Ausbruch per Anhalter
Für einen guten Freund
Manchmal – nicht sehr oft, aber doch ab und an – wenn uns die Enge und Tristesse unserer 1-Zimmer Wohnungen zu erdrücken schien, schnappten wir uns unsere Schlafsäcke und Isomatten und legten uns auf irgendeine abgelegene Wiese, um uns von den Sternen am Himmel ein Stück Freiheit und von der schwarzen Nacht das ein oder andere Geheimnis zu borgen.
Das Schlafen in freier Natur vermittelte uns auch einen Hauch von Abenteuer. Wenngleich das einzige gefährliche Tier in unserer Umgebung die Wasserratte war (wenn überhaupt) und unsere Wohnungen in zehn Minuten zu Fuß zu erreichen waren. Trotzdem hatten wir das Gefühl irgendwie was Ungewöhnliches zu machen, ein Fenster zu öffnen, was uns für eine Nacht die Möglichkeit gab, aus unserem monotonen, stromlinienförmigen Arbeitsleben auszubrechen.
Auch an jenem Samstag Abend legten Bob und ich uns mitten in die nackte Dunkelheit, buhlten um die Gunst der Sterne. Auf dem Rücken liegend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, tauchten wir in die Nacht ein. Und keiner von uns sprach auch nur ein Wort. Wir verstanden. Mit niemandem konnte man besser schweigen als mit Bob. Das war schon in unserer gemeinsamen Studienzeit so und hatte sich nie geändert.
In dieser Nacht – so wie in jeder anderen Nacht, die wir gemeinsam im Freien verbrachten – stellte Bob mir nach einiger Zeit des Schweigens wieder diese eine Frage, ohne seinen Kopf in meine Richtung zu drehen und damit den Himmel aus den Augen zu verlieren: „Was glaubst du, Yann, wie viele Sterne mag es wohl geben?“
„Keine Ahnung, einige Milliarden bestimmt“, antwortete ich wie immer. Seine Frage und meine Antwort waren zum Ritual in den Jahren unseres gemeinsamen Sterneguckens geworden.
Seine Erwiderung auf meine Antwort fiel jedoch jedes Mal anders aus. Diesmal sagte er: „So viele Sterne und wir irgendwo dazwischen. Es ist schon komisch, wie wichtig wir Menschen uns nehmen, obwohl wir doch so klein sind“. Ich murmelte eine Art von Zustimmung. Dann war es wieder für eine längere Zeit still und wir lauschten dieser Stille genüsslich.
„Jedes Mal, wenn ich hier liege“, durchbrach ich die angenehme Ruhe wieder, „steigt in mir eine unglaubliche Sehnsucht hoch“.
„Nach was?“, fragte Bob.
„Ich weiß nicht. Ich kann es nicht in Worte fassen. Wahrscheinlich kann ich es erst sagen, was es ist, wenn die Sehnsucht in mir gestillt wird“.
Ich überlegte, suchte nach Worten und musste feststellen, dass die Empfindungen des Menschen oft zu komplex sind, als dass sie von dessen Wortschatz angemessen wiedergegeben werden können. Ein Teil der Empfindung bleibt immer auf der Strecke.
„Ich sehne mich nach etwas Wunderschönem“, sagte ich schließlich und ärgerte mich sogleich über diesen Satz. Es klang so albern. Doch Bob lachte nicht. Statt dessen seufzte er laut. Er verstand. „Ich auch“, flüsterte er. „Ich auch“.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Bob schon auf den Beinen. Er hatte seine Sachen schon zusammengepackt.
„Aufstehen, du Schlafmütze. Es wird Zeit ein wenig Sehnsucht abzuarbeiten“.
„Was hast du vor?“, fragte ich noch halb verschlafen.
„Wir fahren nach Amsterdam“.
„Ich muss arbeiten“.
„Nein, du bist krank. Ich hab‘ schon bei deinem Arbeitgeber angerufen“.
