Aus den Augen, aus dem Sinn?
"Les Collinettes". Das Schild war schon von weitem gut sichtbar, wenn nicht gerade ein mir entgegen kommender LKW es beim Vorbeifahren bedeckte. Die Rue de France war mal wieder ziemlich verstopft, aber mit meinem Moped fuhr ich einfach an den stehenden Autos vorbei, reihte mich in die wartende Schlange wieder ein, wenn ein zu großer Wagen oder gar ein LKW entgegen kam. Auf diese Weise von Autopulk zu Autopulk sprintend hatte ich gelernt, dass ich zehnmal schneller als jedes andere Gefährt durch das überfüllte Nizza kam.
Ich bog links ab. Die kleine Straße, die mich zu den Collinettes führen würde, war leer. Ein befreiendes Gefühl ließ mich den Gasgriff voll aufdrehen und der Zweitakter schob mich ungestüm den ersten Hügel hinauf.
Die Weihnachtsferien waren gerade vorüber und am Vormittag war ich in die Universitätsstadt zurückgekehrt. Jetzt freute ich mich auf das Wiedersehen mit Marithé, die ich seit 2 Wochen nicht mehr gesehen hatte. Das silbergraue Band der Straße schlängelte sich von Kurve zu Kurve immer höher in das Hinterland von Nizza. Les Collinettes - die Hügelchen - ein netter Name für sich ineinander und aufeinander türmenden grünen Hügel, die immer wieder von schroffen Felsengebilden durchbrochen wurden. Die kleine Straße suchte sich den bequemsten Weg zwischen ihnen und drehte dabei seltsam anmutende Pirouetten, die von Kehre zu Kehre immer neue Ausblicke auf die unten am Meer liegende Stadt gewährten. Es machte mir Spaß, die steilen Wendekurven mit Schwung möglichst weit innen zu nehmen: Das Moped katapultierte mich in die Höhe wie ein bockendes Pferd und würzte so die langsame Bergfahrt mit einem Schuss Abenteuer. Für den luftgekühlten Motor war dies allerdings ein Höllenritt. Im Sommer, wenn eine schwüle Dunstglocke über dem Land lag, musste ich damit rechnen, dass er eins-zweimal wegen Überhitzung und verrußten Zündkerzen auf dieser Strecke stehen blieb. Aber jetzt, bei angenehmer Nachmittagssonne, reichte das bisschen Fahrwind aus, um ihn soweit abzukühlen, dass er mich mit einem angestrengten rauen Ton den Berg hinaufschob.
Nach etwa einer viertel Stunde Fahrt kam die Mensa in Sicht. Sie sah aus wie eine überdimensionierte Münze, die ein Riese waagerecht in den Fels geworfen hatte. Die überdachte Terrasse hing über den Abgrund und bergseits lag die Küchenetage wie ein Block auf der Speisesaalscheibe, als benötigte sie ein Gegengewicht, um nicht den Anhang hinunter zu stürzen. Der Anblick erfreute mich, war ich doch nun nicht mehr weit vom Studentenwohnheim, im dem Marithé wohnte. Es war aber erst im letzten Moment von der Straße aus auszumachen. Nach einigen weiteren Kurven, die mich immer höher ins Gebirge brachten, tauchte rechter Hand eine Straßenverbreiterung auf, dessen Ende sich im Nirgendwo verlor. Langsam ging ich vom Gas, spritzte über Kies und Sand: Die Abfahrt zum Wohnheim war da. Ich beschleunigte wieder und der Motor heulte vor Freude auf, es ging endlich bergab und nun konnte er durchatmen, den Russ aus den Kolben blasen und den Fahrtwind genießen, wie ein kleiner Junge das Eis im Sommersonnenschein! Der Wind blies mir ins Gesicht und ich fühlte mich wie im freien Fall, sanft getragen von der abschüssigen Straße. Das Moped beschleunigte immer mehr, der Motor sang in hohen Tönen als eine scharfe Rechtskurve bedrohlich näher kam. Furcht steigerte sich zu Angst, die Motorbremse reichte nicht mehr aus, stetig erhöhte ich den Druck auf den Griff der Hinterradbremse, nun nahm ich die Vorderradbremse hinzu, immer in der Angst eines oder gar beide Räder würden blockieren und ich dann schliddernd über den Kurvenrand hinaus, ab in die Büsche und den Abgrund, der sich dahinter auftat. Das Moped verringerte seine Geschwindigkeit soweit, dass ich gerade noch die Kurve bekam. Puh! Das war knapp! In meinem Bauch flatterten meine Eingeweiden um die Wette und dann schoss ein Hochgefühl durch mich durch. War ich nicht stark? Stolz über meine Fahrkünste fuhr ich weiter bis zum Parkplatz des Wohnheims, der Bergseits auf der Höhe des 3. Stocks lag.
