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Ausflug ans Meer
Das Meer brandete gegen den Strand und erzeugte dabei ein Geräusch, das Ralf an Millionen von Glasmurmeln in der Hand eines Riesen denken ließ. Eine kräftige Brise mit dem Geruch von Seetang und Fisch blies in sein Gesicht. Er wandte sich zu seiner Begleiterin um.
„Wir sind da.“
Karen schwieg natürlich. Sie saß regungslos in ihrem Rollstuhl. Der Wind spielte mit ihrem langen, brünetten Haar. Wie stolz sie darauf gewesen war.
Aphrodite, dachte Ralf.
Ihr Blick war ausdruckslos und leer wie der einer alten römischen Götterstatue.
„Ich seh' mich mal im Dorf um“, sagte er zu ihr und stapfte los. Sie sagte nichts.
Es war noch früh am Nachmittag, und Ralf genoss die Frühlingssonne auf seiner Haut, während er den Strand entlang marschierte. Es sah noch fast genauso aus wie in ihrem Urlaub, nur menschenleer. Während er marschierte, versteckte sich die Sonne hinter grauen Wolken und ein leichtes Nieseln setzte ein. Die dunkelgrauen Steine am Strand begannen zu glänzen, als seien sie geölt. Von Zeit zu Zeit brach ein Lichtstrahl durch eine Lücke in der Wolkendecke und erzeugte eine Stimmung wie auf einem Barockbild.
Auf halbem Weg entdeckte er die Stelle, an der Karen und er sich geliebt hatten. Er erinnerte sich noch sehr genau. Das Meer hatte leise gerauscht, und der Mond hatte mit seinem Schimmer ihre nackten Körper gestreichelt. Magie – ja, das war es gewesen.
Als er die ersten weißen Häuser des Dorfes erblickte, wandte er sich landeinwärts. In einem Pinienwald, der sich den Berghang hinter dem Dorf hinaufzog, stieß er auf einen Pfad, dem er folgte. Der Weg wurde immer steiler, je höher er kletterte. Dann, nach einem Fußweg von fünfzehn Minuten erreichte er die Bergkuppe, von wo er den ganzen Ort überblicken konnte.
Am Ortsrand lagen ein paar Leichen, an denen Möwen herum pickten, obwohl nicht mehr viel an ihnen dran war. Im Hafenbecken waren zwei Fischkutter abgesoffen. Ihre Masten und Deckaufbauten ragten aus dem trüben Wasser. Auf dem Wasser schillerten Ölschlieren. Allerlei Unrat trieb umher. Kunststoffteile, Kanister, Holzbretter, Baumstämme, Plastiktüten, eine Leiche in einem zerrissenen, roten Kleid, die sich in einem treibenden Baum verfangen hatte. Das Gestank zog bis zu Ralf hinauf. Die meisten Häuser waren stark beschädigt. Dächer waren zerstört, zwei Häuser waren ausgebrannt, eines eingestürzt. Fensterscheiben waren zerbrochen, Türen waren geborsten und standen offen. Eine schlug im Wind hin und her und quietschte jämmerlich. Das einzige Straßencafé war leer und verlassen, das große Schaufenster zertrümmert, die Tische und Stühle schwammen im Hafenbecken. Ralf erinnerte sich lebhaft daran, wie belebt der Platz gegen Abend immer gewesen war. Touristen beim Flanieren, Fischer beim Entladen der Boote, Einheimische beim Einkauf, Möwen beim Raubzug. Aber jetzt schien hier nichts mehr zu leben außer Möwen und ein paar Ratten, die ungeniert über den Platz wuselten.
Da sah er sie auf einmal. Es waren zwei, die in ihrer typischen Gangart wie Schlafwandler hinter einem Haus hervorkamen. Er hatte gehofft, es sei hier anders. Aber es war wie überall. Er hatte genug gesehen und machte sich auf den Rückweg.
Als er zu Karen zurückkam, saß sie noch genau so da wie zu Beginn seiner kleinen Erkundung. Ralf begann, Treibholz am Strand zu sammeln und trug es unterhalb des Wohnmobils zu einem Haufen zusammen. Aus größeren Steinen vom Strand baute er eine niedrigen Wall, hinter dem sie es sich bequem machen konnten und das Feuer vor dem heftigen Wind geschützt sein würde. Als er damit fertig war, ging er zum Wohnmobil hinauf und hob Karen aus ihrem Rollstuhl hoch. Wie leicht sie war. Er bemerkte, wie sie seinen nackten Hals anstarrte, aber er ignorierte es und trug sie zum Feuer.
