Ausblicke
Ich schaue raus. Ich schaue raus und stelle fest, dass heute ein wirklich schöner Tag ist. Die Sonne wirft ihre beschützenden, warmen Strahlen auf die Menschen da unten, die aufgescheucht und mit scheinbarer Gehetztheit über den Platz laufen. Männer mir Schuhen in der Hand, Frauen mit Kindern auf ihren Armen, so erschöpft, dass sie sie fast fallen lassen. "Schade, dass es heute nicht regnet", sage ich mit dem Blick auf die Masse gewandt mit einer gewissen Melancholie.
Es ist 6.00 Uhr morgens und ich schaue raus. Warum sitze ich hier? Warum bin ich nicht da draußen?
Ich sitze eigentlich jeden Morgen hier am Fenster.
Warum? Vielleicht um das hektische Treiben da unten zu begaffen. Vielleicht um mich an deren Anblick zu ergötzen. Vielleicht aber nur, um mich darüber zu freuen.
Ja, ich stehe um 6.00 Uhr morgens auf und erfreue mich an dem Anblick der Menschen tief unter mir. Um 6.30 Uhr kommt die Zeitung und ich lese daraufhin vergnügt -mit dem Kaffeebecher in der Hand- den Politikteil und schaue ab und zu raus und denke daran, dass jene jetzt keinen warmen Kaffee schlürfen können. "Schön", sage ich, "wirklich schön".
Um 6:40 Uhr bin ich mit der Inlandpolitik fertig. Mein Kommentar dazu lautet immer wieder: "Läuft alles wie geschmiert". Ich gucke raus und so langsam ordnet sich alles.
6.45 Uhr. Ich schenke der Auslandpolitik keine große Aufmerksamkeit, ich überfliege die Schlagzeilen und knurre leise mein "verdammte Hurensöhne" vor mich hin.
Das Brot ist heute Morgen sehr köstlich. Mein Weib hat es gestern abend gehorsam für mich gemacht. Diesmal hat sie auch die richtige Menge Butter draufgemacht. Anders würde ich es auch nicht dulden, sie jammert immer, dass die Butter so teuer sei, aber das dulde ich nicht. Ich dulde auch nicht, dass sie die Butter bei Schneiders kauft, aber das habe ich ihr schon ausgeprügelt; das hat sie öfters mal nötig. Sie kommt mit den Gesetzen nicht ganz zu Recht. Aber ich habe ihr eine Sonderaufgabe gegeben. Abends, wenn ich nach Hause komme, ist das Essen selbstverständlich serviert und erwartungsvoll sitzt sie am Tisch. Dann sag ich zu ihr "du kannst anfangen" und sie betet mir dann die neuen Gesetze runter. Anfangs hat sie das nicht allzu ernst genommen, aber ihre von blutunterlaufenen Augen haben sie belehrt. Seit dem hat sie nur einen Fehler gemacht. Ich habe sie dafür nur mit einer Ohrfeige bestraft, ich bin leider zu gnädig geworden. Am meisten freue ich mich auf nachts. Wir verkehren fast jede Nacht miteinander. Dabei sagt sie immer die gleiche Stelle auf: § 5, Absatz 6, sie weiß, was ich mag, und was mich spitz macht. § 5, Absatz 6. Ja, den mag ich. Sind wir fertig, zitiere ich ebenfalls nochmalig die Stelle und wir schlafen dann ein.
6:50 Uhr. Ich lese, was in unserer Hauptstadt los ist. "So ist's Recht", flüstere ich vergnügt vor mich hin. Ein erwartungsvoller Blick nach draußen. Die Letzten rennen.
6.55 Uhr falte ich die Zeitung für meine Frau zusammen. Sie darf sie auch lesen, damit sie endlich kapiert, was im Land los ist, was Gesetz ist. Ich mache mich fertig und ziehe meine Uniform an.
7.00 Uhr. Mein Weib steht auf und ich sag ihr, wann ich zurücksein werde. "Okay, Liebling, ist gut". Dabei öffnet sie die Fenster und das Getöse steigt nach oben. Trillerpfeifen ertönen. Totenstille.
Ich grinse und sage zu ihr "auf Wiedersehen". Ich höre die dominante Stimme des Offiziers. "Juden stillgestanden!". Es erregt mich jedes Mal aufs Neue: "Juden stillgestanden!"
Ich ziehe beim Herausgehen meine Mütze und rufe inbrünstig "Heil Hitler" und mache dazu den Gruß.
Januar 1944
[ 22.04.2002, 13:04: Beitrag editiert von: Zami1986 ]