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Aus den Tunneln

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22.07.2002
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Aus den Tunneln

Er starrt wieder vor sich hin. Seine Augen verlieren sich im roten Flackern des Feuers an der Wand. Er scheint durch sie hindurch zu sehen, irgendwohin, nirgendwohin. An manchen Tagen sitzt er stundenlang so da, keine Bewegung, kein Wort, er scheint in Trance zu fallen, vielleicht denkt er nach, vielleicht auch nicht.
Teddy ist eben anders, früher hat er einmal als „begabtes Kind“ gegolten, hochintelligent, doch wie bei so vielen stellte sich die Familie zwischen ihn und eine Zukunft. Nun ist er hier, in den tiefen, feuchten Tunneln unter der Stadt die niemals schläft.
Langsam bewegt er sich, mit leerem Blick steht er auf, sieht sich um und meint dann: „Ich muss hier raus, kommt jemand mit?“. Fragend sieht er uns der Reihe nach an. Stille erfüllt den Raum. Dann setzt sich Frank ruckartig auf.
Er hat in einer der hinteren, dunklen Ecken gelegen, nun steht er, einen zustimmenden Laut von sich gebend, auf. Endlich, obwohl mit einem skeptischen Ausdruck auf dem Gesicht, nicken auch Monica und Felicia und trotten müde zum Loch in der Wand, dem Einstieg zum 116er Tunnel.
Ich trete als Letzter in das Dunkel des U- Bahntunnels, bleibe einen Augenblick stehen, damit sich meinen Augen an die Dunkelheit gewöhnen können. Ich versuche zu erlauschen, ob sich ein Zug nähert. Doch außer dem leisen Rauschen der Wasserleitungen über uns ist kein Laut zu hören. Vor mir kann ich schemenhaft erkennen, wie sich Jimmy nervös umsieht, in die Dunkelheit starrt. Dann geht er langsam in Richtung Penn-Station davon. Ich kann das Schlurfen der durchgelaufenen Sohlen auf dem Beton des Rettungssteges hören. Langsam wird es dunkler. Ich kann nicht einmal mehr die Hand vor den Augen sehen, trotzdem weiß ich, dass meine Freunde irgendwo da vorne sind, aber nicht nur meine Freunde. Ich spüre Duzende Augenpaare auf mich gerichtet. Unmerklich beschleunigen sich meine Schritte.
Trotz der Dunkelheit, die sich wie eine wabernde Masse zwischen uns drängt, weiß ich , dass sie da sind. Frank, David, Felicia, Monica, Jimmy, Frederik und ja auch Teddy, sie sind meine Freunde, meine Familie.
Bei dem Gedanken an den Tag, an dem ich Frank in der Wohlfahrtsfutterstätte getroffen hatte, muss ich unweigerlich lächeln. Ich hatte ihn angerempelt, doch anstatt sich zu ärgern und einen Streit vom Zaun zu brechen, drehte er sich um, entschuldigte sich und bot mir an, mit ihm zu kommen.
Vielleicht ist es Schicksal, vielleicht war es mir vorbestimmt einer von ihnen zu werden, einer der „Tunnelmenschen“.
Teddy ist der Komischste von uns, er hat nie Drogen genommen, er spricht ständig davon bald einen Studienplatz zu bekommen, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben. Er ist sich sicher, er wird aus den Tunneln herauskommen, vielleicht wird er es sogar schaffen, vielleicht.
Plötzlich ein fernes Rumpeln, ein Lichtschimmer bestätigt meinen Verdacht. Augenblicklich werfe ich mich auf den Boden und warte, ich kann nur vermuten, dass die anderen sich ebenso verhalten, ich kann es nur hoffen.
Schwer atmend starre ich den zwei schnell näherkommenden Lichtpunkten entgegen, das Rumpeln des Zuges schwillt zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Sekunden vergehen. Dann rauscht der Zug an uns vorbei.
Immer noch benommen richte ich mich wieder auf und gehe, ein Rauschen in den Ohren, weiter; jetzt erst merke ich, dass ich schweißgebadet bin und wie Esbenlaub zittere.
Nach einigen Minuten erreichen wir Penn-Station und treten in das Nachmittagslicht hinaus. Wir bleiben stehen, recken unsere Gesichter gen Himmel, schließen die Augen und lassen die Sonne unsere geschundene, vor Schmutz starrende Haut liebkosen. Die Passanten machen große Bögen um uns und sehen uns angewidert an, als wir die 34th Street hinab gehen. Wir albern herum, lachen und machen uns über die Leute auf der Straße lustig. Der Einzige, der leeren Blickes die Straße entlang starrend, neben uns hertrottet, ist Teddy.
Wir gehen die 34th herunter, biegen dann in die 32nd West ab und klettern in einer Seitenstraße über eine Feuerleiter auf das Dach des Hauses, das Frederik entdeckt hat, als er eines Tages halbtot umherirrend die heruntergelassene Feuerleiter hinaufgeklettert ist. Wir haben schon oft abends hier gesessen, den Himmel angeschaut, darauf gewartet, dass er sich rot färbt und uns Crack oder was wir sonst noch bekommen haben, reingezogen. Auch heute pfeifen sich Frank, Jimmy und Frederik wieder ihren Stoff rein, albern herum, versuchen Witze zu erzählen und kreischen dann vor Lachen. Monica und Felicia sitzen ein Stück entfernt, sie reden leise, während Felicia bedächtig Monicas Haare flicht.
Dies ist meine Clique, mehr als eine Familie, mehr als alles, was ich bisher kannte.
Ich wende den Blick und sehe Teddy zu, wie er am Rand des Daches entlangspaziert, über den Hudson blickt und dabei sacht in der Kühle des Abends zittert. Das Rot des Sonnenuntergangs zeichnet die Konturen seines Körpers nach. Teddy steht alleine ganz dicht an der Brustwehr, er stützt sich mit den Händen auf und scheint etwas näher heran holen zu wollen, schiebt seinen Kopf weiter nach vorne. Er sieht einmal kurz nach unten, schaut dann wieder über den Hudson, über Jersey hinweg zum Horizont, vielleicht auch weiter. Zögerlich, fast ängstlich trete ich neben ihn, betrachte ihn von der Seite, beobachte seine Gesichtszüge.
„Was ist los Teddy?“ frage ich mit heiserer Stimme, fast als hätte ich Angst lauter zu reden. „Ich habe endlich verstanden“, sind seine einzigen Worte.
Rechts hinter uns wälzen sich Jimmy, Frederik und Frank mittlerweile herum, sie kreischen und schlagen hysterisch auf den Boden. Ihr Benehmen folgt einem immer gleichen Muster: Lachen, Stille, Blickkontakt, lachen und wieder von vorne. Es ist wie in einem Zirkus. Kurz steigt ein leichter Anflug von Bedauern in mir auf, dass ich nichts geraucht habe, aber das verfliegt schnell wieder.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Teddy zu. Er hat sich mittlerweile auf die aus roten Ziegelsteinen gemauerte Brustwehr gesetzt und baumelt mit seinen Beinen über dem Abgrund. Ich kann die Höhe, in der wir uns befinden, zwar nur erahnen, doch ich weiß, dass es ein ganzes Stück bis zum Boden sein muß.
Meine Gedanken kreisen um unsere Clique, die Familie und Teddy. Wird er es eines Tages schaffen, dem Untergrund zu entfliehen? Wird er sein Studium schaffen? Wenn er so dasitzt, kann ich es ihm nur wünschen.
Ein neuerliches Kreischen von rechts erregt meine Aufmerksamkeit , ich reiße automatisch meinen Kopf herum, auch Felicia, Monica und David, die etwas abseits sitzen, drehen sich um. Wir alle starren halb erschreckt, halb belustigt auf die sich auf dem Boden rollenden Gestalten, alle außer einem.
Ich schaue mich nach Teddy um, doch der ist verschwunden. Da wo er noch vor ein paar Augenblicken gesessen hat, ist niemand mehr. Es durchzuckt mich wie ein Blitz. Teddy! Ich stürze zur Brustwehr, sehe hinunter in den Abgrund. Da liegt er. Tot. Meine Hoffnungen, meine Träume- in tausend Stücke zerbrochen. Jetzt verstehe ich Teddys letzte Worte.