Einmal noch, nur noch ein einziges Mal möchte ich das Meer sehen, hatte sie gesagt. Und jetzt verstand sie womöglich nicht einmal, wo sie waren, wusste sie vielleicht nicht mehr, wer sie selbst war. Aber wusste Ralf denn schon genau, was sie noch verstand und was nicht?
Als es dunkel wurde, entfachte er das Feuer. Er hatte Glück, dass das Holz trotz Regen gut brannte. Dann entkorkte er die erste Flasche Wein. Er trank direkt aus der Flasche, und er trank gierig. Bald war sie leer und er öffnete die nächste. Er begann zu kichern, weil ihm ein zotiger Witz eingefallen war. Er sang sich selber ein Lied und tanzte ein wenig unbeholfen dazu. Als er die Lust verlor, setzte er sich und ließ Surfpunk aus dem Ghettoblaster ertönen. Er ertappte sich dabei, wie er Karens Brüste lüstern anstarrte. Es war nicht das erste Mal, dass er bei ihrem Anblick einen Steifen bekam. Er liebte und er begehrte sie, das war eben so. Und jedes Mal, wenn er betrunken war, fing er an, zu … träumen. Sie sah beinahe aus wie die geilen Gruft-Girls auf der Altpornseite, die er manchmal besuchte ... besucht hatte, als es noch Internet gab. Vielleicht a tergo? Doch jedes Mal, wenn er in ihre Augen blickte, fröstelte ihn, und jegliches Verlangen erlosch. Ihre weiße Gesichtsfarbe, ihre dunklen Augenringe und ihr blutunterlaufener Blick waren echt, keine Schminke. Er trank weiter, bis er alles vergaß.
Er erwachte mit einem gewaltigen Kater. Sein Kopf dröhnte, und sein Mund fühlte sich an, als wäre eine Kuhherde hindurch marschiert. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und es war deutlich wärmer als am Tag zuvor. Karen saß da, wie er sie abgestellt hatte. Ihre Haut war knallrot. „Verdammt!“
Er cremte sie ein. Besser spät als nie. Mit einer roten Plane aus dem Wohnmobil errichtete er eine Art Sonnenschutzdach.
Sie starrte ihn stumm an. Was mochte in ihrem Kopf vorgehen?
Nach der ganzen Plackerei war er ziemlich erledigt. Vielleicht würde ihn ein Bad wieder fit machen.
Er ging hinunter ans Wasser und zog sich aus. Vorsichtig kühlte er sich mit dem Wasser ab. Es war ziemlich frisch. Dann sprang er hinein. Mit kräftigen Schlägen schwamm er vom Strand weg. Als er weit genug geschwommen war, drehte er sich um und sah zurück. Er sah das Wohnmobil, er sah die Schutzmauer aus dunkelgrauen Steinen und den Sonnenschutz aus roter Plane und er sah Karen als blauen Punkt dasitzen. Und er sah ein Rudel streunende Hunde, das sich vom Dorf aus auf sie zu bewegte.
„Mein Gott …“
Er erschrak so sehr, dass er Wasser verschluckte und einen Hustenanfall bekam. Bilder, Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Er sah Karen, die Hunde, sich selbst. Er schwamm los. Angesichts der Tatsache, dass er seit Jahren nicht mehr schwimmen gewesen war, legte er ein geradezu mörderisches Tempo vor. Doch er war nicht schnell genug. Sie bewegten sich langsam, aber stetig auf Karen zu. Es waren sechs Tiere von der Größe von Dobermännern. Wie sollte er sie abwehren? Seine Waffe war im Wohnmobil versteckt, unter dem Fahrersitz. Ehe er sie dort holen konnte, würden die Hunde Karen zerfleischt haben – und ihn selbst. Er hob den Kopf, um die Tiere zu beobachten. Sie waren stehen geblieben und schienen die Lage zu sondieren. Ein einzelnes Tier schlich sich mit großer Umsicht weiter und witterte in alle Richtungen. Warum fraßen diese Viecher nicht die Leichen, die überall herumlagen? Vielleicht, weil ihnen lebendes Fleisch besser schmeckte? Weil nichts mehr an den Leichen dran war?