Ich stellte das Moped ab und ging mit durch die Vorfreude beschleunigtem Schritt ins Gebäude. Der Flur war lang, gerade und düster, die Zimmerchen lagen rechts und links von ihm in den oberen Etagen, in den unteren nur seewärts, weswegen diese auch größer und teuerer waren. Dort unten wohnten vorwiegend Afrikanerinnen, die von ihren reichen und einflussreichen Eltern und vom Bafög aus Paris lebten. Marithé, eine Tochter von armen korsischen Bauern, musste sich, wie ich auch, allein von der staatlichen Unterstützung ernähren.
Während ich in die Düsternis des Ganges eintauchte, verlangsamten sich meine Schritte; irgendwie wurde mir komisch und als ich an ihrer Türe klopfte, hämmerte mein Herz in schlimmer Erwartung wie ein Pressluftkolben einer großen Eisenschmiede. Mein Kopf steuerte vergebens dagegen an und als sie die Tür öffnete, sagte mir ihr Gesicht nichts Gutes. "Bonjour..." Küsschen rechts, Küsschen links und sofort war sie wieder auf Distanz. "Na, was ist los?" fragte ich, ein Kloß im Hals. "Na ja, komm erst mal rein und setz dich. Ich habe dir was zu erzählen."
In Bruchteilen von Sekunden schossen mir allerlei Bilderfetzen durch mein panisches Hirn, alles mischte sich zu einem Brei, der sich wie eine Steinkappe über meine Gedanken legte und sie lähmte. Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl im Raum, weil Marité sich auf ihr Bett niedergelassen hatte und ich - aus furcht vor was eigentlich? - mich nicht traute neben ihr Platz zu nehmen.
Sie sah mich an. Ihr Blick hatte so eine seltsame Mischung aus Wut und Trauer, sie hielt ihren Kopf hoch, als wollte sie mit dem ihr eigenem Stolz der Prüfung standhalten, die da auf sie zukommen würde... und dann warf sie sich ins kalte Wasser: Sie erzählte schnell, abgehackt, als wolle sie alles so rasch wie möglich hinter sich bringen. Dabei war sie mal wütend, mal trotzig, mal traurig. Die Tränen, die ihr dabei über ihre Wangen liefen, konnten aus all diesen Gründen fließen, aber sicher nicht aus Reue oder schlechtem Gewissen. Während ihre Worte mir um die Ohren flogen wie glühendes Schrapnell, brannten sich einige in mein Hirn und ließen Bilder auftauchen, die mich erschreckten, ängstigten, demütigten und dabei eine Lava von ungeheuerlichen Wut in mir hoch kochen ließ:
Sie war während der Weihnachtsferien mit ihrem Cousin ins Bett gegangen!
Ich wurde toll vor verletztem Stolz! Meine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Ein unglaubliches Feuer schoss über meine Schultern, meine oberarme, meine unterarme in meine Handgelenke, wirbelte über Handrücken, Finger, Fingerkuppen in meine Nägeln, die, tief eingegraben im Handballen, es wieder zurück in die Arme fließen ließen. Ich spürte einen tödlichen Hass in mir und musste mich zusammenreißen, sie nicht auseinander zu reißen!
Sie erkannte auf einmal das Drama, dass sie bei mir angerichtet hatte und war zutiefst erschrocken über die Heftigkeit meiner Reaktion. Vor allem schien sie plötzlich Angst zu haben, dass ich die Kontrolle über meine Gefühle verlieren könnte und sie körperlich angreifen würde. Weshalb sie schnell und ausführlich begann zu beteuern, dass sie nicht mit ihm geschlafen habe - schließlich sei er ihr Cousin, das wäre nicht nur strafbar, sondern auch gefährlich, in Hinblick auf ein etwaig daraus entstehendes Kind... und so weiter und so fort... Und dass das nie wieder vorkommen würde... dass es aus eine Weinlaune passiert sei... dass ihr Cousin schon lange ihr nachgestellt habe... dass sie so viel Sehnsucht nach mir gehabt habe... ich aber nicht verfügbar... und der Cousin versprochen habe, nicht mehr von ihr zu verlange, als sie bereit sei zu geben... und übrigens...
"Hast du denn das Gleiche nicht mir letzten Sommer angetan?"
Dieser wütender Satz, mitten ins Wortgefecht eingeworfen, ließ mein Wutballon platzen wie eine Seifenblase. Die Luft war schlagartig raus! Es blieb nur noch der Schmerz. Nie wieder "aus den Augen aus dem Sinn!"