„Ich bin krank?“
„Ja, sag‘ ich doch, Yann. Jetzt beeil‘ dich. Es ist noch ein gutes Stück bis zur nächsten Autobahnauffahrt".
Ich schaute Bob irritiert an.
Bob grinste übers ganze Gesicht. „Erwähnte ich schon, dass wir per Anhalter nach Amsterdam fahren?“
„Bob, ich habe übernächste Woche ne Präsentation zu halten. Du kannst doch nicht einfach...“.
„Mann Yann, haben wir uns nicht immer geschworen anders zu sein, wollten wir nicht ein bisschen verrückt bleiben?“
„Ja Bob, das hört sich toll an, aber ich habe einen Job, einen ziemlich guten sogar, in dem ich Verantwortung trage. Da ist kein Platz für irgendwelche pubertären Launen“. Mein Ton wurde aggressiv. Es ärgerte mich einfach, dass Bob glaubte, für mich entscheiden zu müssen, ob mein Leben ein wenig „Verrücktheit“ vertragen könnte.
Bob blieb ganz gelassen, ließ sich von meinem aggressiven Ton nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich sage ja nicht, dass du dein Leben komplett umschmeißen sollst, Yann. Auch ich hänge an den ganzen Annehmlichkeiten, die wir nun haben. Das einzige, was ich meine ist, lass uns mal wieder eine andere Perspektive einnehmen, mal wieder ein bisschen am Leben schnuppern“.
Ich war äußerst skeptisch, aber auch verdammt neugierig. Vielleicht hatte er Recht und ich war einfach nur verdammt bequem geworden.
„Okay, ich bin dabei“, sagte ich schließlich.
Ich fühlte mich absolut fehl am Platze auf dieser beschissenen Autobahnauffahrt. Das letzte Mal, dass ich per Anhalter fuhr, war fast zehn Jahre her gewesen. Ich verdiente jetzt gutes Geld, hatte ein komfortables und schnelles Auto, ich hatte es nicht nötig zu trampen. Aber irgendwie war ich auch gespannt darüber, ob uns überhaupt jemand mitnehmen würde?
Ein Stunde standen wir an der A3 Richtung Köln, sahen den Autos nach, die an uns vorbei fuhren. Keiner hielt, manche schauten belustigt, andere angstvoll und ein paar einfach nur befremdet. Doch gleich hier aufzugeben, das wollte selbst ich nicht. Nein, jetzt wollte ich es wissen.
Dann blieb es plötzlich stehen, das Auto, das uns von Frankfurt nach Köln fahren sollte. Ein alter Toyota Corolla. Es ging los!
Bob und ich quetschten uns nach hinten, wo schon eine junge Frau, von vielleicht 25 saß. Sie hatte langes, lockiges rotes Haar und süße Sommersprossen um die Nase herum.
Ich habe mal irgendwo gehört, dass ein Mann in den ersten zehn Sekunden nach einer Begegnung mit einer Frau entscheidet, ob er sie attraktiv findet oder nicht. Ich fand‘ sie nach zehn Sekunden auf jeden Fall recht hübsch. Vielleicht lag das auch daran, dass sich durch das rote T-Shirt, das sie trug, ihre Brustwarzen abzeichneten. Ich setzte mich neben Chantal. Das war der Name, mit dem sie sich vorstellte.
Die beiden Jungs, die vorne saßen, Kevin und Ole, waren ungefähr im selben Alter. Beide hatten ziemlich lange, etwas verfilzte Haare. Machten aber ansonsten einen sympathischen Eindruck.
„Ihr seht nicht aus wie typische Tramper, wenn ich das sagen darf“, meinte Kevin der Fahrer.
„Wieso?“, fragte ich zurück, obgleich ich die Antwort kannte.
„Na ja, Tramper sind meistens Schüler oder Studenten und ihr seid doch bestimmt schon Ende 20“.
„Da können wir nicht widersprechen“, sagte Bob.
