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Aus den Tunneln
Er starrt wieder vor sich hin. Seine Augen verlieren sich im roten Flackern des Feuers an der Wand. Er scheint durch sie hindurch zu sehen, irgendwohin, nirgendwohin. An manchen Tagen sitzt er stundenlang so da, keine Bewegung, kein Wort, er scheint in Trance zu fallen, vielleicht denkt er nach, vielleicht auch nicht.
Teddy ist eben anders, früher hat er einmal als „begabtes Kind“ gegolten, hochintelligent, doch wie bei so vielen stellte sich die Familie zwischen ihn und eine Zukunft. Nun ist er hier, in den tiefen, feuchten Tunneln unter der Stadt die niemals schläft.
Langsam bewegt er sich, mit leerem Blick steht er auf, sieht sich um und meint dann: „Ich muss hier raus, kommt jemand mit?“. Fragend sieht er uns der Reihe nach an. Stille erfüllt den Raum. Dann setzt sich Frank ruckartig auf.
Er hat in einer der hinteren, dunklen Ecken gelegen, nun steht er, einen zustimmenden Laut von sich gebend, auf. Endlich, obwohl mit einem skeptischen Ausdruck auf dem Gesicht, nicken auch Monica und Felicia und trotten müde zum Loch in der Wand, dem Einstieg zum 116er Tunnel.
Ich trete als Letzter in das Dunkel des U- Bahntunnels, bleibe einen Augenblick stehen, damit sich meinen Augen an die Dunkelheit gewöhnen können. Ich versuche zu erlauschen, ob sich ein Zug nähert. Doch außer dem leisen Rauschen der Wasserleitungen über uns ist kein Laut zu hören. Vor mir kann ich schemenhaft erkennen, wie sich Jimmy nervös umsieht, in die Dunkelheit starrt. Dann geht er langsam in Richtung Penn-Station davon. Ich kann das Schlurfen der durchgelaufenen Sohlen auf dem Beton des Rettungssteges hören. Langsam wird es dunkler. Ich kann nicht einmal mehr die Hand vor den Augen sehen, trotzdem weiß ich, dass meine Freunde irgendwo da vorne sind, aber nicht nur meine Freunde. Ich spüre Duzende Augenpaare auf mich gerichtet. Unmerklich beschleunigen sich meine Schritte.
Trotz der Dunkelheit, die sich wie eine wabernde Masse zwischen uns drängt, weiß ich , dass sie da sind. Frank, David, Felicia, Monica, Jimmy, Frederik und ja auch Teddy, sie sind meine Freunde, meine Familie.
Bei dem Gedanken an den Tag, an dem ich Frank in der Wohlfahrtsfutterstätte getroffen hatte, muss ich unweigerlich lächeln. Ich hatte ihn angerempelt, doch anstatt sich zu ärgern und einen Streit vom Zaun zu brechen, drehte er sich um, entschuldigte sich und bot mir an, mit ihm zu kommen.
Vielleicht ist es Schicksal, vielleicht war es mir vorbestimmt einer von ihnen zu werden, einer der „Tunnelmenschen“.
Teddy ist der Komischste von uns, er hat nie Drogen genommen, er spricht ständig davon bald einen Studienplatz zu bekommen, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben. Er ist sich sicher, er wird aus den Tunneln herauskommen, vielleicht wird er es sogar schaffen, vielleicht.
Plötzlich ein fernes Rumpeln, ein Lichtschimmer bestätigt meinen Verdacht. Augenblicklich werfe ich mich auf den Boden und warte, ich kann nur vermuten, dass die anderen sich ebenso verhalten, ich kann es nur hoffen.
Schwer atmend starre ich den zwei schnell näherkommenden Lichtpunkten entgegen, das Rumpeln des Zuges schwillt zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Sekunden vergehen. Dann rauscht der Zug an uns vorbei.
Immer noch benommen richte ich mich wieder auf und gehe, ein Rauschen in den Ohren, weiter; jetzt erst merke ich, dass ich schweißgebadet bin und wie Esbenlaub zittere.