Ralf schwamm weiter. Das kalte Wasser gluckste und spritzte bei jedem Schlag, den seine Arme und Beine taten. Die Hälfte des Wegs war geschafft. Er hielt kurz inne und hob den Kopf so weit, dass er den Strand überblicken konnte. Der vorderste Hund war nun höchstens noch zwanzig Meter von Karen entfernt, die noch immer reglos da saß. Er setzte seinen Weg fort, warf seine Arme, seinen ganzen Körper nach vorn in die kühle Flut. Ihm schien der Weg zum Strand endlos zu sein, das Wasser schien ihm zäher Schleim, der ihn festhielt, aufhielt, abhielt. Dann, endlich, nach einer Ewigkeit spürte er unter seinen nackten Füssen glatte, glitschige Steine. Mit letztem Schwung warf er sich auf den Strand. Er sah, wie der Hund sich auf Karen stürzte. Der Köter schlug seine Zähne in den linken Arm der Frau, die er liebte. Er hörte ein Geräusch, als würde ein Stück Stoff zerrissen. Ralf griff sich einen handlichen Stein und stürzte sich nackt wie er war auf das Tier. Es war abgemagert bis auf die Knochen, man konnte jede einzelne Rippe erkennen. Er hieb einmal mit aller Kraft zu, und hörte etwas knacken, doch das Vieh knurrte und ließ Karens Arm nicht los. Da schlug er noch einmal zu. Blut spritzte ihm ins Gesicht und jetzt ließ der Hund von Karen ab, blieb aber neben ihr stehen. Zähnefletschend fixierte ihn das Tier. Er schlug noch einmal zu, und noch einmal mit aller Kraft, worauf es mit einem leisen Winseln zu Boden glitt und zuckend verendete. Dann sah er, wie sehr Karens Arm verletzt war. Er beugte sich zu ihr, wollte ihren Kopf hochheben, als dieser plötzlich vor schnellte, und sie ihre Zähne in seinen Unterarm schlagen wollte. Er zuckte zurück, benommen vom Schwimmen und Kämpfen, und ihre Kiefer schlugen leer aufeinander.
Die anderen Hunde ließen sich leicht verjagen, blieben jedoch in der Nähe. Erst als er mit seiner Walther aus dem Wohnmobil auf einen schoss, zogen sie sich heulend zurück und verschwanden in Richtung Dorf.
Er legte ihr den Knebelgurt wieder an und schleppte den schlaffen Hundekörper zum Wald, wo er ihn in ein Loch warf.
Am Morgen tauchten sie wieder auf. Sie schlichen um ihr Lager wie Aasfresser, die auf das Ende warteten.
Sie spüren, dass wir am Ende sind. Am Ende.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er zu ihr.
Er spürte den Schmerz wie durch einen Schleier. Das konnte doch nicht sein. Karens Zähne in seinem Unterarm? Sein Blut, das sie trank? Sein Fleisch, das sie von seinem Knochen lutschte? Ihr Blick war nicht mehr leer, sondern voller Gier. Er riss sich los von ihr. Sie hatte ihm eine Bisswunde am rechten Unterarm beigebracht, die aber nicht sehr tief war und nicht übermäßig blutete.
Wie hatte das passieren können? Es dauerte einen Moment, bis er einen klaren Gedanken fassen konnte. Natürlich, er selbst hatte ihr den ledernen Knebel abgenommen.Wie in Trance hatte er ihr seinen Arm dargeboten.
Er sackte zu Boden. Jetzt also auch er selbst. In ein paar Stunden würde er sein wie sie.
Er sah, wie das Rudel sie um schlich. Er zog die Knarre, die Walther, die er irgendeinem Toten am Weg abgenommen hatte.
Er trat hinaus und schoss. Die Hunde stoben davon. Sie waren völlig verwildert, und sahen in Menschen nur noch Beute. Aber vor dem Knall der Waffe hatten sie noch immer Respekt. Solange er noch lebte, würde er sie verjagen, doch sobald er tot war, störten sie ihn nicht mehr. Den Toten waren die Aasfresser gleichgültig.
Als die Hunde fort waren, machte er ein Feuer. Dann entkorkte er eine Flasche Wein.
Sobald sich die ersten Symptome zeigten, würde er Karen losbinden. Liefe er noch weg? Vielleicht, aber nicht sehr weit. Danach ...
Zusammen. Für immer. Am Meer.
Er fragte sich, wie es auf der anderen Seite war.