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Aus Holz geschmiedet

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20.02.2002
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Aus Holz geschmiedet

Das Brüllen der Kanone versetzte Waldemar in einen kurzweiligen Zustand der Trance. Sein Geist stand aufrecht und fest wie eine Eiche, die Krone war sein Kopf, der das Szenario überblicken konnte. Der umgefallene Stuhl, das viele Blut, der regungslose Körper, der auf einer dünnen Schicht von Blut und Hirnflüssigkeit lag. Er wußte, daß auf der Vorderseite nur ein kleines Einschußloch zu sehen war. Wenn er nur könnte, hätte er die Leiche umgedreht, um das riesige Loch, die Überbleibsel des Hauptes, die Fetzen, die durch schleimige Fäden noch am Schädel hafteten, die kleine gummiartige Masse, was nichts anderes als die Verschmelzung von Haut und Haaren war, nicht mehr erblicken zu müssen. Doch in diesem Augenblick war Waldemar ein Baum, und Bäume können sich bekanntlich nicht bewegen.
„Verdammt, was hast du nur gemacht?“ schrie Victor ihn an.
Langsam schrumpfte die riesige Eiche wieder zu einem motivationslosen Menschen, der eine rationale Erklärung für sein Hassen der Rationalität suchte. Waldemar erkannte, daß er alles andere als still und bewegungslos geblieben war. Seine maßgeschneiderten Hosen hatten kein Holz mehr unter sich, in den Fingern lag etwas eklig nasses. Waldemar tat das, was er in Situationen derartiger Brisanz und Skurrilität immer tat: er verweigerte der kleinen, unendlich oft verdrahteten Maschine die Arbeit des Denkens.
Waldemar sah Victor mit einem fragenden Blick an.
„Du hast die gottverdammte Leiche umgedreht, oder denkst du etwa, daß Sascha sich in der Zeit seines schnellen Verreckens von selbst umgedreht hat?“
Er fühlte sich wie ein Schlafwandler, der die gottgegebene Gabe besaß, zu schlafen während er gar nicht schlief. Doch das zählte jetzt nicht. Aus der Brusttasche seines roten Seidenhemdes griff er nach einem weißen Taschentuch, das mit der zusammengefalteten Spitze aus seinem Aufbewahrungsort guckte. Aber er zog es nicht heraus, sondern schaute es gebannt an. Es erinnerte ihn an ein Unglück vor drei Jahren, als in einem Erzbergwerk die Stollen unter dem Gewicht der Arbeiter zusammenbrachen und alle Beschäftigten dadurch begraben wurden. Das Einzige, was darauf hinwies, es könnten Menschen unter dem roten Gestein eingeschlossen sein, war eine schmutzige Hand, die halbabgetrennte Hand, die aus einer schmalen Öffnung schaute.
Es war sein Bergwerk gewesen, seine Arbeiter. Hätte er stabiles Eichen- oder Buchenholz für die Stollen verwendet, anstatt viel günstigeres Brennholz, wäre die Katastrophe nicht passiert. Doch das war Vergangenheit. In der Mitte war das Taschentuch äußerst glamourös mit dem Firmennamen verziert. Genau in der Mitte putzte er sich das Blut von den Fingern.
Nun setzte er sich wieder und musterte Victor, in der Hoffnung, etwas in seinem Gesichtsausdruck zu finden, was er noch nicht kannte: Verunsicherung, Angst. Aber in seiner faltenlosen Visage spiegelte sich nur Routine wider. Für ihn war es bestimmt nicht das erste Glücksspiel, das er bestritt.
Seine ungestüme Art hatte er seiner Jugend zu verdanken, das Millionenvermögen seiner nahen Verwandtschaft zum Zaren und natürlich auch seinen Fabriken, die verdankte er jedoch nur purem Glück und dem grenzenlosen Pech seiner Spielkontrahenten. So langsam erkannte Waldemar, auf was für ein schwachsinniges Unterfangen er sich eingelassen hatte.
„Ich wäre dafür, schnell weiterzumachen, Sascha war nichts weiter als ein Vollidiot. Er wußte doch ganz genau, daß er in den letzten fünf Jahren praktisch vom Pech verfolgt wurde. Kein Wunder, daß er die Kugel schon beim ersten Versuch erwischte. Die Chance stand grade mal bei etwa 18%!“ Victor redete so schnell wie ein erzürnter Prediger, während er mit gespielter Gleichgültigkeit die Kugel in den Revolver positionierte und den Roulettetisch kräftig anstieß.
Waldemar versuchte die Kreisbewegung zu verfolgen, um später zu wissen, wo genau die Kugel hausierte. Er fände es schade, wenn das Geschoß ausgerechnet wegen ihm und seiner Schläfe sein gemütliches dunkles Häuschen verlassen müßte.
„Übrigens hinterläßt Sascha dem Sieger ein Automobil, 700 Morgen Land, vier Mühlen und insgesamt drei luxuriöse Domizile. Verdammt viel, aber wenn du dir mal überlegst, vor seiner Pechsträhne hatte er von allem gut das Doppelte!“