 

Hallo Prodi!

Eine klasse Story, die ich nur weiterempfehlen kann.

Du hast die Geschehnisse sehr wirklichkeitsnah beschrieben, sodass sich der Leser gut in die ernste Situation hineinversetzen kann.
Nach und nach erfährt der Leser mehr über den eigentlichen Inhalt der Geschichte und man wartet gespannt, wie die Sache ausgeht.
Dass die Geschichte dermaßen endet, mag vielleicht etwas zu einfach sein und ist keine Lösung für Probleme, aber ich halte das Ende für sehr angemessen und der Realität entsprechend.

Auch die sprachliche Umsetzung der Kurzgeschichte hat mir gut gefallen, du hast alles mit passender Wortwahl beschrieben, die Charaktere wirken überzeugend und der Text liest sich äußerst flüssig.

Weiter so! :thumbsup:

Viele Grüße,
Michael

 

Hey Michael,
danke für deine positive Kritik. Es freut mich vor allem, dass du den Kern des Endes der Geschichte so treffend herausstreichst. Mag das Ende doch etwas drastisch wirken, so ist es doch gerade diese "Übertreibung", welche die Ausweglosikeit der Situation verdeutlicht.Gruß Prodi

 

Lieber Prodi!

Eine sehr schön zu lesende, einfühlsame Geschichte um die Hoffnungslosigkeit derer, die zu weit unten sind, um es wieder hinauf zu schaffen.
Zwischen Teddys Wünschen, fern am Horizont, und seiner Gegenwart, liegt ein tiefer Abgrund...