Nach einigen Minuten erreichen wir Penn-Station und treten in das Nachmittagslicht hinaus. Wir bleiben stehen, recken unsere Gesichter gen Himmel, schließen die Augen und lassen die Sonne unsere geschundene, vor Schmutz starrende Haut liebkosen. Die Passanten machen große Bögen um uns und sehen uns angewidert an, als wir die 34th Street hinab gehen. Wir albern herum, lachen und machen uns über die Leute auf der Straße lustig. Der Einzige, der leeren Blickes die Straße entlang starrend, neben uns hertrottet, ist Teddy.
Wir gehen die 34th herunter, biegen dann in die 32nd West ab und klettern in einer Seitenstraße über eine Feuerleiter auf das Dach des Hauses, das Frederik entdeckt hat, als er eines Tages halbtot umherirrend die heruntergelassene Feuerleiter hinaufgeklettert ist. Wir haben schon oft abends hier gesessen, den Himmel angeschaut, darauf gewartet, dass er sich rot färbt und uns Crack oder was wir sonst noch bekommen haben, reingezogen. Auch heute pfeifen sich Frank, Jimmy und Frederik wieder ihren Stoff rein, albern herum, versuchen Witze zu erzählen und kreischen dann vor Lachen. Monica und Felicia sitzen ein Stück entfernt, sie reden leise, während Felicia bedächtig Monicas Haare flicht.
Dies ist meine Clique, mehr als eine Familie, mehr als alles, was ich bisher kannte.
Ich wende den Blick und sehe Teddy zu, wie er am Rand des Daches entlangspaziert, über den Hudson blickt und dabei sacht in der Kühle des Abends zittert. Das Rot des Sonnenuntergangs zeichnet die Konturen seines Körpers nach. Teddy steht alleine ganz dicht an der Brustwehr, er stützt sich mit den Händen auf und scheint etwas näher heran holen zu wollen, schiebt seinen Kopf weiter nach vorne. Er sieht einmal kurz nach unten, schaut dann wieder über den Hudson, über Jersey hinweg zum Horizont, vielleicht auch weiter. Zögerlich, fast ängstlich trete ich neben ihn, betrachte ihn von der Seite, beobachte seine Gesichtszüge.
„Was ist los Teddy?“ frage ich mit heiserer Stimme, fast als hätte ich Angst lauter zu reden. „Ich habe endlich verstanden“, sind seine einzigen Worte.
Rechts hinter uns wälzen sich Jimmy, Frederik und Frank mittlerweile herum, sie kreischen und schlagen hysterisch auf den Boden. Ihr Benehmen folgt einem immer gleichen Muster: Lachen, Stille, Blickkontakt, lachen und wieder von vorne. Es ist wie in einem Zirkus. Kurz steigt ein leichter Anflug von Bedauern in mir auf, dass ich nichts geraucht habe, aber das verfliegt schnell wieder.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Teddy zu. Er hat sich mittlerweile auf die aus roten Ziegelsteinen gemauerte Brustwehr gesetzt und baumelt mit seinen Beinen über dem Abgrund. Ich kann die Höhe, in der wir uns befinden, zwar nur erahnen, doch ich weiß, dass es ein ganzes Stück bis zum Boden sein muß.
Meine Gedanken kreisen um unsere Clique, die Familie und Teddy. Wird er es eines Tages schaffen, dem Untergrund zu entfliehen? Wird er sein Studium schaffen? Wenn er so dasitzt, kann ich es ihm nur wünschen.
Ein neuerliches Kreischen von rechts erregt meine Aufmerksamkeit , ich reiße automatisch meinen Kopf herum, auch Felicia, Monica und David, die etwas abseits sitzen, drehen sich um. Wir alle starren halb erschreckt, halb belustigt auf die sich auf dem Boden rollenden Gestalten, alle außer einem.
Ich schaue mich nach Teddy um, doch der ist verschwunden. Da wo er noch vor ein paar Augenblicken gesessen hat, ist niemand mehr. Es durchzuckt mich wie ein Blitz. Teddy! Ich stürze zur Brustwehr, sehe hinunter in den Abgrund. Da liegt er. Tot. Meine Hoffnungen, meine Träume- in tausend Stücke zerbrochen. Jetzt verstehe ich Teddys letzte Worte.