- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Aus dem Tag eines Sensationisten
Sensation: (Substantiv; aus franz: sensation ‚Sinneseindruck‘; aus lat: sensus ‚Gefühl‘)
Nach seinem puristischen Frühstück am ersten September, ging er in den Laden am Ende der Straße. Dort angekommen las er auch, wie er es jeden Morgen zu tun pflegte, die Zeitung. Besonders auf den Lokalteil legte er besonderen Wert. Aus ihm entnahm er, dass es an jenem Tag einen Brand in der Turmstraße und einen Einbruch im Künstlerviertel gegeben hatte. Das war an und für sich kein schlechter Tagesschnitt und hätte ihm wohl auch einigermaßen gereicht, vor allem, wenn man das gerade erst überwundene Sommerloch betrachtete, dessen Spätfolgen immer noch sein Gemüt belasteten. Doch gründlich wie er war, nahm er auch die Mühen auf sich, sein Netzwerk Gleichgesinnter zu überprüfen. Hier fand man im Vergleich selten etwas Neues, wenn es aber etwas gab, war es zumeist eine große Sache.
Und so auch an diesem Tag. Er erfuhr von Gerüchten über nächtliche Schüsse in der Residenz des Ehepaares G. unten am Fluss. Das könnte ein wahrhaftiger Glücksfall sein. Aber es stellte ihn auch vor die schwierige Entscheidung, zwischen einem sicheren Brand oder Einbruch und ein paar unsicheren Gerüchten zu wählen.
Er gelangte aber zu dem Schluss, dass die letzte Woche gut genug gewesen war, dass er heute auch eine falsche Entscheidung relativ gut verkraften werde können. Folglich entschloss er sich für das Risiko und nahm den Weg bis zum Haus der G.s auf sich. Es stand genau dort, wo sich der Fluss langsam brackt und sich verbreitert, um dann schließlich weiter abwärts in die See zu münden. Es war ein ehrbares altes Patrizierhaus und hatte durchaus seine goldenen Zeiten erlebt. Niemals hätte man sich einst träumen lassen, dass es einmal Schauplatz eines solchen Gewaltverbrechens werden könne. Allgemein war diese noble Gegend äußerst selten für ihn interessant gewesen. Einmal, als er gerade anfing, hatte ein hoher Beamter unweit von dort einen Herzinfarkt erlitten, doch er zog einen motorisierten Unfall auf der großen Kreuzung am Siegesbogen vor. Das hatte er manchmal bereut, doch es hat keinen Sinn die Vergangenheit zu bereuen. Und wie sich jetzt zeigte, waren auch die besseren Häuser nicht mehr sicher. Die Welt verfiel eben immer mehr. Zum großen Glück des Sensationisten.
Solche Vorkommnisse waren auch in den guten Häusern mit Sicherheit keine Neuheit, doch in den alten Zeiten war es eben noch leichter gewesen, seine Probleme für sich zu behalten.
Er kam erst später an, als er es sich erhofft hatte und fand das Geschehen zudem mit gemischten Gefühlen vor. Auf der einen Seite war er froh feststellen zu können, dass tatsächlich etwas Vorgefallen war. Doch die Szene erweckte auch den Eindruck, dass der Großteil schon gelaufen wäre.
Die Beamten hatten das Haus weiträumig abgesperrt und die sich eingefundene, beträchtliche Ansammlung der gemeinen Schaulustigen, die er so verachtete, war bereits im Begriff sich aufzulösen. Das: „Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“, das er so gut kannte, wurde mantraartig wiederholt.
An der Straßenecke sah er einen alten, gleichgesinnten Bekannten. Diese waren sowohl oftmals behilflich, wie er auch an jenem Tage durch das Netzwerk hatte feststellen können, als auch zudem harte Konkurrenten. Nach dem üblichen Schlagabtausch, brachte er in Erfahrung, dass er zwar verpasst hatte, wie der Ehemann bereits in aller Früh abgeführt worden war, aber auch, dass sich seine junge und tote Frau noch unweigerlich innen befinden musste. Die Beamten warteten wohl aus Respekt vor der Toten und mehr noch vor ihrer nicht uneinflussreichen Familie, damit sie abzutransportieren, bis sie vor den gaffenden Augen der Öffentlichkeit so gut es ging geschützt war. Sie warteten eine ungewöhnlich lange Zeit, was wohl vordergründig der Prominenz des Viertels zu verdanken war. Und dann, kurz nach dem die Sonne untergegangen war, kam ihnen auch noch der Regen zu gute. Die wenigen Gemeinen die noch ausgehaart hatten, knickten allesamt beim ersten Regentropfen ein und das Feld lichtete sich merklich. Als der Regen sich nach drei weiteren Stunden zu einem Sturm ausgeweitet hatte, gab auch sein Bekannter, gegenüber dem er bis dahin immer eine Art professionellen Respekt empfunden hatte, auf.
Die Beamten warteten nun nicht mehr dem einen Übriggebliebenen wegen, sondern nur, weil sie nicht auch so wie er bis auf die Haut durchnässt werden wollten.
Doch bei ihm wuchs nur der Wille zum Erfolg. Mit jeder Minute wurde der Gedanke daran, eine weitere verschwendet zu haben, unerträglicher. Zudem sollten auch die anderen, bis dahin ausgehaltenen Unannehmlichkeiten nicht umsonst gewesen sein, von der erwarteten Genugtuung ganz zu schweigen.
Als nach nicht langer Zeit später, immer deutlicher wurde, dass das Wetter nur schlechter werden würde, beschlossen die Beamten die Sache abzuschließen. Sie verpackten den Leichnam zärtlich und sorgfältig und begann anschließend ihn zügig aber nicht hektisch den langen Weg von der Tür bis zum Wagen zu rollen. Auf halber Höhe warf aber eine mittelstarke Böe einen Zipfel des Leichentuches hoch und offenbarte einen guten, wenn auch kurzen Blick auf den großen, toten Zeh der toten Frau.
Damit hatte sich der Tag, nein die Woche gelohnt. Der Geschmack, dass er die richtige Entscheidung getroffen, den langen Weg überwunden, dem Wetter getrotzt und den Beamten widerstanden hatte, war süß. Doch der eine Blick auf den einen Zeh war noch viel süßer.