Zwei Sachen noch:

"stellte sich die Familie zwischen ihn und eine Zukunft."
- müßte es nicht "seine" Zukunft heißen? Oder "eine Zukunft nach seinen Vorstellungen" oder sowas in der Richtung? "eine Zukunft" ist finde ich zu wenig

"Monicas Haare flechtet"
- müßte eigentlich "flicht" heißen, hört sich auch schöner an

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Prodi,

Du beschreibst Deine Figuren recht einfühlsam und authentisch, aber ein bißchen muss ich Kristin Recht geben. Auch meiner Meinung nach hast Du Teddy zwischendurch zu sehr aus den Augen verloren. Das erträgt die Geschichte nicht. Auch hatte ich bei den Namen Monica etc. gestutzt: ich hatte zunächst geglaubt, die Geschichte würde in Deutschland spielen. Schade.

Details

seine Augen hängen an der vom roten Flackern des Feuers erleuchteten Betonwand.
> Das klingt leider etwas umständlich. Ich bin erst mal über den Satz gestolpert, bevor das - eigentlich schöne - Bild vor meinen Augen entstand.
Die Abfolge "an-der-von" klingt holprig und ich würde versuchen, sie zu umschiffen.

> Eventuell: seine Augen hängen an der Betonwand, die im Feuer rötlich leuchtet.

Stille erfüllt den Raum, lastet schwer.

Entweder es fehlt etwas oder Satz ist zu lang.
>Stille erfüllt den Raum, lastet schwer auf uns.
>Stille erfüllt den Raum. Diese Variante würde mir am besten gefallen.


Nach einigen Minuten erreichen wir Penn-Station und treten in das Nachmittagslicht hinaus.

> Meintest Du "unsere Penn-Station"?
Solche alltagssprachlichen Neuschöpfungen finde ich sehr gut. Auch die Wohlfahrtsfutterstätte. Obwohl ich sie in Futterstätte verkürzen würde.

Es gibt übrigens einen Krimi von der deutschen Schriftstellerin Sabinde Deitmer, der in ähnlicher Umgebung nur in Deutschland spielt. Lesenwert!

LG Petra

 

Hallo,
danke erstmal euch dreien. Freut mich ganz besonders, dass sich doch nochmal jemand mit der Geschichte beschäftigt hat, da es meine allererste richtige Kurzgeschichte war.
Die angesprochenen Formulierungen, habe ich so gut wie alle geändert, ihr hattet recht, klangen etwas holprig.
Die Kritikpunkte den Inhalt und Aufbau betreffend, werde ich mir nochmal ruhig zu Gemüte führen und sie dann noch berücksichtigen.
Ein paar Sachen, lassen sich aber wohl nicht ändern:

"stellte sich die Familie zwischen ihn und eine Zukunft."
"eine Zukunft" habe ich hier mit Absicht gewählt, da keiner Weiß, wie diese Zukunft aussehen wird und ob es überhaupt eine gibt. Die verallgemeinerung, dass es sich hierbei nicht nur um seine Zukunft handelt war mir außerdem wichtig.
Nach einigen Minuten erreichen wir Penn-Station und treten in das Nachmittagslicht hinaus.
Es kann nicht heißen "unsere Penn-Station, da es sich hier wirklich um Penn-Station handelt. Die zweitgrößte Subway-Station in NYC mit vollem Namen Pennsylvania Station.

Die Geschichte spielt außerdem in New York und nicht irgendwo in Deutschland oder Österreich, da es diese "Tunnelmenschen" in diesem Ausmaß hier bei uns nicht gibt.
In New York leben Tausende von Obdachlosen unter der Erde und einige davon kommen fast nie an die Oberfläche. Das Tunnelsystem unter NYC ist so verzweigt, dass niemand weiß wieviele hundert oder tausend Kilometer Tunnel es unter der Strassen überhaupt gibt.
Um die Geschiche also den realistischen Fakten entsprechend zu gestalten, habe ich sie nach NY verlegt.

Ich verstehe bei Deiner Geschichte nicht genau, warum die Kids in den Tunnels herumlaufen, und wie um alles in der Welt sie aus dem New Yorker U-Bahn-System direkt ans Tageslicht kommen ohne irgendwo eine Sperre o.ä. passieren zu müssen.
Sperren gibt es nur beim auf den Bahnsteig gehen, wo man mit Münzen bezahlen muss um überhaupt den Bahnsteig betreten zu könne. Es ist überhaupt kein Problem aus den Tunneln durch, selbt einen so großen wie Penn-Station, einen Bahnhof ans Tageslicht zu gelangen.
Die Geschichte beruht von der Ausgangssituation sogar au einer wahren Begebenheit. Ich habe ein Buch, heißt "Tunnelmenschen", falls es euch interessiert, in dem eine Reporterin zwei Monate lang in die Unterwelt der Tunnel gegangen ist und mit den Obdachlosen gelebt hat, die hat später in dem Buch ihre Erlebnisse beschrieben.
Hoffe das hat einige Sachen erklärt.
Mit den Krtikpunkten die Person Teddy betreffend werde ich mich noch beschäftigen ;)!
Danke nochmal.
Liebe Grüße an alle
Roman

 

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