„Und außerdem wirkt ihr sehr bürgerlich“. Kevin fing anzulachen. „Eure aalglatten, gescheitelten Frisuren, dann diese Designer-Pullis...“. Auch Chantal und Ole lachten jetzt. Und Bob und ich versuchten mitzulachen. Doch vor allem ich war noch nicht wirklich locker geworden.
„Danke, dass ihr uns trotzdem mitgenommen habt“, meinte Bob.
„Wir machen uns nichts aus Äußerlichkeiten“, klärte uns Ole auf. „Ihr trampt, also seid ihr cool“.
‚Ja genau‘, dachte ich. ‚Und jetzt hole ich mein Messer raus und schneide dir die Kehle durch. So cool bin ich, du Naivling‘. Ich blickte auf die beiden herab und dafür konnte ich mich selbst nicht ausstehen. Sie hatten uns schließlich einfach so mitgenommen. Vielleicht hätte mir ein bisschen mehr Naivität auch gut getan. Dann hätte ich unseren Trip von Anfang an genießen können.
Plötzlich begann Bob von der rechten Seite mit seiner Hand mir wild durchs Haar zu gehen. Chantal half ihm dabei.
„Was soll das?“, fragte ich.
„Du siehst zu spießig aus“, lachte Bob. Chantal grinste nur. Und als ich ihr tief in die Augen schaute, grinste auch ich. ‚Ja, warum nicht mal für ein paar Tage anders sein, ein anderes Leben leben‘.
Auf unserem Weg nach Köln redeten wir ein wenig über das Reisen und über Musikkonzerte. Die drei waren auf dem Weg zu einem Konzert von Santana. Und während ich gerade dabei war, nach sehr langer Zeit mal wieder an einer Marihuana-Zigarette zu ziehen, versuchte Ole Bob und mich davon zu überzeugen, dass Santana Gott sei oder zumindest so etwas ähnliches. Mir wurde ein wenig schwindlig. Von dem Hasch schätze ich.
Bob, Kevin und Ole begannen sich irgendwann – wir waren bereits an Limburg vorbeigekommen - über Indien zu unterhalten. Währenddessen erzählte mir Chantal ganz leise, wie sie ihre Unschuld verlor. Einfach so. Ich hörte aber nicht richtig hin, sondern konzentrierte mich auf ihre Sommersprossen. Bis sie schließlich mit ihrem Mund so nah an mein Ohr kam, dass sie es mit ihren feuchten Lippen berührte. Von da an begann ich genau zuzuhören. Sie säuselte, dass sie mich süß fände und steckte dabei ihre Hand in meine Hose.
Mir war das sehr unangenehm, also aus rationalen Gründen meine ich jetzt. Der naive Ole drehte jedoch kurz darauf seinen Kopf zu uns nach hinten und sah bzw. sah nicht die Hand von Chantal. Nun wurde mein unangenehmes Gefühl erheblich stärker. Ole fing an zu schreien. Kevin schaute nach hinten und schrie auch. Und dann schrie auch Bob, obwohl er gar nicht auf meine Hose schaute. Er wollte sich lediglich solidarisch mit Kevin und Ole zeigen, wie er später meinte.
An einer Raststätte, kurz vor Bonn, mussten Bob und ich dann aussteigen, denn dummerweise war Chantal die Freundin von Kevin gewesen.
„Reichlich albern, das Ganze“, sagte Bob trocken. Wir hielten Ausschau nach der nächsten Mitfahrgelegenheit. Und ich weiß noch heute genau, dass ich mich in diesem Moment verdammt gut fühlte. Ein wenig schnüffelte ich am Leben. Ich hatte das Gefühl frei zu sein. Denn alles war in diesem Moment so unvorhersehbar, ein Spiel mit dem Zufall. Wir hatten keine Ahnung, wer uns als nächstes mitnehmen, welche Biografie sich mit unserer demnächst überschneiden würde. Wir hatten auch keine Ahnung, ob wir überhaupt nach Amsterdam kämen. Vielleicht würden wir auch – aufgrund eines blöden Zufalls – in Hamburg oder Berlin landen. Wir wussten es nicht. Das Leben erschien uns das Größte zu sein.