Er wollte ihm antworten, doch er war auf einmal stumm, sein Herz raste wie verrückt, die Hände vibrierten wie die Saiten einer angeschlagenen Violine, schnell aber nicht unbedingt sichtbar. Er versuchte noch einmal, sich seine Situation vor Augen zu halten, die Ausweglosigkeit, seine geheimgehaltene mißliche Finanzlage. Er mußte alles riskieren, um über die Runden zu kommen.
Victor hielt ihm den Griff aus Metall und hellem Eichenholz entgegen. „Willst du oder soll ich anfangen?“ Wieder kein Wort, nur ein krampfartiges Kopfnicken, das das Angebot von sich wies.
Als Victor die Pistole an die Schläfe setzte – ganz wie ein Profi, nicht wie Sascha, der den Lauf gegen die Stirn gedrückt hatte – und abdrückte, war es wieder da, das Brüllen der Waffe. Waldemar verwandelte sich wieder in eine Eiche, hoch über allen Dingen, und beobachtete die Spritzer, die in großer Anzahl gegen die Wand platschten, den Kopf, der nach hinten klappte und sein Inhalt wie bei einem magisch langsamen Wasserfall auf den Boden niederstürzte. Außer ihm gab es niemanden, der das sah. Wenn sonst noch jemand in diesem Raum gewesen wäre, gäbe es zwei Augenzeugen. Einer hätte dann den Tod Victors bestätigt, der andere jedoch die Geisteskrankheit Waldemars.
Das laute Lachen seines Kontrahenten holte ihn zurück in die Wirklichkeit. „Siehst du, hat nur Klicks gemacht. Jetzt bist du dran.“
Vorsichtig nahm er die Pistole an sich, das Eichenholz am Griff fühlte sich sehr warm an, doch als der Lauf seinen Kopf berührte, spürte er die unangenehme Kälte, die sich auf seinem ganzen Körper ausbreitete. Die Armhaare stellten sich auf, wie eine große Menschenmasse, die den Blick gen Himmel an einen Gott betet, leise, konzentriert und elektrisiert. Gott, er glaubte nicht an Gott. Natürlich war er Kirchenangehöriger, aber was blieb ihm auch anderes übrig? Wahrscheinlich würde er schon sehr bald erfahren, ob er mit seiner ketzerischen Haltung richtig lag.
„Du zögerst“, sagte Victor, „du kannst auch aufhören. Dann verlierst du deine Firma, aber du brauchst nicht um dein Leben zu fürchten.“
Doch Waldemar war ein Mann, ein ehrenvoller starker Mann, wie jeder wußte. Ohne sich weitere Gedanken zu machen drückte er ab, allein der Ehre zugute. Die Kanone machte wieder Klicks.
„Nicht schlecht, du mußt sicherlich große Eier haben.“ Unbekümmert griff Victor nach dem Revolver und drückte ab, atmete erleichtert aus und reichte sie Waldemar zurück. Seine Augen leuchteten dabei auf und die Augenlider zuckten kurz und beabsichtigt zusammen.
Waldemar wußte diese Handlung richtig zu deuten. Er war ein Mann, ein sehr angesehener dazu, und wenn man ausgerechnet die Männlichkeit eines angesehenen Mannes in Frage stellte, war der Mann verpflichtet, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.
Er riß Victor die Waffe aus der Hand, hielt sie an die Schläfe und drückte dann ab. Dieses Mal machte es jedoch nicht Klick. Nein, die Waffe brüllte wie ein starker, allmächtiger Löwe.
Das letzte Bild vor seinem geistigen Auge war ein hoher Wald, so groß wie das schwarze Meer, und alles war voller Eichenbäume. Als die Kugel seine Schädeldecke zerschmetterte, sah und hörte er den griechischen Götterschmied Hephaistos, wie er triumphierend brüllte und seine göttliche Erfindung hoch in die Luft hielt. Doch selbst er schaffte es nicht, sie höher zu halten als die Eichenbäume.
Bei seiner Autopsie stellte man fest, daß er nicht nur eine große Ehre besaß, sondern sie aus seltsamen Gründen auch stand. Es war eine wirklich große und robuste Ehre, die sich durch nichts und niemanden unterkriegen ließ. Manche Gerüchte besagten sogar, seine Ehre sei so groß und robust gewesen wie eine Eiche. Nur blöd, daß er nichts mehr von seiner Ehre hatte.

 

Bei seiner Autopsie stellte man fest, daß er nicht nur eine große Ehre besaß

Eine Autopsie macht man doch an ner Leiche, wenn ich mich recht erinnere. D.h., der Begriff hat mit Medizin zu tun.
Nun frage ich mich, wie kann man bei einer Autopsie etwas feststellen was gar nicht sichtbar ist?

 

Ähm, wie sol lich das erklären? Die ganze Geschichte über, geht es um eine primitive Art des sich Beweisens, hat also auch was mit Stolz und Ehre zu tun. Am Ende ist es halt auch eine primitive Art des Mannesstolzes, also nicht wirklich Ehre, sondern, nun ja, etwas geschlechtliches halt :)

 

:lol:

Nach deiner Erklärung ergibt das natürlich einen vollkommen neuen Sinn.
Doch ja, jetzt gefällt mir die Geschichte sogar noch besser als beim ersten mal lesen.

 

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