Tochter von oben bis unten. „Wer wird denn so traurig gucken? Heute wird geheiratet.“ Sie schob Jane zum Frisiertischchen und machte sich an deren Haaren zu schaffen. „Ich werde sie dir aufdrehen und nachher hübsch hochstecken.“ plauderte sie munter. Jane ließ ihre Mutter reden und sah aus dem Fenster. Ein Schwarm Vögel zog vorbei. So frei wäre sie auch gerne. Doch ihre Mutter ließ ihr keine Zeit ihren Gedanken nachzuhängen. Sie zog sie in die Mitte des Raumes, zog ihr das Nachthemd über den Kopf und steckte sie dann in das Brautkleid. Vor Entzücken traten ihr Tränen in die Augen. „Du bist so schön, Stewart wird begeistert sein.“ Mit verschwörerischer Miene blinzelte sie ihr zu. „Aber lass ihn ruhig heute abend ein wenig zappeln.“ Dann brach sie in Gekicher aus, das sich in Janes Ohren albern anhörte. Als ihre Mutter ihre Haare noch hochgesteckt hatte verließ sie den Raum um sich auch fertig zu machen. Mit ernster Miene besah Jane sich im Spiegel. Tränen traten in ihre Augen. Trotzig wischte sie sie weg. Und dann ging alles furchtbar schnell. Ihr Vater kam und packte sie beinahe grob am Arm. „Los, die Gäste warten.“ sagte er mit barscher Stimme. Ohne weiter auf seine Tochter zu achten zog er sie quer durch das Schloss zur kleine Kapelle, die zum Schloss gehörte und in der die Trauung stattfinden sollte. Er drückte die Tür auf und schleifte seine Tochter regelrecht zum Altar. Dort übergab er sie an Stewart, der schön überheblich grinsend dastand. Und Jane fand sich mitten in ihrem Traum wieder. Sie hatte Angst. Angst vor der Frage. Sie wusste nicht was sie machen sollte. Und in diesem Moment fragte der Pastor die alles entscheidende Frage. Noch bevor er sie beendet hatte schrie Jane ein lautes „Nein“ hinaus. Sie drehte sich um und sah die entsetzten Gesichter der Gäste. Die strenge Stirnfalte im Gesicht ihres Vaters. Die Tränen in den Augen ihrer Mutter. Das alles brannte sich in Bruchteilen einer Sekunde in Janes Gehirn. Bevor irgendjemand handeln konnte rannte sie aus der Kapelle. Sie rannte und rannte. Ihr war egal wohin, nur weg. Bald berührten ihre Füße den sumpfigen Moorboden. Und sie rannte immer weiter...
Stunden später würde sie erschöpft im Wald von einer alten Frau gefunden. Ihr Kleid war zerrissen und sie hatte Ähnlichkeit mit einer Bettlerin. Die alte Frau war so freundlich und nahm sie mit in ihre armselige Behausung mitten im Wald. Und als sie nachts auf einem provisorischen Bett lag, wusste sie, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren konnte.
[Beitrag editiert von: Avallyn2002 am 09.03.2002 um 18:32]